Allgemeine Heilpädagogik
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Allgemeine Heilpädagogik

Eine Einführung

  1. 201 Seiten
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Allgemeine Heilpädagogik

Eine Einführung

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Über dieses Buch

Die Heil- und Sonderpädagogik steht vor einer Vielzahl von Herausforderungen und Neuorientierungen in Theorie, Forschung und Praxis. Das Buch vermittelt Grundlagenwissen der Allgemeinen Heilpädagogik und bietet damit Studierenden eine Orientierung sowie einen wissenschaftlichen Zugang zu Themen und Fragestellungen im Kontext Behinderungen, Störungen und Benachteiligungen. Das Buch setzt sich kritisch, aktuell und theoriegeleitet mit der Vielfalt heilpädagogischer Problemstellungen auseinander. Ausgehend von aktuellen und konzeptionellen Überlegungen zu den modularisierten Bachelor- und Masterstudiengängen wird besonderer Wert auf eine umfassende didaktische Aufbereitung und Vermittlung der wichtigsten Inhalte der Allgemeinen Heilpädagogik gelegt.

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Information

Jahr
2010
ISBN
9783170278189
Auflage
1
Thema
Bildung

1 Problemaufriss unter besonderer Berücksichtigung aktueller Herausforderungen im pädagogischen Arbeitsfeld

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Sonder- und Heilpädagogik erheblich verändert. Sie steht vor einer Vielzahl an Herausforderungen, Neuorientierungen und Perspektiven in Theorie, Forschung und Praxis. Veränderungen und Umbrüche in vielen Lebensbereichen in rascher Folge kennzeichnen auch die heutige gesellschaftliche Situation, die von dem Soziologen Ulrich Beck treffend als „Risikogesellschaft“ bezeichnet wird. Sowohl die aktuelle Sonder- und Heilpädagogik als auch deren Nachbardisziplinen müssen sich diesen vielfältigen Entwicklungen und Widersprüchen der Postmoderne stellen und gewinnen dadurch auch neue Handlungsfähigkeit.
Es gibt eine deutliche Verunsicherung gegenüber Erziehungsfragen in Theorie und Praxis. Vielleicht ist diese Unsicherheit auch ein wichtiger Grund für die Entstehung vehementer Verhaltensprobleme wie Aggressivität, Gewalt bis Brutalität, Essprobleme, selbstverletzendes Verhalten, mangelndes soziales Einfühlungsvermögen sowie Egoismus vieler Kinder und Jugendlicher. Sie provozieren staatliche Autorität, indem sie mehr oder weniger bewusst Grenzen menschlichen Zusammenlebens überschreiten.
Nicht nur im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik, sondern auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen sowie in der Politik fordert man Präventionsarbeit. Krankenkassen geben sich den Beinamen „Präventionskasse“, da ihnen die Gesundheitsvorsorge ihrer Klienten besonders am Herzen liegt.
Der Einbezug unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche in die vorliegende Heilpädagogik erweist sich als unabdingbar. Interdisziplinarität ist auch notwendig, um Wissenschaftler mit geistes- und naturwissenschaftlicher Orientierung gleichermaßen zu sensibilisieren, verstärkt die Situation und die Bedingungen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und mit speziellen Erziehungs- und Lernbedürfnissen mit dem Ziel der Förderung ihrer Persönlichkeitsentfaltung und Verbesserung der Alltagswirklichkeit zu erforschen. Handeln im Zusammenhang mit Kindern wird als pädagogische Aufgabe, als Auftrag, Aufforderung und Postulat, Anruf oder als Herausforderung an unsere Humanitas angesichts vorliegender Problemsituationen in der Erziehungswirklichkeit betrachtet.
