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Über dieses Buch
"Die Fahrt zum Leuchtturm" ist ein Roman von Virginia Woolf. Die mehrstimmige Geschichte handelt von der Ramsay-Familie und ihren Besuchen auf der schottischen Isle of Skye zwischen 1910 und 1920.Der Roman gehört zur modernen Literatur und wurde 2015 von mehreren internationalen Literaturkritikern zu einem der bedeutendsten Werke der britischen Welt gewählt.Null Papier Verlag
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1
»Morgen, ja, natürlich nur, wenn schönes Wetter ist«, sagte Mrs. Ramsay. »Aber dann musst du schon mit der Lerche aus dem Nest«, fügte sie hinzu.
Für ihren Sohn waren diese Worte eine außerordentliche Freude; als stünde damit unumstößlich fest, dass die Unternehmung stattfinden würde und das Wunder, nach dem er sich, seit Jahren und Jahren, so schien es ihm, gesehnt hatte, nach der Dunkelheit einer Nacht und der Segelfahrt eines Tages nahe wäre. Und da er schon jetzt, mit seinen sechs Jahren, zur großen Sippe derer gehörte, die ein Gefühl nicht vom anderen scheiden kann, sondern die nächsten Dinge des täglichen Lebens von den Freuden und Kümmernissen künftiger Aussichten überschatten lassen muss, da für solche Leute schon in frühsten Kinderjahren jede Drehung im Räderwerk der Wahrnehmung die Kraft besitzt, den Augenblick, den sie verdüsternd oder lichtstrahlend trifft, ganz und gar zu durchdringen und zur festen Form werden zu lassen, so füllte auch James Ramsay, der auf dem Fußboden saß und die Bilder aus der Preisliste der Army and Navy Stores ausschnitt, das Bild eines Kühlschrankes bei den Worten seiner Mutter mit himmlischer Seligkeit. Es war von einem Strahlenkranz aus Freude umgeben. Der Schubkarren, die Rasenmähmaschine, das Rauschen der Pappeln, gilbende Blätter vorm Regen, Krähengekrächz, das Kratzen von Besen, Kleidergeraschel – all das war so farbig und deutlich in seinen Gedanken, dass er schon sein eigenes Wörterbuch, seine Geheimsprache hatte, obwohl er äußerlich ein Bild starrer und unnachgiebiger Strenge war mit seiner hohen Stirn und seinen leidenschaftlichen blauen Augen, makellos ehrlich und rein, leicht die Stirn runzelnd beim Anblick menschlicher Unzulänglichkeit, sodass seine Mutter, als sie ihn säuberlich die Schere rings um den Kühlschrank führen sah, ihn sich vorstellte, wie er ganz in Rot und Hermelin zu Gericht saß oder in einem entscheidungsschweren Augenblick der vaterländischen Geschicke eine ernste und bedeutsame Unternehmung leitete.
»Es wird aber«, sagte sein Vater und blieb am Wohnzimmerfenster stehen, »morgen kein schönes Wetter sein.«
Wäre eine Axt zur Hand gewesen, ein Feuerhaken oder sonst irgendeine Waffe, die ein Loch in seines Vaters Brust hätte reißen und ihn töten können, jetzt auf der Stelle, James hätte danach gegriffen. So groß war das Übermaß der Erregung, die Mr. Ramsay durch seine bloße Gegenwart in seinen Kindern wachrief, wenn er so wie jetzt, schmal wie ein Messer und scharf wie eines Messers Klinge, dastand und spöttisch grinste, nicht nur weil es ihm Spaß machte, in seinem Sohn alle Träume zu zerstören und seine Frau lächerlich zu machen, die zehntausendmal besser war als er (dachte James), sondern auch aus geheimer Eitelkeit auf die Treffsicherheit seines Urteils. Was er sagte, war richtig. Es war immer richtig. Er war keiner Unwahrheit fähig, deutelte niemals an Tatsachen herum, änderte niemals ein unangenehmes Wort zur Freude oder Bequemlichkeit irgendeines sterblichen Wesens, am wenigsten seiner eigenen Kinder, die, da sie seinen Lenden entsprungen waren, von Kindheit auf begreifen sollten, dass das Leben schwierig ist, Tatsachen nicht mit sich handeln lassen und die Fahrt zu jenem sagenhaften Land, wo unsere hellsten Hoffnungen erlöschen und unsere gebrechlichen Schiffe im Finstern scheitern (hier reckte sich Mr. Ramsay wohl in den Schultern auf und sah aus seinen zusammengekniffenen kleinen blauen Augen auf den Horizont), so beschaffen ist, dass man vor allem anderen Mut, Wahrhaftigkeit und die Kraft zum Beharren braucht.
