1 Einführung
1.1 Implizites Wissen
Über die Praxis gutachterlicher Tätigkeit zu sprechen fällt den meisten Experten schwer. Praktisches Wissen oder Erfahrungswissen ist implizites Wissen (tacit knowledge). Wer keinen Anlass hat zu erklären, was er oder sie tut, beispielsweise in Weiter- und Fortbildung, kann selten erklären, was er macht. Die Transformation von implizitem in explizites Wissen ist eine zeitliche, kognitive und affektive Herausforderung. Auch uns ging dieses Explizieren nicht leicht von der Hand. Geholfen hat uns dabei unsere unterschiedliche Aus- und Weiterbildung – Psychologie-Studium, wissenschaftliche Tätigkeit und psychotherapeutische Weiterbildung die eine (LP), Medizin-Studium, langjährige klinische und wissenschaftliche Erfahrung, Weiterbildungserfahrung und gutachterliche Tätigkeit die andere (UHR). Geholfen haben uns weiter Bemühungen, unsere praktische gutachterliche Arbeit einander laut vorzutragen und zu kommentieren, als wisse die andere nicht, worum es dabei geht. Geholfen hat uns überdies, uns gegenseitig nach unseren Konzepten, Vorgehensweisen, Interpretationen und Schlussfolgerungen zu befragen und auf diese Weise unsere Denk- und Arbeitswege in Worte zu fassen. Wir haben uns gleichsam bei der (Denk-)Arbeit gegenseitig über die Schulter geschaut.
1.2 Explizieren
Wird eine implizit ausgeübte Tätigkeit neu zur Sprache gebracht, geht damit eine Verfremdung des Vertrauten einher. Und wie bei anderen, nicht vertrauten Tätigkeiten gelingt es in diesem Moment, selbstverständlich Gewordenes in neuem Licht zu betrachten, auf seine Tauglichkeit zu überprüfen und bei Bedarf anzupassen. Dieser Akt des Wiederbefremdens dient somit als Brücke vom impliziten zum expliziten Wissen. Häufig Wiederholtes, Selbstverständliches wird aus seiner Erstarrung gelöst. Es ist nicht mehr der einzig mögliche Weg, die einzige wahre Methode. Die gewählte Interpretation ist nicht mehr zwingend. Sie bedarf der Begründung. Warum gehen wir auf eine bestimmte Weise vor? Wie sind wir zu einer bestimmten Interpretation gekommen? Vertraute, aber bislang nicht oder nur bruchstückhaft in Worte gefasste Praktiken benannt zu hören, führt zum beschriebenen Verfremdungseffekt. Neben den Vorteilen löst dieser Akt Verunsicherung aus: Was mache ich da? Ist das überhaupt richtig? Müsste ich vielleicht etwas anders machen? Diese Verunsicherung ist nicht vermeidbar. Sie scheint der Grund dafür zu sein, dass manche erfahrene Gutachtende abwehrend reagieren, wenn es um die Explizierung der Praktiken geht. Dieser Zustand (letztlich) produktiver Verunsicherung ist schwer erträglich. Erst im Nachhinein wird er als unvermeidlich und als Voraussetzung für die fachliche Weiterentwicklung erkennbar. Im ersten Moment wird die Verunsicherung nicht kleiner, wenn sie mit anderen Praktiken, vermeintlich divergierenden methodischen Ansätzen und Interpretationen konfrontiert wird. Letztlich erweisen sich aber gerade sie als besondere Chance zu verstehen und sichtbar zu machen, wie wir arbeiten, und wie wir zu einem bestimmten Resultat kommen.
1.3 Ziel des Leitfadens
Auch wir haben diese Phase der Verunsicherung und der kritischen Rekapitulation durchgemacht. Daraus sind bereits im Vorfeld Anpassungen erwachsen (s. Hoffmann-Richter et al. 2012), die wir mit diesem Leitfaden noch weiter ausdifferenziert haben. Daraus wiederum ergaben sich über das erste Ziel hinaus – die Explizierung der Praxis – weitere Ziele:
• Alle Denk- und Differenzierungsarbeit, die neu expliziert wird, bedarf einer Sprachregelung, z. T. auch Verbalisierung. Dafür machen wir einen Vorschlag.
