Kapitel 1
Monodisziplinäre Begriffsklärungen und Forschungsstand
Monodisziplinarität bedeute, dass unterschiedliche Disziplinen das Phänomen „Herausforderndes Verhalten“ bei Personen mit demenziellen Veränderungen behandeln, aber jeweils vom eigenen Standpunkt und der eigenen Perspektive aus, mit eigener Sprache und Logik. Somit können unterschiedliche Facetten der gleichen Realität nebeneinander verdeutlicht werden. Die beteiligten Bezugsdisziplinen arbeiten nebeneinander, agieren getrennt und konfrontieren mit unterschiedlichen Sichtweisen über das Phänomen. Diese können sich manchmal ergänzen, sich gegenseitig bestätigen, manchmal aber auch widersprechen.
1.1 Medizinisch-psychologisch
Aus medizinischer Sicht zeichnet sich die Demenzerkrankung durch degenerative Gehirnunordnungen, mit einem globalen und irreversiblen kognitiven Niedergang von Gedächtnis, Lernen, exekutiven Funktionen, Sprache, Aufmerksamkeit und visuospatial geistigen Funktionen, aus (vgl. Moses et al. 2004). Dies führt bei einem Menschen zu enormer Abhängigkeit und Begrenzungen. Demenztypische Verhaltensweisen werden in der internationalen medizinischen und psychologischen Literatur mit der Abkürzung BPSD (Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia) „verhaltensbezogene und psychologische Symptome der Demenz“ bezeichnet (vgl. Brodaty et al. 2001).
Darunter werden Symptome gestörter Wahrnehmung, Gedankeninhalte, Stimmungen oder gestörten Verhaltens, die bei den Betroffenen häufig vorkommen, subsumiert (vgl. Finkel 1998). BPSD ist ein deskriptiver Begriff und stellt keine diagnostische Kategorie dar (vgl. Lawlor 2002). Durch Befragung der Personen oder ihrer Angehörigen werden eher psychische Symptome konstatiert, wie z. B. Angst, Halluzinationen, Wahn, depressive Stimmungslage (vgl. Steeman et al. 2004 : 174). Durch Beobachtungen von Pflegenden werden u. a. körperliche Aggressionen, Schreien, Erregung und zielloses Umherwandern wahrgenommen. Nach Füsgen sind psychische Störungen regelhaft anzutreffende Begleitphänomene demenzieller Abbauprozesse (vgl. ebd. 2001 : 49).
Bei vielen Autoren ist aggressives Verhalten mit Abstand das am häufigsten auftretende BPSD (vgl. Schröder 1998). In der Bezugswissenschaft Medizin werden herausfordernde Verhaltensweisen bei Demenz auch unter den „Nicht-kognitiven-Symptomen“ (vgl. Moniz-Cook 1998) bzw. Neuropsychiatrische Subsyndrome (vgl. Bauer et al. 1993; Hermann et al. 2007) eingeordnet.
Das psychiatrische Klassifikationssystem, das diagnostische und statische Manual psychischer Störungen (DSM-IV) der Amerikanischen Psychiatric Association (1996) nimmt den Begriff „klinisch auffällige Verhaltensstörungen“ auf. Aus der Perspektive eines Facharztes für Psychiatrie/Gerontopsychiatrie kann diese Klassifizierung bedeutsam sein, um psychopathologische Symptome abzubilden.
Im englischen Sprachraum werden die Begriffe difficult, behavioural disturbance, disruptive behaviour, dysfunctional behaviour, disordered behaviour, inappropriate, problematic behaviour und non-cognitive symptoms verwendet, um Verhaltensweisen zu beschreiben, die im pflegerischen Umgang als problematisch gelten. Die Begriffe implizieren einen intrinsischen Ursprung des Verhaltens, d. h. verursacht durch die demenziell veränderte Person selbst. Umgebungseinflüsse als Auslöser werden hierbei weniger in Betracht gezogen (vgl. Moniz-Cook 1998).