»Vielleicht wird es aber doch schön – ich möchte glauben, dass es schön wird«, sagte Mrs. Ramsay und drehte ungeduldig den rötlich braunen Strumpf, an dem sie strickte. Wenn sie ihn heute Abend noch fertig bekam und sie morgen schließlich doch zum Leuchtturm fuhren, so sollte ihn der Leuchtturmwärter für seinen kleinen Jungen haben, der, wie zu befürchten war, an Hüfttuberkulose litt; dazu einen Stoß alter Zeitschriften, etwas Tabak und was sie sonst noch finden konnte an Dingen, die niemand brauchte, sondern die bloß im Zimmer herumlagen, um sie den armen Kerlen zu schenken, die sich doch zu Tode langweilen müssten, wenn sie den ganzen Tag so dasitzen und nichts zu tun haben, als die Lampe blankzureiben, den Docht zu putzen und ihr winziges Gartenstückchen zu harken; etwas also, um sie aufzumuntern. Denn wie muss einem zumute sein, wenn man einen ganzen Monat hintereinander und vielleicht noch länger bei stürmischem Wetter auf einem Felsen eingesperrt sitzt, der nicht größer ist als ein Tennisplatz? so fragte Mrs. Ramsay wohl; wenn man weder Briefe noch Zeitungen hat und keine Menschenseele erblickt; sofern man verheiratet ist, seine Frau nicht zu sehen bekommt und nicht weiß, wie es den Kindern geht – ob sie womöglich krank sind, ob sie gefallen sind und sich Arme oder Beine gebrochen haben; immer nur zu sehen, wie sich die gleichen traurigen Wellen brechen, Woche auf Woche, und dann, wie ein furchtbarer Sturm aufkommt und die Fenster mit Gischtspritzern bedeckt sind und Vögel gegen die Lampe geschleudert werden und der ganze Turm schwankt, sodass man die Nase nicht vor die Tür stecken kann, aus Angst, ins Meer gefegt zu werden? Was würdet ihr sagen, wenn es euch so ginge? fragte sie und meinte damit besonders ihre Töchter. Und: Seht ihr, so fügte sie einigermaßen zusammenhanglos hinzu, man muss sich Trost suchen, wo man ihn eben findet.
»Westwind, haargenau«, sagte der Atheist Tansley und hielt seine hageren Finger gespreizt hoch, sodass der Wind durch die Hand blies; denn er nahm an Mr. Ramsays Abendspaziergang teil, auf und ab, auf und ab über die Terrasse. Das hieß nun, dass der Wind aus einer Richtung kam, die für die Landung am Leuchtturm denkbar ungünstig war. Er sagte, das gab Mrs. Ramsay zu, unangenehme Dinge; es war gehässig von ihm, die Bemerkung einzustreuen und James dadurch noch tiefer zu enttäuschen; dennoch litt sie nicht, dass man über ihn lachte. Den ›Atheisten‹ nannten sie ihn; den ›kleinen Atheisten‹. Rose machte sich über ihn lustig; Prue machte sich über ihn lustig; Andrew, Jasper, Roger machten sich über ihn lustig; sogar der alte Badger, der vorn keinen Zahn mehr hatte, schnappte nach ihm, weil er (wie Nancy es ausdrückte) der hundertundzehnte junge Mann war, der sie alle hinauf zu den Hebriden scheuchte; wo es doch so viel netter war, allein zu sein.