• Wir führen – für die Psychiatrie mehr oder weniger neu, für die Psychologie vertraut – formalisierte Instrumente ein.
• Wir schlagen eine an der Praxis orientierte Strukturierung des Einsatzes von formalisierten Instrumenten und Hilfsmitteln vor, die sich für unsere Praxis bewährt hat.
Der Leitfaden führt also nicht in eine grundsätzlich neue Form der Begutachtung ein. Die Basis ist das, was erfahrene Experten schon lange tun. Mit dem Akt der Explizierung aber wird fassbar, worin diese Praxis besteht. Sie wird lehr- und lernbar. Bemerkenswerterweise wird dadurch auch sichtbar, dass klinisch psychiatrische und psychologische Diagnostik komplementär sind, und auf welche Weise: Die psychiatrische Diagnostik steht in engem Bezug zum Alltag, ist aber wenig reliabel. Die psychologische Diagnostik bezieht sich auf testtheoretische Ansätze, sie ist hoch reliabel, ihre Ergebnisse sind aber nicht ohne weiteres auf den Alltag extrapolierbar (
Kap. 2.3). Hier wirkt die Explizierung der Praxis auf Theorie- und Methodendiskussion zurück. Die Praxis erweist sich als wichtige und bisher vernachlässigte Ergänzung zu Theorie, Methodologie und Methodik.
1.4 Bedeutung der Praxis
In akademischen Fächern, so auch in der evidenzbasierten Medizin und der klinischen Psychologie, ist das Praktische einer Tätigkeit – die praktische Seite, die Technik oder Praxis, von der wir in diesem Leitfaden sprechen werden – negativ konnotiert. Die Praktiker sind vermeintlich diejenigen, die es mit den Dingen nicht so genau nehmen, die sie der Spur nach betrachten, es mit der Arbeit an der Oberfläche genug sein lassen, die sich mit dem »bloß Praktischen« begnügen. Die Praxis hat aber noch eine andere Bedeutung: Keine Tätigkeit kommt allein mit Theorie oder Theorie und Methode, also ohne Praxis aus. Sie zu erkennen und zu begreifen bedarf es einer zusätzlichen Form von Erkenntnis. Die wissenschaftliche Erkenntnis im Sinne des Wissen-Wollens, »wie etwas gemacht ist, an sich, als Wesenserkenntnis« ist als wissenschaftliche Erkenntnis bekannt. Daneben bedarf es des Wissen-Wollens, »wie man etwas macht, um es zu reproduzieren, um etwas von der gleichen Art zu machen« (Barthes 2008, S. 46). Letzteres wird als Technik oder Praxis bezeichnet. Die Frage zu beantworten, wie man etwas macht, um es auf dieselbe Weise wiederholen zu können, ist der Beitrag der Praxis zur Reliabilität. Sie zu explizieren und sich an die bewährte und explizierte Vorgehensweise zu halten gehört zu einer der wesentlichen wissenschaftlichen Kardinaltugenden (Daston und Gallison 2007; Barthes 2008). Deshalb ist es uns ein Anliegen, für uns selbst und für andere bewusst zu machen und in Worte zu fassen – wir sprechen ab jetzt von Explizieren –, was wir tun, wenn wir gutachten (vgl. Hoffmann-Richter et al. 2012).
1.5 Formalisierte Instrumente
Zu dieser Praxis der psychiatrisch-psychologischen Begutachtung gehören so viele Methoden, Techniken und formalisierte Instrumente, dass kaum jemand alle beherrscht. Unseres Erachtens ist das auch nicht nötig. Wichtig zu wissen ist, mit welchen Verfahren man arbeitet, was sie leisten, was sie nicht leisten können, und welche Aussagen man auf ihrer Grundlage machen kann. Es geht uns also darum zu zeigen, welche Varianten des Vorgehens sich bewährt haben, welche Vor- und Nachteile sie haben, und wo ihre Grenzen liegen.
