VII Programmieren oder programmiert werden?
1. Sie spielen nicht mit?
Videospiele sind Ihnen ein Gräuel? Die Bestenlisten von Angry Birds175 erinnern Sie auf unangenehme Weise an die „Mitarbeiter des Monats“-Tafeln im Fastfood-Lokal? Sie sind gegenüber Spielmechanismen vollkommen unempfänglich und damit immun gegenüber darauf basierender Verhaltensmanipulation?
Insbesondere die letzte Frage klar zu bejahen, dürfte schwerfallen, wenn man etwa den Vielfliegerstatus bei einer bekannten Airline besitzt. Eifriges Punktesammeln (Meilensammeln) führt hier vom Anfängerstatus hinauf in höhere Spielebenen. Als „Frequent Traveller“, „Senator“ oder „Hon“ genießen Sie dann die Privilegien des eigenen Spielstands und das Ansehen bei denen, die es nicht oder noch nicht bis in derartige „Höhen“ geschafft haben.
Wer ohnehin fliegen muss und die Meilensammelei nur als eine Art Rabatt sieht, mag sich von den Verlockungen, durch die Wahl der „richtigen“ Fluggesellschaft anstelle einer kostengünstigeren Alternative seinen „Spielerfolg“ zu steigern, noch distanzieren. Er bleibt aber die Ausnahme unter den Vielreisenden, bei denen Tipps, wie man mit aus reisetechnischer Sicht sinnlosen, aber hinsichtlich erzielbaren Meilenwerten besonders wertvollen Flugkombinationen seinen Status in kürzester Zeit auf die nächste Ebene hebt, hochgehandeltes Geheimwissen sind. „Mileage Run“ nennt man dieses Phänomen in den Onlineplattformen wie „Flyertalk“176, „Vielfliegerforum“177 und Co. Für die Luftfahrtbranche ist dieses Verhalten der Kunden ein Segen. Zwar hält man sich weitgehend mit Erfolgsmeldungen bedeckt, aber bereits im Jahr 2000 – wenige Jahre nach Einführung des Systems bei der Lufthansa – wurde dort von Mehrerträgen im dreistelligen Millionenbereich (Deutsche Mark) berichtet.178
Wie im Kapitel „Gamification in der Kundenbeziehung“ bereits angedeutet, lassen sich aber auch derartige Punktesysteme unter dem Gesichtspunkt der Spielmechanismen betrachten. Vieles spricht dafür, dass die Macher hinter den Vielfliegerprogrammen und anderen Bonusaktionen, auch ohne den Begriff zu kennen, entsprechende Mechanismen eingebaut haben. Der Gamification-Vordenker Gabe Zichermann, Autor der Bücher „Gamification by Design“ (O’Reilly) und „Game-Based Marketing“ (John Wiley & Sons) weist in beiden genannten Büchern darauf hin, dass Spiele dazu geeignet sind, Menschen dazu zu bringen, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln. Die bewusste Entscheidung, nicht mitzuspielen, lässt sich daher nur dann treffen, wenn man die eigene Umwelt stets hinsichtlich möglicherweise versteckter Spielcharakteristika untersucht.
2. Sie vermessen sich nicht?
Nehmen wir einmal an, es geht Ihnen wie vermutlich den meisten Lesern und sie lesen vom Trend zur Selbstvermessung mit Interesse, bis Sie erschauern. Für sich selbst weisen Sie jedoch jeden Gedanken daran von sich. Nicht mal eine Waage haben Sie im Badezimmer? Wer oder was schützt Sie vor der Vermessung durch Dritte? Vor der Aufzeichnung Ihres Onlinenutzungsverhaltens und Ihres Bewegungsprofils?
Selbst wenn Sie beschließen, von nun an technikabstinent zu leben … Was ist mit den Spuren, die sie bereits hinterlassen haben? Dennoch: Sie kündigen ihren Onlinezugang, verbrennen Ihr Smartphone, distanzieren sich wie die Amish in den USA von jeder Art moderner Technologie und werden nun gefragter Bio-Winzer. Ohne Website, denn der Verkauf vom Hof aus läuft ausreichend gut. Ihre Kunden werden Sie trotzdem bewerten, in Fachforen wie auf Bewertungsportalen. Wenn Sie Pech haben, wird vielleicht ein Konkurrent versuchen, sie mittels gefälschter Bewertungen bei Ihren Kunden und Interessenten anzuschwärzen. Sie werden sich möglicherweise über zurückgehenden Absatz wundern und irgendwann vielleicht doch feststellen, dass es gefährlicher ist, „nicht drin“ zu sein, im weltweiten Netz ... und sei es nur, um sich gegen Berichte mit negativer Konnotation wehren zu können.