»Unsinn«, sagte Mrs. Ramsay mit großer Strenge. Abgesehen von der Gewohnheit zu übertreiben, die die Kinder von ihr hatten, und dem stillschweigenden (berechtigten) Vorwurf, dass sie zu viele Leute einlud und etliche davon in der Stadt unterbringen musste, konnte sie Unhöflichkeit gegen ihre Gäste nicht vertragen, besonders gegen junge Leute nicht, die arm wie die Kirchenmäuse waren, ›ungemein fähig‹, wie ihr Gatte sagte, ihn von Herzen bewunderten und in den Ferien herkamen. Es war schon so, sie machte das gesamte andere Geschlecht zu ihren Schützlingen; aus Gründen, die sie selbst nicht erklären konnte, weil sie ritterlich waren und tapfer, weil sie Verträge aushandelten, Indien beherrschten, das Finanzwesen lenkten; schließlich auch, weil sie ihr gegenüber eine Haltung einnahmen, die jede Frau empfinden und angenehm empfinden musste, irgendwie vertrauensvoll, kindlich, ehrerbietig, was eine alte Frau von einem jungen Manne hinnehmen darf, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben, und der Himmel strafe das Mädchen – gebe Gott, dass es keine von ihren Töchtern war! –, das nicht den Wert dieser Dinge und alles, was dazugehörte, bis ins innerste Mark spürte.
Sie wandte sich mit Strenge gegen Nancy. Er habe sie nicht gescheucht, sagte sie, er sei eingeladen worden.
Es musste ein Ausweg aus alledem gefunden werden. Vielleicht, so sagte sie sich seufzend, gab es einen einfacheren Weg, einen weniger beschwerlichen Weg. Wenn sie in den Spiegel blickte und sah, wie grau ihr Haar, wie eingesunken ihre Wangen waren, mit fünfzig, so sagte sie sich: Vielleicht hätte sie mit den Dingen besser fertig werden müssen – mit ihrem Mann, mit dem Geld, mit seinen Büchern. Aber was sie selbst betraf, so würde sie nie auch nur für eine einzige Sekunde ihre Entscheidung bereuen, Schwierigkeiten ausweichen oder über Pflichten leichtfertig hinweggehen. Sie war nun furchtgebietend anzusehen, und als sie so streng über Charles Tansley gesprochen hatte, wagten ihre Töchter – Prue, Nancy, Rose – nur stumm von ihren Tellern aufzublicken und mit den ketzerischen Vorstellungen zu tändeln, die sie sich zum Spiel erdacht hatten: von einem Leben, das anders war als ihr jetziges; in Paris etwa; ein wilderes Leben; ohne dass man immer Rücksicht zu nehmen brauchte, bald auf den, bald auf jenen; denn in ihrer aller Gedanken war ein stummer Zweifel an Ehrerbietung und Ritterlichkeit, an der Bank von England und dem indischen Kaiserreich, an beringten Fingern und Spitze; wenn auch alledem für sie etwas vom wesenhaften Duft der Schönheit anhaftete, wie er sich in ihren Mädchenherzen mit dem Eindruck von Männlichkeit verband; sodass sie, wenn sie unter den Augen ihrer Mutter bei Tische saßen, voll Ehrfurcht auf diese ungemeine Strenge, diese ganz besondere Höflichkeit blickten – so hebt eine Königin den schmutzigen Fuß eines Bettlers aus dem Kot, um ihn zu waschen –, indessen ihre Mutter sie nachdrücklich schalt wegen dieses verwünschten Atheisten, der sie hierher gejagt hatte – oder, um es genau auszudrücken: der zu einem gemeinsamen Aufenthalt mit ihnen auf der Insel Skye eingeladen worden war.
»Es ist morgen nicht möglich, am Leuchtturm anzulegen«, sagte Charles Tansley, der mit Mr. Ramsay am Fenster stand, und schlug die Hände zusammen. Jetzt hatte er aber genug davon geredet. Sie wünschte, die beiden möchten sie und James in Frieden lassen und sich ihrem Gespräch widmen. Sie sah ihn an. Er war ein wahres Muster an Kläglichkeit, fanden die Kinder, nur Buckel und Löcher. Er konnte nicht Kricket spielen; er tapste; er watschelte. Er sei eine gallige Bestie, sagte Andrew. Sie wussten genau, was er am liebsten tat – immer nur auf und ab, auf und ab gehen mit Mr. Ramsay und sagen, wer diesen und wer jenen Preis gewonnen hätte, wer ein ›erstrangiger Könner‹ in lateinischen Versen wäre, wen er für ›einen Blender, aber kernfaul‹ hielte, wer ›zweifellos der fähigste Kopf im Balliol College‹ wäre, wer sein Licht zeitweilig in Bristol oder Bedford unter den Scheffel stellen müsste – doch würde man bestimmt später von ihm hören, wenn seine Prolegomena zu irgendeinem Sondergebiet der Mathematik oder der Philosophie (Mr. Tansley hatte die ersten Seiten bei sich und konnte sie Mr. Ramsay zum Beweise vorlegen, wenn er sie sehen wollte) das Licht des Tages erblickten. Dies waren die Dinge, über die sie redeten.