Ziel der Sonder- und Heilpädagogik ist es, jedem Menschen Kompetenzen zu vermitteln, die er benötigt, um zunehmenden Einfluss auf seine Lebensgestaltung, auf seine soziale und dingliche Umwelt zu nehmen. Forschen, Wissen und Handeln bilden hierbei unter dem Aspekt eines wertorientierten Menschenbildes die Grundlage für eine positive Entwicklung. Ähnliche Ziele setzt sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Rahmen des Konzepts der Gesundheitsförderung, welches intendiert, dass allen Menschen die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln sind, um ihre persönliche Gesundheit zu verbessern – als Voraussetzung für eine optimale Lebensqualität (vgl. Hurrelmann, Settertobulte 2001, 133).
Seit einigen Jahren steht man vor allem im Erziehungsfeld vor neuen Herausforderungen. Eine vormals oft einheitlich erlebte Welt scheint sich immer mehr in Vielfalt aufzulösen. Es handelt sich hier um den Verlust von so genannten „Normalbiographien“ hin zur „Wahlbiographie“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994), die neue Kompetenzen erfordert. Es ist nicht nur die Geschwindigkeit der Transformationsprozesse, die viele von uns überfordert, sondern auch die mit diesen Entwicklungen einhergehende Verunsicherung und der Verlust Halt gebender Einbindungen und Traditionen tragen zur Genese weiterer Probleme bei. Die häufig als (Post-)Moderne – oder auch als „flüssige Moderne“ (Baumann 1995) – bezeichnete Gegenwart, in der größere Handlungsspielräume und erweiterte Möglichkeiten von Menschen gewünscht werden, birgt auch zahlreiche Risiken und damit ein erhöhtes Maß an Vulnerabilität in sich.
Reichtum und gleichzeitig alarmierende Zahlen über die Zunahme realer Armutserfahrungen von Kindern, Jugendlichen, allein erziehenden Müttern und Migrantenfamilien, gesellschaftliche Ausgrenzungen sowie der Kampf um elementare Menschenrechte und Kontroversen hinsichtlich der Würde des Menschen – diese beispielhaften Veränderungen und Differenzen bilden einen möglichen Ausgangspunkt des Nachdenkens über die physischen und psychischen Lebens- und Gesundheitsbedingungen von Menschen mit oder ohne Behinderungen und die Herausforderungen sowie Grundlagen zukünftiger heilpädagogischer Theorie- und Praxisentwicklungen.
Traditionelle Sonderpädagogik hat vor dem Hintergrund medizinisch-psychiatrischer Betrachtungsweisen den Menschen mit einer Behinderung in erster Linie als defizitär, mit Mängeln behaftet betrachtet. Einstellungen und Wahrnehmung haben sich in den letzten Jahren verändert. Neuwahrnehmung heißt hier Möglichkeiten, Fähigkeiten, Eigenaktivitäten und Kompetenzen kognitiver, sozialer, emotionaler und motorischer Art – trotz möglicher Beeinträchtigung und behindernder Bedingungen – in den Vordergrund der Wahrnehmung einer Person zu stellen (vgl. Bundschuh 2000, 11–17; 2003 197–211; 2008, 233f.) und den individuellen Förderbedarf unter Einbezug der Umfeldbedingungen multidisziplinär zu erkennen.
Können Erkenntnisse aus Bio- und Neurowissenschaften, der Hirnforschung oder gar der Rechtswissenschaften relevante Aussagen zu Fragen der Erziehung überhaupt ermöglichen? Welche neue Bedeutung und Aufgabe hat Erziehung angesichts zunehmender Störungen psychischer, psychosomatischer, kognitiver, affektiv-emotionaler und motivationaler Art bei Kindern und Jugendlichen, von denen über 20 % der schulpflichtigen Kinder betroffen sind. Ist unter diesem Aspekt betrachtet Erziehung sinnlos oder vielmehr dringend notwendig? Müssen wir die Frage nach der Erziehung in der modernen Leistungsgesellschaft neu stellen und Erziehung mit dem Blick auf zukünftige Herausforderungen und Bewältigungsaufgaben in einem neuen Licht betrachten? Viele Interventions- und Präventionsansätze stellen sich diesen wichtigen Fragen, indem sie sich um eine multiperspektivische Herangehensweise bemühen, mit deren Hilfe man Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen und -situationen begegnet.