Im Gegensatz zu der Kategorie von aktiv gezeigten Verhaltensweisen gibt es eine weitere Kategorie, die sich in apathischem und passivem, willfährigem Verhalten der Patienten äußert. Zurückhaltende und stille Verhaltensweisen der Patienten fordern Pflegeexperten weniger heraus und werden bei der täglichen Versorgung weniger belastend empfunden (vgl. Höwler 2008 : 68). Die Symptome können bei demenziell veränderten Menschen als Dekompensation, d. h. als „Rückzug“ interpretiert werden (vgl. Vernooij 2001 : 50). Die beobachtbaren Symptome haben Ähnlichkeiten mit denen einer Depression: Geringe Bewegungsaktivitäten, über längere Zeit geschlossene Augen, Mutismus, erhöhtes Schlafbedürfnis, geringes Selbstwertgefühl. Die Betroffenen erfahren persönliche Begrenzung, lassen sich emotional und sozial unschwer ansprechen und können zielorientierte Bedürfnisse und Aktivitäten nicht eigenständig ausdrücken. Durch fehlende Ansprache von Seiten der Pflegenden, im Zusammenhang mit eingeschränkter Mobilität, kann sich das apathische Verhalten in kürzester Zeit verstärken (vgl. Cohen-Mansfield et al. 1986a).
Der Begriff „Agitiertheit“
Die Psychiaterin Cohen-Mansfield und Mitautoren verwenden den Begriff „Agitiertheit“ synonym für BPSD. Agitiertheit stellt innerhalb BPSD eine Kategorie von Verhaltenssymptomen dar (vgl. ebd. 1986a, 1986b, 1989b, 2003). Cohen-Mansfield zählt aggressives Verhalten, körperlich nicht aggressives Verhalten und verbale Agitation zu agitationsähnlichen Syndromen. Ihre Definition lautet: Agitiertes Verhalten wird verstanden als eine unangemessene verbale, vokale oder motorische Aktivität, die sich dem Beobachter nicht direkt durch die Bedürfnisse oder die Verwirrung der agitierten Person erklärt, z. B. zielloses Wandern, Fluchen, Schreien, Beißen und Schlagen (vgl. Cohen-Mansfield et al. 1989c : 77). Im Glossar DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wird Agitiertheit wie folgt definiert:Übermäßige motorische Aktivität, die mit einem Gefühl innerer Anspannung einhergeht. Die Aktivität ist in der Regel unproduktiv und wiederholt sich ständig. Sie zeigt sich in Verhaltensweisen wie Hin- und Herlaufen, Zappeln, Händeringen, Zerren an den Kleidern und Akathisie (Sitzunruhe) (vgl. Saß et al. 1996). Im DSM-IV werden die Begriffe Unruhe, Erregung und psychomotorische Unruhe synonym verwandt. Diese Definition geht von der betroffenen Person aus, die das Phänomen zeigt, und blendet Wechselwirkungsprozesse zwischen Interaktionspartnern aus. Es werden sechs Eigenschaften einer Agitation identifiziert (nach Cohen-Mansfield 2003):
- Sie umfasst eine Reihe verschiedener Verhaltensformen;
- wird vom Betrachter bewertet;
- die Verhaltensweise muss nicht „störend“ sein;
- tritt nicht nur bei Personen mit demenziellen Veränderungen auf;
- ist nicht unbedingt ein Krankheitssymptom von Demenz;
- kann als Verhalten ohne emotionale Ursache betrachtet werden.
