Die soziale Marktwirtschaft
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Die soziale Marktwirtschaft

Alles, was Sie über den Neoliberalismus wissen sollten

  1. 193 Seiten
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Die soziale Marktwirtschaft

Alles, was Sie über den Neoliberalismus wissen sollten

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Über dieses Buch

"Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben." - Kurt TucholskyIm Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise hat der Kapitalismus an Akzeptanz verloren. Eine fundamentale Systemdebatte brach los. Viele erklärten den Neoliberalismus zur Ursache allen Übels und forderten eine Rückbesinnung auf die Soziale Marktwirtschaft. So heißt das berühmte Nachkriegs-Erfolgsmodell einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, dem Deutschland viel verdankt, nicht zuletzt das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre.Die Soziale Marktwirtschaft ist ein Symbol für soziale Harmonie und gesamtwirtschaftlichen Erfolg. Und sie ist ein deutsches Markenzeichen.Was eine "social market economy" sein soll, muss man den Engländern genauso erst einmal erklären wie den Franzosen die "économie sociale de marché". Doch auch in Deutschland kann kaum jemand genau beantworten, was der Begriff "Soziale Marktwirtschaft" bedeutet und wo er herkommt. Und dass gerade die Soziale Marktwirtschaft nichts anderes ist als ein neoliberales Konzept, gehört auch nicht zum Allgemeinwissen.Karen Horn erklärt alles, was man über den Neoliberalismus und die Soziale Marktwirtschaft wissen muss, um mitreden und sich ein eigenes Urteil bilden zu können. Dass man dabei gleichzeitig etwas über deutsche Geschichte, Institutionen und wirtschaftliche Hintergründe erfährt, ist eine weitere Stärke des kurzweilig geschriebenen Buches.Alles, was Sie über den Neoliberalismus wissen sollten!

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Information

IV. GEFÄHRDUNGEN UND
HERAUSFORDERUNGEN


8 Fehlgriffe, Fehlsteuerungen und Fehlanreize

Die Gefährdungen der Sozialen Marktwirtschaft lauern überall
Was seit den fünfziger Jahren in Deutschland geschehen ist, unterlag dann wieder Normalbedingungen. Die neue Gesellschaft begann sich zu strukturieren. Die Menschen kamen allmählich hinter dem Schleier des Nichtwissens wieder hervor. Fortan spielten partikuläre Interessen wieder eine wahrnehmbare Rolle. Das Gemeinwohl wurde wieder schwieriger zu fassen. Von nun an galt es die Soziale Marktwirtschaft, das kostbare Erbe aus der Stunde null, in besonderem Maße auch gegen ihre falschen Freunde zu verteidigen, sie zu bewahren, zu stärken und zu pflegen. Der Gefährdungen gab – und gibt – es viele.