3. Mit guten Vorsätzen … in die Hölle
Gehen wir für die weitere Betrachtung davon aus, dass sie den letztgenannten Weg der Netzabstinenz und Technologieverweigerung nicht gehen, sondern vielmehr aktiv in der Nutzung von Internet und Smartphone sind und sich darüber hinaus für die Selbstoptimierung durch Selbstvermessung interessieren.
So ehrenhaft die Motive auch sein mögen: Gut gemeint ist hier noch lange nicht gut gemacht. Insbesondere im Gesundheitsbereich dürfte die Messgenauigkeit der vorhandenen Systeme Fragen aufwerfen, die nicht so einfach wegzudiskutieren sind. Welchen Einfluss haben diese auf das Ergebnis? Ist das Ergebnis überhaupt noch brauchbar oder überlagern die Sensor- beziehungsweise Auswertungsunterschiede die eigentlich relevanten Ergebnisschwankungen im Zeitverlauf? Hinzu kommt: Messungen haben ohne korrekte Bezugsgrößen wenig Wert. Allein ein Vergleich mit Dritten im Netz hilft nur bedingt, wenn man keine validen Aussagen treffen kann, was unter den gegebenen Lebensumständen ein Normal- oder gar ein Idealzustand wäre. Am Ende fehlt schlicht die Sachkunde zur richtigen Interpretation der Ergebnisse.
Der Internetkritiker Andrew Keen beschrieb in seinem 2007 erschienenen, vieldiskutierten Buch „The Cult of The Amateur“ die neue Veränderungsmacht, die Amateure im Internetzeitalter auf Kultur und Medienproduktion haben, und sieht es als destruktiven Veränderungsprozess, der unter anderem die Deutungshoheit der traditionellen Medien untergräbt – mit aus Keens Sicht im wesentlichen negativen Folgen für die Qualität.
Eine ähnliche Argumentation könnte man hier anwenden und darauf hinweisen, dass mit dem verbesserten Zugang zu Medizininformationen im Netz und der Möglichkeit zur Selbstvermessung und Selbstverbesserung die traditionelle Medizin untergraben wird. Die richtige Interpretation ist dabei jedoch häufig Glückssache – und bei einer selbstermittelten Fehldiagnose sind die Folgen gravierender, als aufgrund einer nicht validen Nachrichtenquelle einer Falschmeldung aufgesessen zu sein.
Zudem bleiben Zweifel, ob die online angebotenen Informationen immer frei von Eigeninteressen der Anbieter oder den Interessen Dritter sind. So liefert die „Hustenanalyse“ eines bekannten Herstellers von Erkältungsarzneien bei verschiedenen Analyseversuchen fast immer „trockenen Reizhusten“ als Diagnose – passend zum angebotenen Produktportfolio.
Außerdem ist der Weg von der regelmäßigen Selbstvermessung zum obsessiven Verhalten – zum Suchtpotential – anscheinend nicht weit. Zumindest lassen sich gängige Darstellungen der Selbstvermesser auch ohne Psychologiestudium als zwanghaft bezeichnen. In einem Bericht von Spiegel Online vom 10.08.2011 heißt es dazu:
„Jeder Tag beginnt für Christian Kleineidam gleich: Er steht auf, nimmt sein Handy, startet ein Programm und macht einen Intelligenztest. Hat er die 180 Aufgaben hinter sich, geht er ins Bad, neben dem Waschbecken hängt ein Papier, dort trägt er auf einer Skala von 0 bis 7 ein, wie feucht oder trocken sein Mund ist.
Er stellt sich auf die Waage, sein Gewicht schreibt er ebenfalls auf den Zettel. Daraufhin nimmt er ein Maßband und misst seinen Taillenumfang. Schließlich nimmt er aus dem Badschrank eine Digitalkamera, stellt sie neben das Waschbecken, schaltet den Zeitauslöser ein, tritt zwei Meter zurück und macht drei Aufnahmen von sich: von vorne, der Seite, von hinten – bekleidet nur mit einer Unterhose. […]“179
Derartige Beschreibungen rufen – wie selbstverständlich – die Kulturpessimisten auf dem Plan, die sofort das Ende der Menschheit oder zumindest den Untergang des Abendlandes darin vermuten. So sieht die Schriftstellerin Juli Zeh die Selbstvermessungsbewegung beispielsweise als neue männliche Zwangshandlung, spricht von „männlicher Magersucht“ (Schweizer „Tagesanzeiger“ vom 11. 07 .2012) und sieht sogar einen religiösen Charakter in der von ihr darin verorteten „Selbstkasteiung“. Folgt man diesem Gedanken, gelangt man von dem Wunsch nach digitaler Selbsterkenntnis geradewegs in eine „Hölle der guten Vorsätze“.
