Bildung und soziale Ungleichheit
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Bildung und soziale Ungleichheit

Eine Einführung

  1. 264 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Über die großen Schulleistungsstudien PISA, TIMSS und Co. ist das Problem der bildungsbezogenen Ungleichheit auf die Agenda von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit zurückgekehrt. Danach erweist sich die soziale Herkunft der Schüler und Schülerinnen als eine zentrale Stellgröße für deren Bildungsbeteiligung. Der Band knüpft an diese Befunde an und erweitert dabei den Blick auf die Zusammenhänge von Bildung und soziale Herkunft in mehrfacher Hinsicht: Nicht nur die institutionellen Bildungsprozesse in der Schule, sondern auch in der vorschulischen Betreuung, an den Universitäten und im beruflichen (Aus)Bildungs- und Weiterbildungsbereich werden beleuchtet. Darüber hinaus nehmen die Autoren auch zentrale informelle Bildungskontexte wie Familie, Peers, Freizeit und Mediennutzung in ihrer Beteiligung an der Reproduktion sozialer Ungleichheit in den Blick.

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Information

Jahr
2011
ISBN
9783170277588
Wenn Bildung etwas mit Macht zu tun hat,
wird sie nicht dort zu finden sein, wo alle sind.
Und wenn Bildung dort ist, wo alle sind,
wird sie nichts mehr mit Macht zu tun haben.
(Liessmann 2006, S. 54)

1 Einleitung: Die soziale Selektivität des Bildungsgeschehens als gesellschaftliches Konfliktfeld

1.1 Bildung als Gegenstand von Elterninteressen

»Wenn alle Eltern so lautstark und gewichtig darauf bestehen würden, dass ihre Kinder das Abitur machen, wie es Akademiker auch dann tun, wenn ihre Sprösslinge nur sehr mäßige Schulleistungen aufzuweisen haben, dann wäre der vorzeitige Abgang (aus weiterführenden Schulen) bei allen Gruppen so gering wie bei Kindern aus höheren Schichten.«
An dieser von Ralf Dahrendorf stammenden Beobachtung aus den 1960er Jahren über die spezifische Interessenwahrnehmung durch Akademikereltern im Hinblick auf die Bildung ihrer Kinder hat sich bis heute nur wenig geändert. Auch ein halbes Jahrhundert später unterscheidet sich das Elternverhalten in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Bildungshintergrund deutlich, sobald es um die elterliche Einflussnahme auf das Bildungsgeschehen ihrer Kinder geht. Im Kern haben wir es dabei mit dem grundgesetzlich garantierten individuellen Elternrecht (Artikel 6, Absatz 2) und den sozial bedingten (ungleichen) Nutzungsformen dieses Rechts zu tun, das allen Eltern konkurrierend zum staatlichen Gestaltungsrecht von Bildungsprozessen in der Schule (Artikel 7, Absatz 1 Grundgesetz) eingeräumt worden ist.
Neben der individuellen Wahrnehmung von Elternrechten in der Schule verbinden besonders Akademikereltern auch kollektive (also gruppenbezogene) Rechtsansprüche auf die Schule (und deren Gestaltung). Erst aus dieser Verknüpfung von individueller und kollektiver Wahrnehmung von Elternrechten ergibt sich ein Problemzusammenhang, der für die Thematik dieses Buches von erheblicher Bedeutung ist: Wie sieht das Verhältnis von individuellem und kollektivem Elternrecht aus und welche (unterschiedlichen?) Formen der Wahrnehmung bzw. Nutzung dieses Rechts sind dabei erkennbar? Welche Bedeutung hat vor allem das kollektive Elternrecht, wenn man dessen Wahrnehmung weniger als Instrument für eine Abwehr staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre der Familie sieht, sondern als willkommenes Instrument, um (kollektive) Elterninteressen öffentlich zu artikulieren und politisch durchzusetzen?
Eltern sind in dieser Hinsicht, das soll mit dieser Fragerichtung angedeutet werden, keine homogene Gruppe mit identischen Interessen in Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsfragen. Vielmehr haben Eltern zumeist konkurrierende Bildungsinteressen und konkurrierende elterliche Bildungsansprüche für ihre Kinder, die im komplexen Geflecht von gesellschaftlichen Interessen- und Lebenslagen sowie institutionellen Regelsystemen verortet sind. Dahrendorf deutet mit seiner oben zitierten Beobachtung an, dass das Elternrecht traditionell vor allem von Akademikereltern als wichtiges und ausgesprochen wirksames Instrument, ja als Waffe benutzt wird, um Bildungsvorteile für die eigenen Kinder zu erreichen. Insofern darf man nicht übersehen, dass z. B. Akademikereltern ihr Elternrecht in teilweise sehr unterschiedlicher Form im Vergleich zu Eltern aus einem nicht-akademischen Milieu sehen und nutzen, selbst wenn es dabei vordergründig bei beiden Elterngruppen zumeist um Belange des allgemeinen Kindeswohls gehen mag und nicht immer erkennbar ist, wem (und welchen Kindern) welche Initiative oder Maßnahme mehr nützt als anderen.
Wenn sich also besonders Akademikereltern dafür stark machen, dass ihre Kinder die durch eine günstige Lernausgangslage bedingten Startvorteile im Rahmen der schulischen Bildung zu ihren Gunsten nützen (können), ist das aus deren »Interessenlage« durchaus nachvollziehbar. Ob es – bezogen auf die schlechteren (leistungsunabhängigen!) Bildungserfolgschancen – für den Rest der Kinder aus einem nicht-akademischen Umfeld auch gerecht ist, steht in der Regel auf einem anderen Blatt. Immerhin besteht aber diesbezüglicher Klärungsbedarf, ob und inwieweit die unterschiedliche Wahrnehmung von Elterninteressen mit realen Bildungsgerechtigkeitsproblemen verbunden ist, denen wir in diesem Buch genauer nachgehen wollen.

