1. Einführung: Studienziel sicheres Einkommen
Rechts neben der Tafel geht die Dozententür auf, ein Mann kommt rein. Mittelgroß, dunkles Haar, langer Scheitel. Graubrauner Anzug. Es ist Dienstagmorgen, achtuhrfünfzehn. Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, die Vorlesung beginnt.
Erwartungsfroher Blick, Professor Hermann Sabel schaut die Ränge hinauf, ruft „Guten Morgen!“ ins Dämmerlicht des Hörsaals C. Keine Fenster, kein Tageslicht, es sieht aus wie bei der Erstaufführung im Kino. Jeder Platz besetzt.
Sabel redet etwas von Preis-Absatz-Funktion. Vom Angebot, von der Nachfrage. Er wendet sich an die Tafel und malt eine Kurve auf. Dann kommt, trotz der frühen Stunde, Leben in den Hörsaal.
„Sybille Schmitz“, hebt der Prof an, „hat sich wieder eingedeckt. Kohlrabi, Salat, Zwiebeln.“ Einige Kommilitonen blicken von ihrem Block auf, schmunzeln ihren Sitznachbarn an.
Jetzt ist es wieder soweit, Sabel macht seinen Ausflug ins praktische Leben. Dafür hat er extra eine Heldin kreiert, sie ist Betreiberin eines Standes auf dem Bonner Wochenmarkt. Die Geschicke von Sybille Schmitz begleiten die Studenten auf ihrem Weg in die Betriebswirtschaftslehre. Hier eine kleine Geschichte, dort eine Anekdote.
So gelangt das Thema „Preiserhöhung“ zum Leben: Soll Frau Schmitz heute die Kohlrabi teurer verkaufen? Und so wird auch „Marketing“ mit einer Geschichte verknüpft: Werbung, wie geht das, wie kann Sybille Schmitz mehr Kunden an ihren Stand locken?
So macht BWL Spaß. Die Kommilitonen, darunter auch ich, hatten gehofft, dass es so weitergeht nach dem ersten Semester. Aber bald lernten wir: Professor Sabel war nur der mit den Appetithappen, der Türsteher, der die Leute reinlockt.
Als wir drin waren, später, nach dem Ende des ersten Semesters, wurde die Betriebswirtschaftslehre anders. Alles fühlte sich an wie diese beiden Sätze:
„Bei den Anlagegütern ist eine physisch messbare Mengenkomponente des Werteverzehrs nicht vorhanden; der Eignungscharakter bleibt erhalten, nur das Potenzial von Leistungsabgaben verringert sich im Zeitablauf. Dagegen tritt beim Material gleichzeitig mit dem Einsatz ein weitere Verwendungszwecke ausschließender Verbrauch ein. (…)“
Das große Kino mit dieser Marktfrau war weg, die Betriebswirtschaftslehre wurde trockener Stoff. Wir lernten, was Sachgüterarten sind und wann wir Wörter wie „erfolgswirksamer Güterverzehr“ oder „Beschaffungszeitenschlüssel“ zu benutzen haben.
Nach vier Semestern schrieben wie eine Klausur. 60 Fragen in vier Stunden galt es zu beantworten, macht vier Minuten pro Frage. Die Note eins bekam, wer die Karteikartensammlung mit den Fragen der Vorjahre am besten auswendig gelernt hatte. „Die Führungs- und Koordinationsfunktion beinhaltet die Erarbeitung eines globalen Zeitrahmens zur Steuerung eines komplex organisierten Unternehmens“, um solche Sachen ging es da.
Wer heute BWL studiert, hat das drei bis fünf Jahre in seinem Alltag: Kostenfunktionen, Kalkulationssätze, optimale Bestellmenge. Die Betriebswirtschaftslehre als Fach ist bald 100 Jahre alt – und gemessen am Zuspruch hat sie ihren Höhepunkt erreicht: Noch nie haben sich so viele Abiturienten für Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben wie heute. BWL, so scheint es, ist der Königsweg in das kommende Berufsleben.
Warum das so ist, darüber spricht Christian Homburg. Die Redaktion der Frankfurter Allgemeine Zeitung hat den BWL-Professor vor die Kamera gebeten und ihm die Frage gestellt: Welche guten Gründe gibt es, das Fach zu studieren? Er sagt:
„Man hat mit dem BWL-Studium eine breite Facette von möglichen Tätigkeitsfeldern in Unternehmen.“ Das ginge von eher intern orientierten Funktionen wie Controlling bis zu extern orientierten wie Marketing.