Manchmal musste auch sie wider Willen lachen. Neulich hatte sie einmal von ›bergehohen Wellen‹ gesprochen. Ja, sagte Charles Tansley, die See sei ein bisschen grob. »Sind Sie nicht auch bis auf die Haut durchnässt?«, hatte sie gefragt. »Feucht, aber nicht durch und durch nass«, sagte Mr. Tansley, indessen er seinen Ärmel prüfend zwischen zwei Finger nahm und seine Socken befühlte.
Aber nicht das sei es, worüber sie sich ärgerten, sagten die Kinder. Es sei nicht sein Gesicht; es sei nicht sein Betragen. Er selbst sei es – seine Anschauungsweise. Wenn sie über irgendetwas Interessantes redeten, über Leute, Musik, Geschichte, ganz gleich worüber, selbst wenn sie nur sagten, dass es ein schöner Abend sei und weshalb man eigentlich nicht im Freien sitzen wollte, so ergäbe sich alsbald Anlass, über Charles Tansley zu klagen: Er sei nicht eher zufrieden, als bis er das ganze Ding um und um gedreht hätte, bis es ihn schmeichelhaft spiegelte und sie jämmerlich entstellte; er brächte sie alle miteinander auf durch die beißende Art, mit der er Fleisch und Blut von allem Lebendigen wegätzte. Er sei imstande, sagten sie, in eine Gemäldegalerie zu gehen und einen zu fragen, ob ihm seine Krawatte gefiele – was, wie Rose sagte, bei Gott nicht der Fall sei.
Sie verschwanden, heimlich wie die Hirsche, vom Esstisch, sobald die Mahlzeit beendet war, die acht Söhne und Töchter von Mr. und Mrs. Ramsay, und suchten ihre Schlafkammern auf, ihre festen Stellungen in diesem Hause, wo es keinen Winkel gab, in dem man über irgendetwas reden konnte – über alles reden konnte: Tansleys Krawatte; die Durchsetzung der Reform Bill; Seevögel und Schmetterlinge; Leute; all das in diesen Dachstuben, die nur durch eine Bretterwand voneinander getrennt waren, sodass man jeden Schritt deutlich hörte und das Schluchzen des Schweizer Mädchens, dessen Vater in einem Graubündener Tal an Krebs im Sterben lag, während die Sonne hereinströmte und Schlaghölzer, flanellene Kleidungsstücke, Strohhüte, Tintenfässer, Farbtöpfe, Käfer und die Schädel kleiner Vögel beglänzte und den langen krausen Strähnen Seetang, die an der Wand befestigt waren, einen Geruch nach Salz und Pflanzen entlockte, den auch die Handtücher hatten, in denen noch der Sand vom Baden haftete.