1.2 Bildung als Privileg?

Kommen wir noch einmal zurück auf das von Dahrendorf angesprochene Engagement von Akademikereltern, die es schaffen, ihren Kindern zu möglichst exklusiven Bildungslaufbahnen zu verhelfen, selbst wenn diese nur mäßige Bildungsleistungen vorweisen können. Hier geht es – so unsere These – im Kern um die Verteidigung einer traditionellen gesellschaftlichen Vormachtstellung des Bildungsbürgertums, das über den Zugang zu (höherer) Bildung seine ihm überwiegend angestammten (privilegierten) sozialen Positionen einschließlich des damit verbundenen gesellschaftlichen Ansehens absichern möchte. Eng verbunden ist damit der Anspruch, die sog. bildungsbürgerliche Kultur und den bürgerlichen Lebensstil als Vorbild und möglichst verbindlichen Maßstab für soziale Anerkennung und (schulischen) Bildungserfolg durchzusetzen. So werden die traditionellen bildungsbürgerlichen Normen und Werte nicht nur rhetorisch als unverzichtbar beschworen, sondern sie werden zugleich auch als allgemeiner Maßstab für das Erreichen von (privilegierenden) Titeln und (hervorgehobenen) sozialen Positionen verstanden.
Mit traditionellem Bildungsbürgertum sind jene Familien gemeint, deren Kinder noch bis Anfang der 1960er Jahre zu den rund 5 % eines Altersjahrgangs gehörten, die als Kinder des Bildungsbürgertums ihre schulische Allgemeinbildung »traditionell« mit dem Abitur abgeschlossen haben. Die Bildungsexpansion nach 1965 hat dann allerdings dazu geführt, dass das traditionelle Bildungsbürgertum seine über einen längeren historischen Zeitraum verteidigte Exklusivität verloren hat. Ist es doch in der Folge der Bildungsexpansion zu einer deutlichen Vergrößerung der Anzahl von Familien gekommen, deren Kinder die Schule mit dem Abitur abschließen und eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben konnten.
Selbst wenn in vielen dieser Familien das Abitur erstmals, also in der ersten Generation erworben werden konnte, veränderten sich dadurch die traditionellen bildungsbezogenen Interessenkonstellationen, die sich entsprechend auch in einer veränderten Wahrnehmung des Elternrechts niederschlugen. Gehörten doch nun (nach der Bildungsexpansion) erheblich mehr Eltern zu jener vergrößerten Gruppe von Familien, deren Nachwuchs sich mit Hilfe von höheren Bildungsabschlüssen als Nutznießer der veränderten Rahmenbedingungen beim Wettbewerb um möglichst exklusive Bildung fühlen konnte. Auch wenn nun für eine größere Anzahl von Personen relativ exklusive Chancen für den sozialen und beruflichen Aufstieg in Aussicht gestellt wurden, blieb es im Grundsatz dabei, dass (höhere) Bildung am wahrscheinlichsten für jene Kinder erreichbar war, deren Eltern (aus einer relativ privilegierten Situation heraus) in der Lage waren, ihre Bildungsinteressen entsprechend zu ihren Gunsten zur Geltung zu bringen (vgl. dazu ausführlicher Achinger u. a. 1980).