Dies zeigt sich insbesondere an den neueren Erkenntnissen der Emotions- und Lernpsychologie sowie der Neuropsychologie und -biologie. Man geht heute davon aus, dass menschliches Verhalten wesentlich durch emotionale Prozesse, d.h. durch Erleben allgemein, bestimmt wird. Zahlreiche Einflüsse und Erfahrungen vor allem in der frühen Kindheit können sich positiv, aber in hohem Maße auch negativ auf die Lern- und Sozialentwicklung sowie allgemein auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen auswirken. Insofern wird die Frage nach den Konsequenzen für die Frühpädagogik gestellt.
Gerade aus konstruktivistischer Sicht ist zu betonen, dass emotional-kognitive innere Prozesse und damit Eigenaktivität bei Kindern als autopoietische Systeme aus der Quelle psychischer Prozesse, also der Emotionalität gespeist werden. Neben den systemisch-konstruktivistischen Ansätzen spielt vor allem der Aspekt der Ko-Konstruktion als wichtige Ergänzung und Erweiterung eine bedeutende Rolle für ein tieferes Verständnis von Verhalten und Lernen im sozialen Kontext. Handlungsfähigkeit, Lernen und auch die Frage nach Lebensqualität, Glück und Wohlbefinden werden im Zusammenhang mit dem Konstruktivismus und der Zukunft eines Menschen in einem neuen Licht gesehen (vgl. Bundschuh 2003, 153–157).
Häufig geht es um Kinder mit einem erhöhten emotionalen und sozialen Förderbedarf (Verhaltensauffälligkeiten) im Kontext geistiger Entwicklung und Lernen. Diese Kinder erweisen sich im Zusammenhang mit Lernen und Versagensängsten als äußerst sensibel. Zweifellos gilt Emotionalität als pädagogische Herausforderung bei der kindlichen Entwicklung allgemein.
Vorläufig können wir sagen, dass Emotionen, freilich vor allem ausgeglichene, „stabile Emotionen“ als Voraussetzung, quasi als Ressourcen für optimales Lernen gelten. Das erzieherische Verhältnis und der pädagogische Bezug im Kontext Erziehung sollten wieder in den Mittelpunkt pädagogischer Fragen gerückt werden. Es ergibt sich die dringende Notwendigkeit für einen neuen Umgang mit Emotionen, denn positive Emotionen (vgl. Bundschuh 2007, 176–182) und auch die mit der Emotionalität verbundene Bewältigung von Entwicklungsaufgaben erweisen sich als sinnvolle, sich gegenseitig stärkende Prozesse im Rahmen der Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit.
Die traditionelle Orientierung an Abweichungen von der Norm und die Betonung von Defiziten im Sinne des medizinisch orientierten Modells müssen abgelöst werden durch Kompetenzorientierung. Darunter wird die Wahrnehmung und Fokussierung der Ressourcen, Fähigkeiten, Möglichkeiten und des Könnens einer Person verstanden. Möglichkeiten und Eigenaktivitäten sind zu beachten und im Sinne präventiven und förderlichen Bemühens freizulegen und zu aktualisieren.
Kommunikative, soziale, moralische, emotionale, kreative und kognitive Kompetenzen (vgl. Bundschuh 2003, 197 ff.) spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Orientierung am Kind und seinen Möglichkeiten im Kontext von Handlungs- und Lernprozessen stellt implizit eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung von Entwicklungsaufgaben dar.