Streit, Zwietracht, Meinungsverschiedenheit, Vorurteile, die in die innersten Fasern des Seins geflochten waren – ach, Mrs. Ramsay beklagte es, dass sie so früh schon beginnen sollten. Sie waren so schwierig, ihre Kinder. Sie redeten solchen Unsinn. Mrs. Ramsay verließ das Esszimmer und hatte James an der Hand, denn er wollte nicht mit den anderen gehen. Es erschien ihr so unsinnig – Meinungsverschiedenheiten auszuklügeln, wo die Menschen doch weiß Gott schon verschieden genug waren. Die wirklichen Unterschiede, dachte sie, als sie am Wohnzimmerfenster stand, reichen aus, reichen ganz und gar aus. Was ihr dabei im Augenblick einfiel, war: reich und arm, hoch und niedrig; wobei sie den Hochgeborenen halb widerwillig einige Achtung zollte, denn floss nicht in ihren eigenen Adern das Blut jenes sehr erlauchten, wenn auch ein wenig sagenhaften italienischen Hauses, dessen Töchter, im neunzehnten Jahrhundert über die englischen Wohnzimmer ausgesät, so entzückend gelispelt und so stürmisch gewütet hatten; stammten nicht all ihr Witz und ihre Haltung und ihre Sinnesart von ihnen und nicht von den trägen Engländern oder den kalten Schotten? Gründlicher aber schlug sie sich mit der anderen Frage herum, mit der Frage ›reich und arm‹, und mit den Dingen, die sie mit eigenen Augen sah, allwöchentlich, täglich, hier oder in London, wenn sie zu Witwen oder sonst wie vom Schicksal geschlagenen Frauen ging, eine Tasche am Arm, Notizbuch und Bleistift in der Hand, um in sorgsam dafür eingerichtete Spalten Löhne und Ausgaben, Arbeit und Arbeitslosigkeit einzutragen, in der Hoffnung, dass es ihr so gelingen würde, eines Tages nicht mehr eine Privatperson namens Mrs. Ramsay zu sein, deren Wohltätigkeit halb eine Beschwichtigung für ihre eigene Empörung, halb eine Befriedigung ihrer eigenen Neugier war, sondern das, was sie in ihrer Unerfahrenheit so sehr bewunderte: eine Forscherin, die Klarheit in die soziale Frage brachte.
Unlösbare Fragen waren das, so schien es ihr, als sie da am Fenster stand, James an der Hand haltend. Auch er war ihr ins Wohnzimmer gefolgt, der junge Mann, über den sie lachten; er stand am Tisch, fingerte an irgendwas herum, zappelig, linkisch und fühlte sich von allem ausgeschlossen; ohne sich nach ihm umzuwenden, wusste sie das. Alle waren sie gegangen – die Kinder; Minta Doyle und Paul Rayley; Augustus Carmichael; ihr Mann – alle waren sie gegangen. So wandte sie sich denn mit einem Seufzer um und sagte: »Wollen Sie mit mir kommen, Mr. Tansley, oder ist Ihnen das zu langweilig?«
Sie hätte etwas in der Stadt zu besorgen, irgendetwas Gleichgültiges; sie hätte einen oder zwei Briefe zu schreiben; sie würde vielleicht zehn Minuten brauchen; dann wollte sie ihren Hut aufsetzen. Und da war sie auch schon wieder, nach zehn Minuten, mit ihrem Korb und ihrem Sonnenschirm, und sie machte den Eindruck, als sei sie bereit, zu einer Unternehmung gerüstet, die nun freilich für einen Augenblick unterbrochen werden musste, als sie am Tennisplatz vorüberkamen, denn hier musste Mr. Carmichael gefragt werden, ob er irgendwelche Wünsche hätte: Mr. Carmichael, der sich da sonnte, die gelben Katzenaugen halb zugekniffen, sodass sie wie Katzenaugen die schwankenden Zweige oder die ziehenden Wolken, niemals aber die geringste Spur innerer Gedanken oder Erregungen zu spiegeln schienen.
Denn sie wollten nun die große Unternehmung wagen, sagte sie lachend. Sie gingen zur Stadt. »Briefmarken, Briefpapier, Tabak?«, fragte sie und blieb neben ihm stehen. Aber er hatte keinerlei Wünsche. Seine Hände falteten sich fest über seinem vorgewölbten Bauch, und seine Augen zwinkerten, als hätte er auf ihre Freundlichkeit (sie war verführerisch, aber ein wenig nervös) gern ebenso freundlich geantwortet, könnte es aber nicht, da er in einer graugrünen Dämmerseligkeit versunken war, in der er sie alle umfasst hielt, ohne dass es ihn nach Worten gelüstete; einer unendlich freundlichen und unendlich trägen Wohlgesinntheit; die das ganze Haus einbegriff; die ganze Welt; alle Menschen darauf; denn er hatte beim Frühstück verstohlen ein paar Tropfen von irgendwas in sein Glas getan, und so erklärten sich, meinten die Kinder, die Streifen munteren Kanariengelbs in seinem Schnurr- und Kinnbart, die sonst milchweiß glänzten. Nein, brummte er, er brauche nichts.