Widersprüche zwischen dem „Sozialen“ und dem „Markt“

Schwieriges Austarieren der Gewichte
Beim Austarieren der Gewichte, insbesondere bei der Bemessung der Dosis an marktkonformer Prozesspolitik, die in der Sozialen Marktwirtschaft verabreicht wird, ist es notwendig, darauf zu achten, dass die wirtschaftliche Privatinitiative nicht erdrückt wird. Nicht immer lässt sich das aber so einfach bewerkstelligen. Nicht immer ist das „Soziale“ mit der „Marktwirtschaft“ so wider-spruchsfrei vereinbar, wie sich das Alfred Müller-Armack in seiner „irenischen Formel“ vorgestellt hatte. Woran liegt das? Das Problem lässt sich wie folgt schildern. Die Freiheit auf dem (Wettbewerbs-)Markt hilft der ökonomischen Effizienz auf die Sprünge. Die Freiheit auf dem (Wettbewerbs-)Markt schafft somit einen „Gesamtkuchen“, der sich nach der Logik des Leistungswettbewerbs auf die Bürger verteilt. Die Stücke sind zunächst einmal verschieden groß zugeschnitten. Wenn nun der Staat umverteilend eingreift, damit die Stücke im Endeffekt doch ähnlich groß sind, dann mindert das für den Menschen, dem etwas weggenommen wird, den Anreiz, sich überhaupt zu bemühen. Wenn es genügend Leuten so geht, dann wird der Kuchen, der verteilt werden kann, von vornherein deutlich kleiner. Niemand bringt sich mehr richtig ein.
Damit das nicht passiert, haben schon die frühen Neoliberalen auf dem Colloque Walter Lippmann 1938 in Paris das Kriterium der Marktkonformität wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen in den Ring geworfen: Wenn der Staat eingreift, darf er mit seiner Intervention aber den Markt nicht aushebeln. Ausgehebelt kann der Markt lange nicht mehr so viel leisten wie sonst. Alfred Müller-Armack sagte deshalb, Staatseingriffe sollten „den sozialen Zweck sichern, ohne störend in die Marktapparatur einzugreifen“. Das zentrale, wichtigste Element der „Marktapparatur“ ist das Preissystem; dessen Signalwirkung muss also erhalten bleiben. Denn die Preise enthalten alle wichtigen Informationen über die Knappheitsverhältnisse in der Wirtschaft sowie über die Wünsche der Verbraucher. Die relativen Preise lenken die knappen Ressourcen in ihre besten Verwendungsrichtungen. Alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen sollten daher ihre Ziele zu verwirklichen suchen, ohne dass sie die Preise verzerren und den Preismechanismus manipulieren. Man kann es auch so sagen: Korrekturen dürfen immer erst im Nachhinein erfolgen. Sie müssen so aussehen, dass die Verteilung des Marktergebnisses verändert wird, nicht aber Hand angelegt wird an die Bedingungen für die Entstehung dieses Marktergebnisses.
Marktkonformer Interventionismus ist ein Drahtseilakt
Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Es ist ein Drahtseilakt, und häufig misslingt er. Und wenn er misslingt, trägt dieses Misslingen zu einer zunehmenden Erosion der Wettbewerbsordnung bei. Man denke einmal an das Gebiet der staatlichen Fürsorge. Hier bedeutet Marktkonformität, dass die Menschen trotz der staatlichen Fürsorge nicht durch künstlich verzerrte Preise zu ökonomischen Fehlentscheidungen verlockt werden sollen. Wenn der Staat zum Beispiel den Elektrizitätsunterneh-men die Einführung von Sozialtarifen auferlegen würde, damit Bedürftige keine so hohe Stromrechnung zu schultern haben, dann läge ein solcher Fall vor. Das ist vor nicht allzu langer Zeit sogar tatsächlich schon einmal ernsthaft erörtert worden. Dabei wäre dies nicht nur ein geradezu ungeheuerlicher Eingriff in die geschäftspolitische Freiheit der Elektrizitätsunternehmen. Schlimmer noch ist, dass der von der natürlichen Knappheit und dem entsprechenden Preis ausgehende Anreiz, Strom zu sparen, dann für eine bestimmte Bevölkerungsschicht gedrosselt oder sogar ganz abgestellt wäre. Zu den vergünstigten Tarifen würden diese Leute folglich mehr Strom verbrauchen als sonst. Das ist ineffizient und ökonomisch völlig verkehrt.
Fürsorge muss nicht Bevormundung sein
Wenn die Regierung den Betroffenen angesichts hoher Strompreise unter die Arme greifen will, dann darf sie nicht am Strompreis herumschrauben; sie kann den Betroffenen aber einfach Geld geben. Ökonomen nennen derlei einen pauschalen Einkommenstransfer. Solche Transfers sind ein marktkonformes Instrument: Sie lassen den Preismechanismus arbeiten und klinken sich erst hinter ihm ein. So behält der hohe Strompreis seine Anreizwirkung, und den bedürftigen Haushalten geht es trotzdem besser. Und sie können frei entscheiden, ob sie tatsächlich mehr Strom verbrauchen oder vielleicht etwas ganz anderes kaufen wollen. Fürsorge muss nicht gleichbedeutend mit Bevormundung sein.
Man mache sich allerdings keine Illusionen: Ganz ohne Folgen für den Preismechanismus bleiben freilich auch solche vordergründig „marktkonformen“ Eingriffe nicht. Denn die Kaufkraft, die bedürftigen Haushalten per Transfers zufließt, wird in zusätzliche Nachfrage umgesetzt. Diese zusätzliche Nachfrage stellt dort, wo sie hinfließt, einen Impuls dar, der die Preise treibt im Vergleich zu einer Situation ohne derlei Transfers. Der Effekt mag gering sein, aber er verpufft nicht einfach vollkommen. Eingriff bleibt Eingriff. Und Marktkonformität bedeutet eben nur eine Annäherung an den Markt; sie ersetzt nicht den Markt selbst. Mit dieser Einschränkung gilt es folgende Mahntafel dennoch immer wieder zu errichten: Wenn schon ein Eingriff gewünscht ist und unvermeidlich erscheint, dann wähle man wenigstens dafür ein Instrument, das den für die Wettbewerbsordnung unabdingbaren Preismechanismus möglichst wenig beschädigt.