Behindernde Bedingungen sozialer und emotionaler Art sowie psychische Erkrankungen gehen fast immer mit Leistungsbeeinträchtigungen und Lernbehinderungen, ggf. auch mit einer gewissen Lernhemmung bis zur situativen Lernunfähigkeit einher. Neben dem jeweiligen Entwicklungsniveau sind es aktuelle Frustrationen, Überforderungen, Konflikte, Ängste, Krisen, Krankheiten und Traumata, die zu Einschränkungen im Fühlen, Denken und Handeln führen können. Handeln, Lern- und Denkfähigkeit sind immer auch ein Abbild der Persönlichkeitsentwicklung mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen. Gravierende Krisen und Traumata in der Kindheit und Adoleszenz haben im Hinblick auf die Entwicklung der Lern- und Denkfähigkeit sowie der Emotionalität längerfristig ungünstigere Folgen als im Erwachsenenalter, da sie die gesamte Persönlichkeit und deren weitere Entwicklung sehr früh tiefgehend und damit auch nachhaltig negativ beeinflussen können.
Kindheit bedeutet heute häufig, in einer ungesicherten sozialen Bindung aufzuwachsen und in einer nahezu gnadenlosen Wettbewerbsgesellschaft zu leben, in der vor allem die messbare Leistung zählt. Soziale Spannungsfelder nehmen im Alltag unserer Gesellschaft zu, die sich durch das Öffnen der Schere zwischen Arm und Reich ebenso ausdrücken wie durch Entfremdung zwischen Menschen. Kinder sind – mehr oder weniger bewusst – Suchende nach Sinn und Perspektive und verarbeiten dabei auch problematische Umfeldbedingungen. Auch wenn gesellschaftliche Verhältnisse und Bedingungen nicht radikal im Sinne von mehr Mitmenschlichkeit und Humanitas verändert werden können, sollte jedes Kind von Anfang an die Möglichkeit der Erfahrung positiver, von Liebe und Geborgenheit getragener Emotionen erhalten.
Wir erstreben für die uns anvertrauten Menschen mit und ohne Behinderung Teilhabe, Autonomie und Entfaltung der Persönlichkeit, aber nicht auf der Basis von Egoismus und Machtstreben, sondern auf der Grundlage von Begegnung und Dialog verbunden mit positiven sozial-emotionalen Prozessen. Es gilt gesellschaftliche Gegebenheiten und Verhältnisse sowie persönliche Situationen flexibel und aktiv aufzugreifen und ihnen präventiv zu begegnen.
Heilpädagogik steht in wissenschaftlicher Hinsicht auch gegenwärtig noch im Spannungsfeld traditionellen Denkens und aktueller fachlicher Neuorientierung. So hat man lange Zeit über Menschen mit Behinderungen gesprochen, ohne sie als Betroffene in den Dialog einzubeziehen und eine „gemeinsame“ Sprache herzustellen. Sprache ist an sich ein hervorragendes Mittel zur Gestaltung des (emotionalen) Beziehungsverhältnisses zwischen Menschen. Bereits durch die Auswahl von Worten und Begriffen, die stets auch einen emotional besetzten Anteil haben, werden Beziehungen hergestellt und Einstellungen generiert.
So basiert das „System Heilpädagogik“ auf dem systemisch-ökologischen Ansatz, der darauf ausgerichtet ist, „die nahezu unüberschaubar gewordene Wirklichkeit des Lebens und Lernens, der Entwicklung und der Erziehung im Falle einer besonderen Hilfebedürftigkeit zu sichten. Dabei wird es darum gehen, die einzelnen Wirkeinheiten (Personen, Professionen, Organisationen) in ihrer Funktion und Bedeutung als (relativ) autonome Systeme im Austausch mit ihrer Umwelt zu sehen. Erkenntnisleitend wird damit eine Ganzheitssicherung“ (Speck 2008, 17).