Mit der Bildungsexpansion war bei der Frage des privilegierten Zugangs zu mehr (höherer) Bildung eine historisch veränderte Interessenkonstellation entstanden. Die Bildungsaspirationen, die mit Hilfe eines verstärkten meritokratischen Moments beim Zugang zu Bildung im Zuge der Bildungsexpansion durchgesetzt werden konnten1, galt es nun auch für die nachfolgenden Generationen derjenigen Familien zu verteidigen, denen es gelungen war, für ihre Kinder erstmals Zugang zu höherer Bildung zu erlangen. Auch hier diente im weiteren Verlauf der Schulentwicklung das Elternrecht als Instrument für die Verteidigung entsprechender bildungspolitischer Interessen. Insofern finden wir neben dem traditionellen Bildungsbürgertum nunmehr Eltern, in deren Familien es keine längere Tradition als Akademikerfamilie gibt, die aber in Anbetracht der neuen Gegebenheiten als »neues« Bildungsbürgertum (das häufig auch als aufstiegsorientierte Mittelschicht bezeichnet wird) eigene Bildungsinteressen zu verteidigen haben und die (schulische) Bildung ihrer Kinder zu deren Vorteil in vergleichbarer Art zu beeinflussen suchen.
Bei der Wahrnehmung des Elternrechts durch das »neue« Bildungsbürgertum tauchen nun allerdings zusätzlich auch bildungspolitische Positionen auf, die auf eine Entmachtung der (zuvor dominierenden) traditionellen bildungsbürgerlichen Kultur als alleinigem Vorbild und exklusivem Maßstab für anerkennenswerten (schulischen) Bildungserfolg gerichtet sind (vgl. dazu Genaueres im Kap. 2). Gleichzeitig geht es dieser Elterngruppe aus dem »neuen« Bildungsbürgertum aber auch (in einer »heimlichen« Koalition mit der Elterngruppe des traditionellen Bildungsbürgertums) um die Verteidigung der vergleichsweise besseren Bildungschancen ihrer Kinder gegenüber den nachdrängenden »Massen« von Kindern, die sich bemühen, ebenfalls teilzuhaben an einer erstrebenswerten weiterführenden Bildung, die mit dem Versprechen besserer Berufschancen und höherer sozialer Anerkennung verbunden ist.
Negativ betroffen von diesen bildungspolitischen Entwicklungen sind auf der anderen Seite Elterngruppen, deren Familien als Verlierer der Bildungsexpansion angesehen werden müssen. Zu diesen Verlierern zählen jene inzwischen ca. zwei Drittel aller Familien in Deutschland, deren Kinder auch weiterhin mit Problemen beim Zugang zu höherer Bildung konfrontiert sind. Kinder aus diesen Familien sind beim verschärften Wettbewerb um (höhere) Bildung von Generation zu Generation immer wieder unterlegen und müssen auf die Vorteile verzichten, die sich aus dem Nachweis höherer Bildung ergeben. Zwar hat sich, seit Dahrendorf seine zitierte Beobachtung zu Papier gebracht hat und fast 50 Jahre vergangen sind, beim Wettstreit um mehr und bessere Bildung einiges verändert, aber es handelt sich dabei um graduelle, nicht aber prinzipielle Veränderungen. Die Bildungsstrategien mancher Eltern aus bestimmten sozialen Statusgruppen (die wir hier als traditionelles und neues Bildungsbürgertum bezeichnet haben) tragen somit auch weiterhin dazu bei, dass Bildung als gesellschaftliches Privileg angesehen werden muss, um das interessenbezogen gekämpft wird.