Weil es uns um die Praxis der psychiatrisch-psychologischen Diagnostik geht, werden wir nur ausgewählte formalisierte Instrumente und unsere Arbeit mit ihnen vorstellen können. Auch hier geht es uns nicht darum zu sagen, dass man genau mit ihnen und ausschließlich mit ihnen arbeiten muss. Die vorhandenen Verfahren sind von Ausnahmen abgesehen nicht primär für die Begutachtung entwickelt worden und nicht ideal. Mittel- und längerfristig wird es um das Ziel gehen, Verfahren auszuwählen, die sich – bei allen Grenzen und Schwächen – bewährt haben und so bekannt sind, dass die Ergebnisse samt auftretenden Problemen im Kollegenkreis diskutiert werden können und gegebenenfalls als Anregung für die Entwicklung weiterer formalisierter Instrumente dienen (vgl. Jokeit 2013).
1.6 Integrierte Diagnostik
Implizite Praktiken zu explizieren macht die ausgeübte Praxis fassbar. Für dieses Ziel, die Praxis gutachterlicher Tätigkeit – das implizite Wissen – zu explizieren (
Kap. 1.1 und
1.2), hätten wir uns gerne auf eine klare allgemeingültige theoretische Basis bezogen. Leider mussten wir feststellen, dass es diese nicht gibt. Schon innerhalb der klinischen Psychologie, die ja einen Schwerpunkt in der Diagnostik hat, gibt es keine durchgängige Systematik, auf die wir uns beziehen könnten. Dies trifft auch auf die Psychiatrie zu. Nach wie vor gibt es eine, wenn auch allmählich durchlässigere, Trennlinie zwischen klinisch psychiatrischer Diagnostik und der psychologischen mit dem Einsatz von formalisierten Instrumenten. Die alte Front zwischen Psychiatrie und Psychologie weicht einer Trennlinie zwischen psychologischen und psychiatrischen »Klinikern« auf der einen und »Wissenschaftlern« beider Fachgebiete auf der anderen Seite. Trennlinien bestehen daneben zwischen unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen. Auch hier stehen sich längst nicht mehr psychiatrische und psychologische Behandelnde gegenüber, sondern z. B. psychoanalytisch Ausgebildete gegenüber verhaltenstherapeutisch Ausgebildeten etc. Die Bemühungen um eine integrierte oder allgemeine Psychotherapie
nehmen zu. Die Annahme, dass die theoretische Ausrichtung, in der ein gutachterlicher Experte sozialisiert wurde, über die Zuverlässigkeit gutachterlicher Aussagen entscheidet, ist falsch. Bereits 1995 hat Konrad gezeigt, dass Divergenzen in der Beantwortung der Kernfragen eines Gutachtenauftrags nicht an einer psychiatrischen »Richtung« oder »Schule« liegen, sondern in erster Linie an vielerlei Qualitätsdefiziten, die sich u. a. auch in der Differenziertheit des Umgangs mit der Fragestellung manifestiert (Konrad 1995 – in Übereinstimmung mit früheren: Pfäfflin 1978; Maisch und Schorsch 1983 – und späteren Untersuchungen, z. B. Pizala 2011).