Er hätte ein großer Philosoph werden können, sagte Mrs. Ramsay, als sie die Straße hinab zum Fischerdorf gingen, aber er hätte eine voreilige Ehe geschlossen. Und sie erzählte, indessen sie ihren schwarzen Sonnenschirm sehr gerade hielt und mit einem unbeschreibbaren Ausdruck der Erwartung dahinschritt, als sollte sie um die Ecke herum jemanden treffen, die Geschichte: Eine Sache mit irgendeinem Mädchen in Oxford; frühe Heirat; Armut; Auswanderung nach Indien; übersetzte eine kleine Dichtung, »sehr schön, glaube ich«; wollte die Jungen im Persischen und Hindostanischen unterrichten – doch was hätte man davon? – ja, und nun lag er da, wie sie sähen, im Grase.
Charles Tansley fühlte sich geschmeichelt; da er so geduckt worden war, tat es ihm wohl, dass Mrs. Ramsay ihm davon erzählte. Er lebte wieder auf. Auch brachte sie, unausgesprochen, die Achtung vor der Größe des männlichen Geistes zum Ausdruck, selbst im Verfall noch – nicht dass sie dem Mädchen einen Vorwurf machen wollte, die Ehe wäre, glaubte sie, durchaus glücklich gewesen –, und die Unterwerfung aller Frauen vor der Arbeit ihrer Männer, sodass er sich selbst besser gefiel als zuvor, und hätten sie jetzt, zum Beispiel, eine Droschke genommen, so wäre er gern bereit gewesen, das Fahrgeld zu bezahlen. Ja, und ihre kleine Tasche – ob er die nicht tragen dürfte? – Nein, nein, sagte sie, die trage sie immer selbst. Und das tat sie auch. Jawohl, er empfand, dass das ihrem Wesen entsprach. Er empfand überhaupt mancherlei, darunter etwas, was ihn besonders erregte und verstörte, ohne dass er die Gründe dafür hätte angeben können. Er verspürte den Wunsch, dass sie ihn sehen möchte, wie er in Robe und Barett in einem feierlichen Zuge einherschritt. Eine Privatdozentur, eine Professur – zu allem fühlte er sich fähig und sah sich im Geiste schon –, aber was betrachtete sie denn da? Einen Mann, der ein Plakat anklebte. Das riesige flatternde Blatt glättete sich, und jeder Bürstenstrich enthüllte weitere Beine, Reifen, Pferde, strahlendes Rot und Blau, alles hübsch blank und glatt, bis der Zirkus die halbe Mauer mit seiner Anzeige bedeckte; hundert Kunstreiter, zwanzig dressierte Seehunde, Löwen, Tiger … Sie streckte den Hals vor, denn sie war kurzsichtig und las ab, dass all dies ›ein Gastspiel in unserer Stadt‹ geben würde. Es sei doch eine schrecklich gefährliche Arbeit für einen einarmigen Mann, rief sie, da oben auf der Leiter zu stehen – der linke Arm sei ihm nämlich vor zwei Jahren von einer Mähmaschine abgetrennt worden.
»Da müssen wir alle hin!«, rief sie und schritt weiter, als wäre sie durch alle diese Reiter und Pferde in kindliche Begeisterung geraten und hätte ihr Mitleid darüber vergessen.
»Da müssen wir hin«, sagte er, ihre Worte wiederholend, aber er stieß sie mit einer Befangenheit hervor, dass sie zusammenzuckte. »Den Zirkus müssen wir uns ansehen.« Nein, er konnte es nicht im richtigen Ton sagen. Er konnte es nicht auf die richtige Art fühlen. Aber warum nicht? grübelte sie. Was stimmte wohl mit ihm nicht? Sie spürte in diesem Augenblick warme Zuneigung für ihn. Ob er denn, so fragte sie, als Kind nie in einen Zirkus gekommen sei? Niemals, antwortete er in einem Tone, als hätte sie gerade die Frage gestellt, die er gern beantworten wollte; als hätte er sich all die Tage danach gesehnt, zu sagen, dass sie nie in einen Zirkus gegangen wären. Sie wären eine große Familie, ne...
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