Der Begriff Heilpädagogik drückt einen positiven Auftrag aus, wie er dem Sinn von Erziehung entspricht, der den Menschen „ganz werden lassen“ soll, darüber hinaus verbindet er verschiedene Disziplinen und sonderpädagogische Handlungsfelder im Sinne der semantischen Bedeutung von heil (= ganz). Heilpädagogik soll in diesem Buch als Chance und Aufgabe verstanden werden, von Zerteilung und Isolation bedrohtes Leben durch eine entsprechende Erziehung in sinnvolle Zusammenhänge zu führen. Die grundlegende Bedeutung der Entscheidung für den Begriff „Heilpädagogik“ sollen insbesondere folgende Ausführungen in diesem Buch zum Ausdruck bringen:
  • anthropologisch ganzheitliche Ausrichtung der Erziehung (vgl. Kap. 6)
  • komplementäres Ergänzungsverhältnis von allgemeiner und spezieller (Heil- und Sonder-)Pädagogik (vgl. Kap. 7.1)
  • kooperative Ergänzungsbedürftigkeit zwischen Heilpädagogik und Nachbardisziplinen im Sinne der verbindenden Integralfunktion der Sonder- und Heilpädagogik (vgl. Kap. 5).
Ergänzt und vernetzt werden diese genannten Bereiche u.a. mit wichtigen Aspekten
  • zur Subjekt- und Bedürfnisorientierung (vgl. Kap. 9)
  • zur aktuellen Interpretation von Krisen als konstruktive heilpädagogische Herausforderung bzw. Chance (vgl. Kap. 3).
Häufig wurde und wird der Systembegriff auch im Zusammenhang mit Heilpädagogik verwendet. Dieser Begriff erweist sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nicht zuletzt im Kontext des Zusammenbruchs sozialer und finanzieller Systeme als für eine kritische Reflexion zur Heilpädagogik zwingend ergänzungsbedürftig, da einzelne Menschen mit speziellem Erziehungs-, Förder- und Hilfebedarf, mit Beeinträchtigungen und Behinderungen im Systembegriff nicht immer adäquat wahrgenommen und aufgehoben werden. Globale Systeme gehen häufig am Schicksal einzelner Menschen geradezu vorbei. Deshalb wird in diesem Buch eine kritisch-konstruktive Heilpädagogik fokussiert, die eher in der Lage ist, einzelne Menschen in ihrer subjektiven Betroffenheit bewusst wahrzunehmen, zu verstehen und entsprechend der Bedürfnislage individuell zu unterstützen und zu fördern.
Damit wird die Existenz und Wirksamkeit der Systeme keinesfalls negiert, vielmehr wird die Analyse der Situation Betroffener einbezogen und primär kritisch beleuchtet. Betrachtet man Systeme unter dem Aspekt des Desasters großer Systeme (Banken, Konzerne, zum Teil politische Systeme, ja sogar soziale Systeme/Hilfsorganisationen und Heime) und der Gefahr des Nichtbeachtens der Belange der einzelnen Menschen, sollte man den Systembegriff gerade im Hinblick auf Menschen mit Behinderung nicht zu sehr oder gar nicht mehr fokussieren, denn es besteht die Gefahr, dass Systeme den einzelnen Menschen nicht beachten bzw. einbeziehen.
Wir leben in einer Zeit, in der unsere technisierte Zivilisation ein Höchstmaß an Machbarkeit erreicht hat. Erzeugbare Kommunikations-, aber auch Vernichtungsmittel stehen in nie da gewesenem Ausmaß zur Verfügung. Unser Wissen über neurobiologische Prozesse der Entwicklung und des Verhaltens wächst ständig. Dennoch stehen Eltern und Lehrer oft verzweifelt und ohnmächtig vor den Abgründen menschlicher Konfliktbereitschaft, ungezügelter Aggressivität und unverständlicher Handlungen im Alltag. Kindern werden mit epidemiologischer Genauigkeit Verhaltens-, Lernstörungen und Behinderungen attestiert, Familien, Schulen und andere Institutionen sind an den Grenzen der Belastbarkeit angelangt. Pädagogische und sozialpsychologische Beeinflussungsmodelle und Erklärungskonstrukte stehen weitgehend ohnmächtig den Entwicklungen gegenüber, interdisziplinäre Expertengremien suchen nach Lösungen. Keine Frage, die Klagen über Aggression und Gewalt, allgemein Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu, ca. 20 % aller Kinder sind betroffen.