Fallstricke auf dem Arbeitsmarkt

In besonders herausfordernder Weise gilt dies für den – so wichtigen – Arbeitsmarkt. Gerade weil die Beschäftigung für den einzelnen Bürger existentielle Bedeutung hat, gibt es für die Politik eine starke Versuchung, den unerbittlichen Preismechanismus außer Kraft zu setzen. Doch auch auf dem Arbeitsmarkt steht jede noch so wohlbegründete Regulierung, die das Preisgefüge verzerrt, in der Gefahr, über das Ziel hinauszuschießen und damit zur Erosion der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft beizutragen – zum Nachteil aller. Es gilt stets das richtige Maß zu finden. Ein Anschauungsfall ist die betriebliche und unternehmerische Mitbestimmung.
Einerseits ist die Mitbestimmung nützlich, weil sie die Arbeitnehmerschaft in die Gesamtverantwortung ein-bindet. Andererseits aber führt sie auch dazu, dass mitunter das Arbeitnehmerinteresse stärker betont wird als für den Unternehmenszweck angemessen – zum Beispiel in den Tarifverhandlungen. Für manche Unternehmen können sich daraus durchaus existenzbedrohliche Situationen ergeben.
Allgemein gilt: Wenn die Bedingungen, unter denen jemand eingestellt werden kann, für die Unternehmen zu belastend sind, dann mindert dies die Nachfrage nach Arbeitskraft – und dann entsteht Arbeitslosigkeit. Und wenn die Sozialsysteme außerdem noch zu stark ausgepolstert sind, dann mindert dies die Eigenverantwortung der Betroffenen. Das widerspricht dem Geist der Sozialen Marktwirtschaft, die zwar Solidarität anstrebt, den einzelnen Bürger aber als freien, selbstbestimmten und daher auch selbstverantwortlichen Menschen ernst nimmt. An diesem Befund setzten im Frühjahr 2003 die vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) angestoßenen Reformen im Rahmen der „Agenda 2010“ an. Hinter dieser Chiffre verbarg sich ein Maßnahmenbündel, das mit ordnungspolitischen Korrekturen für den Arbeitsmarkt, der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie der Reform der gesetzlichen Krankenversicherung begann.
Eine Diskriminierung der Arbeitslosen
Eine weitere Gefährdung der Sozialen Marktwirtschaft mit Blick auf die Funktionsweise der Arbeitsmärkte liegt in der sogenannten Insider-Outsider-Problematik: Den „Insidern“, also jenen Personen, die einen Arbeitsplatz haben, ist daran gelegen, dass ihr Arbeitsverhältnis unter Regeln steht, die für sie günstig sind. Sie haben ein Interesse an einer möglichst starken und weitgehenden staatlichen Regulierung. Aus dem Blickwinkel der „Outsider“, also jenen Personen, die auf der Suche nach einem Arbeitsplatz sind, sieht das tendenziell ein wenig anders aus. Sie wären mitunter bereit, Abschläge vom hohen Regulierungsniveau in Kauf zu nehmen, wenn dies nur ein Unternehmen in die Lage versetzte, sie überhaupt einstellen zu können. Jede Regulierung stellt immer zugleich eine Abschottung derer dar, die versorgt sind, gegen Konkurrenz von außen. Damit ist sie immer auch eine Diskriminierung der Arbeitslosen gegenüber den Stelleninhabern.