1.3 Bildungsferne als Stigma?

Auch am Beginn des 21. Jahrhunderts ist es eine inzwischen gut belegte Tatsache, dass es nach wie vor eine herkunftsbedingt ungleiche Bildungsteilhabe gibt. Der für Kinder aus den unteren sozialen Statusgruppen erschwerte Zugang zu Bildung wird mit dem Modewort »Bildungsferne« etikettiert, von der bestimmte Familien offenbar über Generationen hinweg betroffen sind. Die Exklusionsmacht, die mit höherer Bildung verbunden ist, ermöglicht auch weiterhin mehr oder weniger privilegierte bildungsbiographische Weichenstellungen, bei denen die soziale Herkunft und der Bildungshintergrund der jeweiligen Herkunftsfamilie maßgebend sind. Auch von den »Bildungsnahen« (ebenso wie im öffentlichen bildungspolitischen Diskurs) wird die soziale Vererbung von Bildungsnähe und Bildungsferne zwar »irgendwie« als ungerecht empfunden; aber die damit zum Ausdruck gebrachte Besorgnis trägt Züge von Scheinheiligkeit (Preisendörfer 2008). Denn heute wie damals (vor der Bildungsexpansion) spielt in der öffentlichen Debatte weniger das Ungerechtigkeitsempfinden, sondern eher die ökonomisch begründete Sorge eine zentrale Rolle, wenn dazu aufgefordert wird, die brachliegenden Bildungsreserven zu mobilisieren, die, so kann man immer wieder hören oder lesen, nicht verschwendet werden dürfen.
Erst in zweiter Linie geht es in der aktuellen Bildungsrhetorik auch um die Frage, wie Bildung für alle erreicht werden kann, die allen (bei entsprechenden Bildungsleistungen) zusteht und wofür die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Im Gegensatz zu den 1960er Jahren (also den Jahren vor der Bildungsexpansion) steht heute allerdings weniger das Glück der vielen einzelnen Subjekte und die Realisierung des Grundsatzes »Bildung ist Bürgerrecht« (Dahrendorf 1965) im Vordergrund der bildungspolitischen Debatte. Vielmehr geht es im Bildungsland Deutschland eher um die internationale Reputation eines Landes, das für sich in Anspruch nimmt und sich auf dem Weltkindergipfel 2002 dazu verpflichtet hat, »...eine kindergerechte Welt zu schaffen, in der die Grundsätze der Demokratie, der Gleichberechtigung, der Nichtdiskriminierung, des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit (...) die Grundlage für eine nachhaltige menschliche Entwicklung bilden« (BMFSFJ 2005). Die wegen ihrer vermeintlichen Bildungsferne nicht selten auch noch stigmatisierten Menschen werden vor einem solchen Hintergrund dann leicht zu einem »sozialen Problem«.
Bildungspolitisch wichtiger scheint derzeit vor allem die geringe Anzahl von Hochschulabsolventen als Ausdruck mangelhafter Eliteförderung zu sein, und die hohe Anzahl der Schulabgänger ohne Abschluss gelten als Belege für das Versagen des deutschen Bildungswesens und als beschämender Hauptgrund dafür, dass Deutschland von der OECD an den Bildungspranger gestellt werden konnte. Die immer wieder zum Ausdruck gebrachte Besorgnis und das Wohlwollen vieler Bildungsnahen gegenüber den Bildungsfernen ist deshalb nicht selten mit Herablassung und elitärer Bildungsdünkelhaftigkeit vergiftet, wodurch die Scham der ins Abseits gestellten Bildungsfernen durch Beschämung eher noch verstärkt wird2. Einerseits soll den Bildungsfernen in unserer Gesellschaft also mehr Bildungsnähe ermöglicht werden, aber de facto sorgen viele Bildungsnahe bei konkreten Reformmaßnahmen gleichzeitig dafür, dass entsprechende »Annäherungsversuche« der Bildungsfernen mit dem Ziel von mehr Bildungsnähe nicht in einen »ungesunden Bildungsdrang« ausarten (vgl. dazu Kap. 5).
Insofern sind Zweifel an der Ernsthaftigkeit des proklamierten Strebens nach mehr Bildungsgerechtigkeit nicht ganz unberechtigt. Beim erst 2006 verabschiedeten Gleichbehandlungsgesetz spielt z. B. die soziale Herkunft als Gleichbehandlungskriterium keine Rolle. Das vom Deutschen Bundestag beschlossene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) soll Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verhindern oder beseitigen. Herkunftsbedingte Benachteiligungen bleiben im Gesetzestext hingegen unberücksichtigt, was dazu führt, dass sich auch die Aktivitäten der Antidiskriminierungsstellen des Bundes und der Länder nicht explizit an dieser Form der Benachteiligung ausrichten.
In unserem Einführungsband geht es uns in Anbetracht dieser komplexen Problematik vor allem aus bildungssoziologischer Sicht darum, die strukturbildenden und strukturerhaltenden Mechanismen der immer noch nachhaltigen sozialen Selektivität im Feld des Bildungsgeschehens genauer zu beleuchten.