Die Debatten um die „Krise der Zivilisation“ reißen nicht ab. Insbesondere die zunehmende Kluft zwischen Armen und Reichen sowie Arbeitsuchenden und Arbeitenden, das (vorläufige) Scheitern der Klimakonferenz von Kyoto und der weltweite Terrorismus machen Angst. Genetik, Bio- und Medizintechnologien, Nanotechnologie und der rasante Ausbau der Informationssysteme führen jedem Menschen die Unvorhersagbarkeit der Zukunft vor Augen. Eine neue Nachdenklichkeit hat eingesetzt: Wie können wir leben? Dass diese Frage auch im individuellen Lebensbereich aktuell ist, zeigen die Debatten um Sinnkrise, Werteverlust, Stressgesellschaft usw. Menschen fühlen sich zunehmend weniger frei in Bezug auf die Gestaltung ihres eigenen Lebens, sondern eingeengt von „Sachzwängen“ und Reizüberflutungen, denen sie sich nicht entziehen zu können glauben. Individualisierung hat auch zu Vereinsamung geführt, und die Fülle von therapeutischen Angeboten angesichts dieser Entwicklungen ist kaum noch überschaubar. „Man“ sucht nach Orientierung, Heilung, Sinn. Die Ratgeberliteratur findet reißenden Absatz, und auch die Suche nach religiösen Alternativen und Spiritualität verstärkt sich.
Viele Menschen glauben heute, an einem Wendepunkt der Geschichte zu leben. Zwar ist jede Zeit geprägt von Kontinuität und Aufbruch, von Trägheit und Bewegung, doch das gegenwärtige Tempo der technologischen, wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Wandlungsprozesse erzeugt Ohnmacht einerseits und Manipulationswahn andererseits, in beiden Fällen jedoch das Gefühl von Umbruch und Maßlosigkeit. Eine Welt ohne Maß? Globalisierung, gesellschaftliche Veränderungen, das faszinierende Projekt der europäischen Einigung nach Jahrhunderten kriegerischer Konflikte einerseits, eine drohende Konfrontation der Kulturen andererseits, die Dringlichkeit eines ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft, vor allem aber die rasante Entwicklung in den Wissenschaften und ihre Folgen für die Ethik sind Stichworte, die ein solches Lebensgefühl verdichten.
Wie können Kinder und speziell Kinder mit einer Behinderung leben? Es geht hier nicht um Imperative, wie wir leben müssen, sondern um das Ausloten von Möglichkeiten kreativer Lebensgestaltung, also darum, wie wir leben und Leben gestalten können, das häufig auch als ungenügend empfunden wird. Das vorliegende Buch sucht nach erkennbaren Alternativen, die plausibel sind und als realisierbar erscheinen – d. h., es fragt nach dem, was Zukunft, Alltagsbewältigung und Lebensqualität genannt werden kann. Es stellt sich dabei die Frage, was zu tun sei, damit Leben individuell wie kollektiv gelingen kann in einer Welt, die in vielerei Hi...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. 1 Problemaufriss unter besonderer Berücksichtigung aktueller Herausforderungen im pädagogischen Arbeitsfeld
  7. 2 Sonder- und Heilpädagogik zwischen Grundlegung und Kritik
  8. 3 Sonder- und Heilpädagogik in der modernen Leistungsgesellschaft – Krise oder Chance
  9. 4 Integration als Herausforderung und als ungelöstes Problem
  10. 5 Aspekte einer Analyse heilpädagogischer Beziehungen aus pädagogisch-psychologischer Perspektive unter historischem und aktuellem Aspekt
  11. 6 Grundlegende anthropologische und ethische Aspekte der Heilpädagogik
  12. 7 Pädagogische Grundüberlegungen im Rahmen heilpädagogischer Fragestellungen
  13. 8 Die Bedeutung des Konstruktivismus für die Sonder- und Heilpädagogik
  14. 9 Bedürfnisorientierung – mehr als eine Utopie
  15. 10 Ausblick: Herausforderungen und Konsequenzen für die Heilpädagogik
  16. Literaturverzeichnis
  17. Stichwortverzeichnis