Die Folgen der Tarifautonomie

Die Insider-Outsider-Problematik ist seit jeher auch in der Lohnfindung ein großes Thema. Die Tarifautonomie mit ihren kollektiven Lohnverhandlungen baut auf zwei Thesen auf. Erstens: Der Staat hält sich aus dem Prozess der Lohnfindung tunlichst heraus. Zweitens: Zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern herrscht ein Ungleichgewicht der Kräfte, die Arbeitnehmer sind strukturell unterlegen, und diese Tatsache muss konterkariert werden. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 4. Juli 1995 entsprechend Stellung bezogen. Zudem hat die Tarifautonomie eine befriedende Funktion: Der Kampf um die Löhne wird aus den Betrieben weitgehend ferngehalten. Das System der kollektiven Lohnverhandlungen hat sich offenbar als stabilisierend erwiesen, als hilfreiches Element des sozialen Friedens.
Die Lohnkonkurrenz ist weitgehend ausgeschaltet
Es gibt freilich etliche Ökonomen, die hier dennoch „Ausnahmen vom ordentlichen Recht“ (Hayek) sehen und somit einen Strukturbruch gegenüber den Prinzipien der Wettbewerbsordnung diagnostizieren und beklagen. Begründet wird dies in der Regel damit, dass die Koalitionsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt zu einer Art Kartellbildung und damit unweigerlich zur Ballung privater Macht führt. Das läuft grundsätzlich dem Wettbewerbsgedanken zuwider und schwächt den Preismechanismus. Aus dieser Überlegung speist sich das Stichwort „Tarifkartell“. Die Beteiligten lieben dieses eindeutig – und bewusst – negativ belegte Wort nicht. Es hat dennoch einen wahren Kern: Die Lohnkonkurrenz ist in der Tat weitgehend ausgeschaltet.
Gefahr fürden Konjunkturmotor
Wo die Konkurrenz ausgeschaltet wird, drohen indes überhöhte Preise. Auf dem Arbeitsmarkt bedeuten überhöhte Preise überhöhte Löhne. „Überhöht“ heißt nicht, dass die Lohnhöhe absolut zu groß ist, sondern dass sie relativ zu hoch ist gemessen an jenem Wert, bei dem Vollbeschäftigung möglich wäre. Dass es zu einer solchen Schieflage kommt, liegt auf der Hand: Die Verbände als Beauftragte der Arbeitsmarkt-„Insider“ auf beiden Seiten haben in den Verhandlungen verständlicherweise mehr die internen Interessen im Blick und weniger die Interessen der Arbeitssuchenden draußen, der „Outsider“. In den Verhandlungen spielt automatisch die Gewinnverteilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital eine viel stärkere Rolle als die Sorge um die, die ohnehin draußen bleiben. Die Folge ist tendenziell eine sich verfestigende Arbeitslosigkeit. Überzogene Lohnabschlüsse können noch weitergehende Schäden für die Allgemeinheit zur Folge haben: Sie können den Konjunkturmotor ihrer Branche oder auch der Gesamtwirtschaft zum Stottern bringen oder sogar ganz abwürgen.
Die Bilanz aus der Vergangenheit ist in dieser Hinsicht durchwachsen. Es hat in Deutschland Phasen moderater und weniger moderater Lohnpolitik gegeben. Besonders schwierig waren die siebziger Jahre, als tatsächlich noch Vollbeschäftigung herrschte. Damals kam es zu massiven, viele Wochen dauernden Arbeitskämpfen in der Eisen- und Stahlindustrie und später auch in anderen Branchen. Die Gewerkschaften setzten sich mit ihren Forderungen nach zweistelligen Lohnerhöhungen durch. Damit lieferten sie die Vorlage zu erheblichen Rationalisierungsanstrengungen vor allem in der Industrie, die dann im Zuge der Wirtschaftskrise zur Mitte jenes Jahrzehnts endgültig unaufschiebbar wurden, dort aber zwangsläufig zu Arbeitslosigkeit führten.