Für die Praxis der Begutachtung sinnvoll und notwendig ist der Ansatz einer integrierten Diagnostik. Zu ihr gehört die Basiserhebung von Anamnese und Befund mit Hilfe der Aktenanalyse, der eingehenden Exploration, der zeitnahen körperlichen Untersuchung und der Erhebung des psychopathologischen Befundes. Sie dienen der Heuristik, also der Eingrenzung der Differenzialdiagnostik und der offenen Fragen und Diskrepanzen im Hinblick auf die Fragestellung. Die vertieften Erhebungen richten sich nach der Fragestellung. Sie entscheidet darüber, zu welchen Themen, und auf welche Weise die Exploration vertieft werden muss, und welche Verfahren zum Einsatz kommen. Wichtig ist die bewusste und kritische Entscheidung für das jeweilige methodische Vorgehen und der gezielte Einsatz der jeweiligen formalisierten Instrumente, der Prüfung ihres Nutzens angesichts des Auftrags und der Fragestellung und die kritische Reflexion der erwartbaren Ergebnisse. Wenn man die jeweilige Indikation, die Stärken und Schwächen eines Instrumentes kennt und weiß, welche Aussagen aufgrund der Auswertungen möglich sind und welche nicht, ist man schon einen großen Schritt weiter. Ein Irrtum wäre die Annahme, dass formalisierte Instrumente die Exploration ersetzen könnten. Nicht in jedem Falle sind sie einsetzbar, und nicht immer führt ihr Einsatz zu neuen Erkenntnissen. Bei klarer Indikation liefern formalisierte Instrumente Informationen, die durch keine andere Methode zugänglich sind. Und sie tragen wesentlich zur Verlässlichkeit gutachterlicher Aussagen bei. Deshalb möchten wir mit diesem Leitfaden bisher primär klinisch psychiatrisch ausgerichtete Experten zur Verwendung von formalisierten Instrumenten ermuntern, und deren sinnvollen Einsatz exemplarisch und mit klarem Praxisbezug konkret aufzeigen. Bislang primär psychologisch diagnostisch ausgerichtete Expertinnen möchten wir ermuntern die klinischen (psychiatrischen) Seiten ihrer Tätigkeit ebenso aufmerksam zu nutzen und zu reflektieren, wie sie dies mit den formalisierten Instrumenten zu tun gewohnt sind.
Die Gliederung des Leitfadens orientiert sich am praktischen Ablauf der Begutachtung. Das Vorgehen werden wir jeweils an Beispielen erläutern.
1.7 Notwendige Sprachregelungen und Verbalisierungen
Bisher existiert keine einheitliche Systematisierung und entsprechend gibt es keine einheitliche Definition der Untersuchungsmethoden, weder in der Psychiatrie noch in der klinischen Psychologie, auf die wir zurückgreifen könnten. Daher bedarf es einer Sprachregelung. Wir werden sie so einfach wie möglich halten. Folgende Begriffe werden wir ab jetzt verwenden:
Die Begriffe
Praxis und
Explizieren haben wir bereits vorgestellt (
Kap. 1.4).
In der Begutachtung treffen Rechtsbegriffe auf Definitionen aus Psychologie und Psychiatrie. Dabei kommt es immer wieder vor, dass ein und derselbe Begriff im einen Fachgebiet, beispielsweise in der Psychologie, etwas anderes meint als in im Rechtsbereich. Weil die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Begutachtung ausschlaggebend sind, müssen psychiatrisch-psychologische Definitionen davon unterscheidbar sein. Im Sozialversicherungsbereich fokussiert ein erheblicher Teil gutachterlicher Aufträge auf die Beurteilung der Leistungsfähigkeit. Im weiteren Sinne kann die Leistungsfähigkeit rechtlich als übergeordneter Begriff einer ganzen Reihe von Begriffen verstanden werden, die nicht nur national (in Deutschland (D), der Schweiz (CH) und Österreich (A)) unterschiedlich definiert sind, sondern sich auch innerhalb der nationalen Gesetzgebung in den einzelnen Rechtsbereichen unterscheiden. Dies betrifft insbesondere die Arbeitsfähigkeit, die Erwerbsfähigkeit und die Berufsfähigkeit. Zur Begriffsklärung sei auf Hoffmann-Richter et al. 2012 verwiesen. Wegen der Schwierigkeiten, die durch die unterschiedlichen Definitionen entstehen können, sprechen wir von Übersetzungsarbeit (vgl. Hoffmann-Richt...