4. Soll ich programmieren lernen?
Zu ähnlich drastischen Schlussfolgerungen kann man auch bei der tiefergehenden Betrachtung der Rückwirkungen von Gamification kommen und derartiges als eine Art umgekehrte Computer-Mensch-Beziehung betrachten. Während der Computer üblicherweise als Arbeitsgerät betrachtet wird und ihm Menschen Arbeitsaufgaben vorgeben, ist es bei Gamification im Prinzip umgekehrt: Der Computer stellt die Aufgaben und der Mensch führt diese aus.
Die Wissenschaft spricht hier ganz nüchtern und wertfrei von Humanbased Computation. Sehen kann man dies auch als Grundlage des zunehmend beliebten Konzepts des Crowdsourcing. Der US-Autor Douglas Rushkoff sieht die zunehmende Steuerung durch Programme aber kritisch und fordert in seinem Buch: „Program or be programmed – 10 commands for a Digital Age“ den Nutzer zur Gegenwehr auf. Nach seinen Vorstellungen soll der Nutzer selbst programmieren lernen, statt auf die vorgegebenen Programme zu vertrauen. Tatsächlich versucht der eine oder andere Nutzer so, der empfundenen „digitalen Bevormundung“ zu entkommen. Zumindest Spiegel Online berichtet unter „Digitale Selbsthilfe: Programmiere Dich zur Freiheit“ bereits von einer Gruppe, die auch hierzulande versucht, den von Rushkoff empfohlenen Weg zu gehen.180
Was Rushkoff hier fordert, ist jedoch wenig praktikabel. Zu vielfältig und komplex sind Entwicklungsumgebungen, zu umfangreich der Programmcode, selbst von Software für die einfachsten Anforderungen, als dass man auch nur annähernd auf diesem Wege für den digitalen Eigenbedarf produzieren könnte, weshalb jeder Vergleich mit selbst angebauten Kartoffeln auf der eigenen Scholle daher nicht greift.
Zudem gilt: Es ist längst mehr als genug Programmcode in der Welt. Für die meisten vorstellbaren Anwendungen gibt es mehr als genug Alternativen. Entscheidender als Programmieren zu lernen ist daher die richtige Auswahl zu treffen.
5. Risiken und Nebenwirkungen des neuen Zugangs zum „Ich“
Erweitert man die Perspektive auf eine Art Gesamtsicht der Risiken und Nebenwirkungen für das „digitale Ich“, so drängen sich einige Aspekte besonders auf. Aufgrund der seit wenigen Jahren stattfindenden öffentlichen Diskussion denkt man bei den Risiken und Nebenwirkungen vermutlich ganz automatisch an die eigene Privatsphäre und sicher auch an die wahrgenommene Informationsüberflutung, vielleicht aber auch an die Frage, was passiert, wenn wesentliche Teile der zum Alltag gewordenen digitalen Infrastruktur einmal nicht funktionieren. Tatsächlich tangieren die Risiken sogar die eigene Gesundheit und die persönlichen Finanzen. Aber der Reihe nach …
6. Auf dem Weg in die infantile Gesellschaft?
Betrachtet man aus der Perspektive eines Kulturkritikers die in diesem Buch geschilderte Entwicklung, so müsste man ob der Vorstellung, alles zum Spiel werden zu sehen, schaudern.