1.4 Bildung und gesellschaftliche Teilhabe

So wie von materieller Armut und materiellem Reichtum bzw. Einkommensarmut und Einkommensreichtum die Rede ist, wird seit einiger Zeit in Analogie dazu auch von Bildungsarmut und Bildungsreichtum gesprochen, um auf die hervorgehobene Bedeutung bildungsbedingter sozialer Ungleichheit hinzuweisen. Wie aber zeigen sich bildungsbedingte soziale Ungleichheiten? Hier wird zwischen relativer Zertifikats- und Kompetenzarmut im Vergleich zu entsprechendem Bildungsreichtum unterschieden. Wer z. B. die allgemeinbildende Schule ohne Abschluss verlassen hat, wird im Vergleich zu Absolventen »höherer« Bildungsgänge als bildungsarm bezeichnet, weil hier ein Fall von Zertifikatsarmut vorliegt. Entsprechend liegt bei jener sog. Risikogruppe von Schülerinnen und Schülern, die die unterste Kompetenzstufe in den PISA-Studien (z. B. bei der Lesekompetenz) nicht erreichen und damit als »funktionale Analphabeten« gelten, Kompetenzarmut vor (Allmendinger 1999; Allmendinger/Leibfried 2002), weil diese Schülerinnen und Schüler basale Kulturtechniken nicht beherrschen, die in modernen Gesellschaften als Grundvoraussetzung für eine befriedigende Lebensführung und eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben angesehen werden.
Der Tatbestand einer vorliegenden Bildungsarmut (als Ergebnis von zuvor abgelaufenen Bildungsprozessen) muss allerdings bereits im Vorfeld mit den ungleich verteilten Möglichkeiten des Zugangs zur Ressource Bildung und gleichermaßen mit der Bildungsverlaufsperspektive in Verbindung gebracht werden. Die viel diskutierte These von einer milieuspezifisch ausgeprägten sozialen Schließung des Zugangs zur Ressource Bildung besagt dabei, dass sich eine Gruppe von Personen auf Kosten anderer Vorteile verschafft (hat), so dass es zu Bildungsarmut bzw. Bildungsreichtum kommt, von der Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft unterschiedlich betroffen sind. Dass es neben der sozialen Herkunft auch andere, z. B. geschlechtsspezifische oder migrationsbedingte Einflussfaktoren gibt, die dazu beitragen können, dass es zu Bildungsarmut oder Bildungsreichtum kommt, soll bereits an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, auch wenn wir erst später darauf zurückkommen werden (vgl. Kap. 6 und 7).
Indem wir die Untersuchung von herkunftsbedingten Disparitäten beim Bildungserwerb zum Gegenstand dieses Buches machen, beschäftigen wir uns mit einem immer wieder nachgewiesenen Hauptdefizit des deutschen Bildungsgeschehens in Verbindung mit dem Anspruch, mehr Bildungsgerechtigkeit unabhängig von den vorhandenen sozialen Ausgangslagen zu ermöglichen, damit Beeinträchtigungen aufgrund von Bildungsarmut minimiert werden können. Kann doch von Bildungsgerechtigkeit erst dann gesprochen werden, wenn es möglich ist, die unterschiedlichen Voraussetzungen beim Bildungsgeschehen so auszugleichen, dass gleiche Chancen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auch wirklich gegeben sind.
Bei der wissenschaftlichen Untersuchung von Bildungsungleichheiten finden wir häufig eine getrennte Analyse von schulischen und außerschulischen Bildungszusammenhängen, die freilich – so ist aus unserer Sicht zu betonen – in einem engen Interdependenzverhältnis zueinander stehen. Während die Benachteiligung von Arbeiterkindern und Kindern mit Migrationshintergrund im Schulsystem relativ umfassend untersucht worden ist, gilt dies für die Möglichkeiten des außerschulischen Bildungserwerbs in weitaus geringerem Maß...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. 1 Einleitung: Die soziale Selektivität des Bildungsgeschehens als gesellschaftliches Konfliktfeld
  6. 2 Chancengleichheit im Bildungswesen – Konfliktlinien im historischen Rückblick
  7. 3 Bildung und soziale Ungleichheit: Begriffliche Klärungen und theoretische Perspektiven
  8. 4 Bildungserfolg und soziale Herkunft: Erklärungsmodelle für das Zustandekommen von Bildungsungleichheiten
  9. 5 Bildung und soziale Herkunft
  10. 6 Bildung und Migration
  11. 7 Bildung und Geschlecht
  12. 8 Bildung und soziale Ungleichheit – Resümée und Ausblick
  13. Literaturverzeichnis