Auch in den neunziger Jahren, als es um die wirtschaftliche Integration der neuen Länder ging, war die Bilanz nicht ausgewogen. In Ostdeutschland wurden die Löhne rapide erhöht; Ziel war die Angleichung an den Westen. Der Zuwachs ging weit über den Produktivitätsfortschritt hinaus – mit dem Ergebnis, dass die Lohnstückkosten in Ostdeutschland doppelt so hoch ausfielen wie im Westen. Jemanden im Osten zu beschäftigen, lohnte sich nicht mehr. Dies beschleunigte den Niedergang der Wirtschaft in den neuen Ländern und setzte eine Welle der Tarifflucht in Gang. Im Jahr 1998 richtete die Bundesregierung dann das sogenannte Bündnis für Arbeit ein, eine Neuauflage der Konzertierten Aktion (siehe Seite 148) der sechziger Jahre. Angesichts der Arbeitslosenquote von 11 Prozent verfolgte das Bündnis für Arbeit das Ziel, gemeinsam mit Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften die Voraussetzungen für mehr Arbeitsplätze und für eine höhere Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu schaffen. Auf dem Papier wurde eine Einigung darüber erzielt, künftige Produktivitätsfortschritte nicht unmittelbar in Lohnerhöhungen umzusetzen, die schließlich zwangsläufig nur den Insidern zugutegekommen wären. Sie sollten stattdessen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze genutzt werden. Den Worten folgten allerdings keine Taten. Erst im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts schwenkte die Lohnpolitik wieder auf einen moderaten Kurs ein.
Wenn die Lohnpolitik überzieht, verkehrt sich die Wirkung der Tarifautonomie in das genaue Gegenteil des eigentlich Beabsichtigten: Ihr Grundgedanke ist es, die Tarifparteien zu emanzipieren, ihnen Unabhängigkeit zu garantieren von staatlicher Drangsalierung, auf dass sie ihre Verantwortung mit Augenmaß wahrnehmen. Es ist bei dieser Konstruktion allerdings nicht ausgeschlossen, dass die Tarifparteien die Verantwortung für die Konsequenzen ihres Handelns einfach auf die Allgemeinheit abwälzen. Für die finanzielle Unterstützung der Arbeitslosen kommen in Deutschland nicht die Tarifparteien auf, sondern vollumfänglich der Steuerzahler.
Die Allgemein-verbindlich-keit von Tarif-verträgen
Die Insider-Outsider-Problematik ist auch mit der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen verbunden. Befürworter der Allgemeinverbindlichkeit argumentieren, dass nicht organisierte Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen bestehenden Tarifvertrag, der für sie nicht bindend ist, unterlaufen und somit einen unlauteren Wettbewerbsvorteil gegenüber tariflich gebundenen Konkurrenten erlangen können. Das wäre für sie in der Tat ein Problem – so wie Wettbewerb für den weniger günstigen Anbieter immer ein Problem ist. Den Wettbewerb zu unterbinden, ist jedenfalls ein mit den Grundsätzen der Wettbewerbsordnung und der Sozialen Marktwirtschaft nicht zu vereinbarendes Mittel. Für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die nicht in Verbänden organisiert sind, kann die Allgemeinverbindlichkeit zur schieren Existenzbedrohung werden. In der Regel sind ja zumindest viele Arbeitgeber gerade deswegen nicht organisiert, weil sie sich einem Flächentarifvertrag, der sie übe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. I. DER NEOLIBERALISMUS
  3. II. DIE WETTBEWERBSORDNUNG
  4. III. DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT
  5. IV. GEFÄHRDUNGEN UND HERAUSFORDERUNGEN
  6. Schlusswort
  7. Literatur
  8. Register
  9. Bildnachweise
  10. Die Autorin