Randlose Brille, blaue Augen mit konzentriertem Blick bei jedem Wort, in vielen Jahren im Hörsaal geschultes Timbre in der Stimme: Nadelstreifen-Mann Professor Homburg gilt als einer der renommiertesten Vertreter seines Faches.
Für das BWL-Studium spreche, sagt er, die hohe und stabile Nachfrage nach Absolventen und eine „gewisse Sicherheit“ auf ein vernünftiges Einkommen nach dem Studium. Und, ergänzt er noch, das Fach sei gut, wenn man ein paar Semester auch im Ausland studieren wolle.1 Klappe.
Dieser Film ist Teil eines Schaulaufens. Vor und nach Marketingmann Homburg bittet die F.A.Z. Profs aus anderen Fächern auf den digitalen Laufsteg, sie sollen auch in einem kurzen Clip die guten Gründe nennen, ihr Fach zu studieren. Im Sechsminutentakt folgen Jura, Physik, Medizin, Informatik, Maschinenbau. Insgesamt 25 Fächer, alle gängigen sind dabei.
In diesen Filmen sehen wir: glänzende Augen, begeisterte Profs, die in wunderbaren Worten Reklame dafür machen, dass gerade ihr Fach das tollste, schönste und spannendste überhaupt sei. Richtiges Marketing eben.
Und dann kommt Professor Homburg und nennt als Grund zwei für das Betriebswirtschafts-Studium: „Man hat eine gewisse Sicherheit.“
Ist das überzeugend genug für die Wahl einer Studienrichtung? In den Augen derer, die sie getroffen haben, durchaus. Als ich kürzlich vor einer Gruppe von 60 Abiturienten einen Vortrag an meiner ehemaligen Schule hielt, gingen viele Finger hoch, als ich fragte: „Wer von euch sieht sich denn im BWL-Studium?“
Einige Zehntausend werden auch dieses Jahr wieder neu die Hörsäle bevölkern, bevorzugt an Betriebswirtschafts-Renommier-Unis wie Köln, Mannheim oder München strömen, sich ihre Berufsaussichten erträumen und büffeln, damit sie Expertinnen und Experten für Leadership-Konzepte, Marketingstrategie, Restrukturierung und Corporate Finance werden.
Willkommen im Paukfach
Aber die Realitäten sind ganz anders, wie wir in diesem Buch zeigen werden. Sie studieren eine Fachrichtung, über die wir noch Worte wie „langweilig“ und „Paukfach“ hören werden. Sie lernen während des Studiums veraltetes, schwer anwendbares Wissen, sie bereiten sich auf Berufsbilder vor, die es bald nicht mehr geben wird – und ein paar Jahre nach dem Abschluss werden es Absolventen bedauern, dass sie die wunderbaren Jahre an der Uni für die Betriebswirtschaftsleere hingegeben haben.
Das Barometer der Aussichten hat längst umgeschlagen. „In keinem anderen Fach sind so viele Studierende eingeschrieben wie in Betriebswirtschaftslehre“, schreibt die Zeitung Die Welt und: „Doch vermutlich werden in keinem anderen Studiengang so viele Hoffnungen enttäuscht.“2 Spannende und lukrative Arbeitsplätze gebe es nur noch für jene happy few der BWL-Absolventen, die aus der Masse herausstechen.
Warum das so ist, dafür liefert die historische Perspektive einige Indizien. Vielleicht erleben die betriebswirtschaftlich Ausgebildeten in den nächsten zehn, zwanzig Jahren das, was den einfachen Arbeitskräften in der Landwirtschaft widerfuhr, als die Industrialisierung begann: BWLer werden in der Menge und Qualifikation, wie wir sie heute haben, nicht mehr gebraucht.
Die Zahl der BWL-Absolventen wächst seit 20 Jahren um ein Mehrfaches schneller als die Zahl der Bürojobs, wie wir im Verlauf dieses Buches noch analysieren werden. Die Folge ist eine Diffusion nach unten. Wo früher der Sparkassen-Betriebswirt mit zweijähriger Lehre die Arbeit machte, sitzt heute ein Diplom-Kaufmann oder ein M. Sc. Betriebswirtschaftslehre.
Welche Folgen das hat, ahnte Siegfried Kracauer voraus, der große Chronist der Angestellten-Kaste. Aufkommende seelische Verödung, so sagte er in seinem Standardwerk „Die Angestellten“, sei ihr großes, verbreitetes Leiden. Die Masse der Angestellten unterscheide sich vom Arbeiter-Proletariat darin, dass sie geistig obdachlos sei.3
Kracauers Diagnose ist längst in der Jetzt-Zeit angekommen. Zwar haben Betriebswirtschaftler die Institutionen, soweit es die Unternehmen angeht, durchaus erobert. Aber zum Zeitpunkt ihrer größten zahlenmäßigen Ausdehnung stehen sie auch vor dem Eingeständnis, dass ihre Zunft nicht jenes Wissen liefern wird, das unsere Unternehmen weiter auf ihrem Weg ins 21. Jahrhundert führen wird.