Der noch vom Medienkritiker Neil Postman geprägte Begriff vom „Verschwinden der Kindheit“ ist einer Art Dauerkindheit gewichen. Von Symptomen für das Massenphänomen des nicht Erwachsenwerden-Wollens berichtete der US-Autor Robert Bly bereits 1997 in seinem Buch „Die kindliche Gesellschaft“. Heute sind die Anzeichen in der Öffentlichkeit nicht zu übersehen: Egal, ob Mütter, die sich wie ihre Teenie-Töchter kleiden, Fernseh-Castings, in denen sich Erwachsene zum Affen machen, oder Sängerinnen, die auf ihrem neuen Album mit Mitte 50 ständig von „girls“ in der Ich-Form singen (Madonna mit „MDNA“ 2012) – nun sind es also Erwachsene, die zur Bewältigung der Alltagsaufgaben diese erst als Spiel serviert bekommen müssen, um die eigene Trägheit zu überwinden. Dies kann als Auswuchs des gesellschaftlichen Wandels beklagt, aber auch nüchtern analysiert werden, um festzustellen, wo die Chancen und Risiken dieser Entwicklung für jeden Einzelnen liegen, um dann selbst über die eigene Teilhabe am Leben als Spiel zu entscheiden.
Wenn man – anders als der Autor – die Infantilisierung der Gesellschaft als unaufhaltsam betrachtet, muss man sich letztendlich tatsächlich mit der Frage auseinandersetzen, ob man zum besseren Menschen wird, wenn man alles im Leben wie ein Spiel behandelt („Can Treating Your Life As a Game Make You a Better Person?“, Popular Science 09. 02. 2012).
Technik macht dumm
Man muss nicht den Zusammenhang von Taschenrechner und Kopfrechenfähigkeiten bemühen, um festzustellen, dass Technik vermeintlich „dumm macht“ oder zumindest bestimmte Fähigkeiten verkümmern lässt. Heute genügt ein Blick an die Windschutzscheibe vorbeifahrender Autos, um festzustellen, dass eigenständige Orientierung im Straßendschungel keine allgemein übliche Fertigkeit mehr ist. Schon der Weg vom Kurfürstendamm zum Alexanderplatz scheint für eine Vielzahl hauptstädtischer Autofahrer – Berliner Kennzeichen hin oder her – kaum noch ohne Hilfe eines an der Scheibe festgesaugten oder fest installierten Navigationssystems zu bewältigen zu sein. Immer wieder ist auch von Fahrerinnen und Fahrern die Rede, die – im Vertrauen auf die Technik – im Fluss landen oder sich als LKW-Chauffeur auf ungeeigneten Wegen festfahren.
Dass derartiges Vertrauen in die Technik unter Umständen sogar tödlich sein kann, erleben immer wieder Touristen in Wüstengebieten. „Death by GPS“ ist inzwischen ein feststehender Ausdruck in den amerikanischen Medien der Region.181 Die Parkverwaltung des Death Valley National Park sieht sich sogar bereits zu Warnhinweisen genötigt. Auf deren Website wird explizit darauf hingewiesen (Hervorhebung wie im Originaltext):
„Die Navigation mittels GPS zu abgelegenen Orten wie dem Death Valley ist notorisch unzuverlässig. Viele Reisende haben so schon falsche Orte angesteuert oder sind sogar in Sackgassen oder auf gesperrten Straßen gelandet. Wer unterwegs ist, sollte immer aktuelles Kartenmaterial mit sich führen, um die Genauigkeit der GPS-Angaben überprüfen zu können. VERLASSEN SIE SICH NICHT ALLEIN AUF DAS GPS-NAVI-GATIONSSYSTEM IHRES AUTOS.“182
Weniger riskant scheint es da, sich auf das an der Universität Regensburg entwickelte Campus-Navi zu verlassen.183 Die für Studenten entwickelte Android-App zeigt zuverlässig den Weg in den Hörsaal und in die Mensa, berücksichtigt sogar, wenn es regnet, und wählt dann einen Weg, der möglichst nur durch Gebäude führt. Geht man davon aus, dass das System der Hinweisschilder auf dem großzügigen Campus der Uni Regensburg auch gelegentliche Besucher sicher leitet (der Autor hat selbst ohne Navi zu seinem Vortrag in einem Hörsaal gefunden), muss man beinahe von einem gewissen Verdummungsfaktor der Bologna-Generation der Studenten ausgehen. In jedem Fall steht zu befürchten, dass der intensive Einsatz der App dem Smartphone-Akku während eines langen Studientages so zusetzt, dass die Gefahr besteht, dass der Strom- und damit Orientierungslose doch noch nach dem Weg fragen muss.
Verfügbarkeit
Zumeist wird einem jeden Nutzer seine Abhängigkeit von der Infrastruktur, von Internet und Mobilfunknetz oder ganz simpel vom hinreichend aufgeladenen Akku erst im Falle des Falles oder besser Ausfalles schmerzlich bewusst. Denn wer kennt sie nicht? Diejenigen Menschen, d...