„Betriebswirtschaftler ohne Einfluss“, das wäre die gedachte Überschrift, unter der eine Analyse des Magazins Cicero stehen könnte, das fragte: Wer dringt durch? Wer wird gehört?, die Berliner spürten jene Intellektuellen auf, die in unserer Gesellschaft etwas zu sagen haben. Auf den 200 wichtigsten Plätzen der Liste stehen einige jener Persönlichkeiten, die Sie erwartet hätten: Martin Walser, Peter Sloterdijk, Guido Knop, Gesine Schwan.
Es befinden sich auch Ökonomen darunter, etwa Hans-Werner Sinn, Hermann Simon und Thomas Straubhaar. Durchgerechnet beträgt der Marktanteil der Ökonomen 9 Prozent – aber das sind alles Volkswirte.
Auf der 200er-Liste steht kein einziger Betriebswirt. Wir finden Historiker, Philosophen, Naturwissenschaftler, Juristen, Schriftsteller, Politologen, Journalisten – aber eben keinen BWLer.4
Diagnose: Betriebswirtschaftsleere; und dieser Eindruck setzt sich nach unten fort. Wir hören viele Stimmen, die unzufrieden sind mit diesem Studienfach. Ich habe zahlreiche Insider gesprochen, auch Professoren, die ein „Betriebswirtschaftslehre“ auf ihrer Visitenkarte stehen haben – stets erhielt ich in Variationen eine Antwort gleichen Typs, wenn ich von meiner Arbeit an diesem Werk berichtete: „Ja, Betriebswirtschaftsleere, guter Titel, dieses Buch wird ein wichtiger Beitrag.“
Auch von studentischer Seite sind diese Stimmen zu hören. „Für jemanden, der Praxisnähe, relevante Inhalte und Ausbau der eigenen Fähigkeiten sucht, ist der BWL-Master nicht zu empfehlen.“ Oder nur: „Zwei Jahre Bulimie-Lernen.“
Solche Rückmeldungen, hier von einer Studentin beim Karrierenetzwerk Squeaker.net, habe ich immer wieder zu hören bekommen. Auch davon wird in den folgenden Kapiteln noch vertiefend die Rede sein.
Diese Einschätzung hat etwas damit zu tun, dass das Betriebswirtschaftslehre-Studium eine Aktie mit sinkendem Wert ist. Ihre Gestalter setzen immer noch auf die alte Nachkriegshypothese, dass der Großkonzern die Firma der Zukunft ist. Krupp, Mannesmann, AEG, Gutehoffnungshütte, Hoesch, Karstadt, das ist die Welt, in der der Stoff dieses Studiums festzustecken scheint.
Arbeitgeber der Absolventen solle am besten ein bekannter Weltkonzern sein, schreibt Die Welt über die Erwartung, die die zehnsemestrige Befassung mit den Inhalten dieses Faches schafft.
Die Realität nach dem Abschluss freilich sieht ganz anders aus: „Die Masse der Jobs gibt es nicht bei Weltkonzernen mit klingenden Namen, sondern bei völlig unbekannten Mittelständlern.“5
Diese sind heute die deutsche Wirtschaft. Sie stellen nicht nur das Gros der Arbeitsplätze, Mittelständler sind es auch, mit denen das Made in Germany seine Pluspunkte auf den Weltmärkten verdient – und allseits dafür bewundert wird.
Auf diese Welt aber, in der Verträge noch mit Handschlag geschlossen werden, in der der Firmenchef nach 30 Jahren an seinen Sohn oder seine Tochter weitergibt und das Geschäft den Namen der Familie trägt, bereitet das BWL-Studium nicht vor. Es sind Firmen wie Hipp, Deichmann, der Playmobil-Hersteller Geobra, die Schokomarke Ritter und die vielen unbekannten Weltmarktführer, von denen alle wissen wollen, wie ihre Erfolgsformel aussieht. Aber das, was in den Hörsälen gelehrt wird, passt nicht für die Welt dieser Champions.
Das hat eine lange Geschichte: In den 1960er Jahren, als das wichtigste Lehrbuch des Faches erschien, wurde stillschweigend angenommen, dass diese wunderlichen Inhaber- und Familienunternehmen eine aussterbende Art seien – bald irrelevant, nicht der Lehre we...