Die Klassifizierung von agitiertem Verhalten basiert nach Cohen-Mansfield et al. (1986a) auf der verbalen oder physischen Art des Verhaltens und seinem aggressiven Charakter. Somit können Verhaltenssymptome in vier Kategorien mit ihren Subkategorien beobachtet werden (nach Cohen-Mansfield et al. 1986b : 712f.):
- aggressives-körperliches Verhalten: Schlagen, Kratzen, Treten, Beißen, Werfen von Objekten; selbstschädliche Handlungsweise,
- aggressives-verbales Verhalten: Schreien, Fluchen, Gereiztheit,
- nonaggressives-körperliches Verhalten: Zerstörung von Gegenständen, grundloses Anziehen und Auskleiden, körperlich sexuelle Anzüglichkeiten, Dinge horten und verstecken, absichtliches Fallenlassen, zielloses Herumwandern, Akathisie,
- nonaggressives-verbales Verhalten: Negativismen, Einfordern von Aufmerksamkeit, Jammern, Klagen, Reklamieren, verbale Rechthaberei, ständiges Fragen oder Rufen, verbale sexuelle Anzüglichkeiten, repetitive Lautbildungen.
Die vier Kategorien schließen sich nicht gegenseitig aus, da bestimmte Verhaltensweisen in mehreren Kategorien auftreten können. Agitierte Verhaltenskategorien sind von der Bereitschaft zu aggressivem Verhalten zu unterscheiden. Aggressivität stellt ein Persönlichkeitsmerkmal dar, während Aggression für die gezeigten Verhaltensweisen steht (vgl. Hillenbrand 2006 : 175). In der Querschnittstudie von Heeren et al. (2003) wird unterstützt, dass Agitiertheit ein komplexes Konstrukt ist.
Somit wird mit dem Begriff „Agitiertheit“ eine Gruppe von Symptomen, eher im Sinne eines unspezifischen Symptomenkomplexes als eines diagnostischen Terminus beschrieben. Agitiertheit dient als eine Form der Kommunikation bei Verlust der Kontrolle (vgl. Cohen-Mansfield et al. 1996). Kontrolle ist das Gegenteil von Hilflosigkeit, d. h. Personen sind davon überzeugt, dass sie kontrollierend in ihre Umgebung eingreifen und Einfluss nehmen können. Personen mit starker Kontrolle betonen die Selbstverantwortlichkeit ihres Handelns in einer Situation und die Möglichkeit, durch ihre selbstbestimmten Aktivitäten negative Auswirkungen von Belastungen zu reduzieren (vgl. Brandtstädter et al. 1994). Zunahme verbaler Agitiertheit muss nicht immer negativ sein und kann auf eine erhöhte soziale Interaktion hinweisen, was wiederum ein positives Resultat einer Intervention sein kann (vgl. Steeman et al. 2004 : 182, 187).
In ihrem Review stellen Cohen-Mansfield et al. (1986b) fest, dass in den meisten Untersuchungen psychosoziale Zusammenhänge zwischen den einzelnen agitierten Verhaltensweisen aufgezeigt werden konnten. Das Phänomen kann erst dann als Agitation gewertet werden, wenn deren Ursache nicht gleich ersichtlich ist. Aus dieser Begründung heraus wird der psychiatrische Begriff „Agitiertheit“ in diese Untersuchung mit aufgenommen. Unter dem Begriff subsumieren Cohen-Mansfield et al. (1986b) mehr aggressive Verhaltensweisen.
Der Aggressionsbegriff
Das lateinische Wort „agere“, „aggredior“= handeln, antreiben, aufregen, nähern, jemanden gewinnen, aufreizen, angreifen, anfallen, überfallen, gibt Aufschluss über die Wortherkunft für den in der Fachdisziplin (Geronto)psychiatrie gebräuchlichen Begriff, der oftmals synonym für herausforderndes Verhalten verwendet wird (vgl. Glaus-Hartmann 2000 : 227). „Aggression“ ist ein komplexes Phänomen; es stellt ein Konstrukt mit unterschiedlichen Konnotationen dar. Es wird versucht, alle gewaltsamen Handlungsweisen, die qualitativ ähnlich sind, darunter begrifflich zu erfassen (vgl. Petermann 1998). Einige Autoren fassen unter dem Begriff ein Verhalten, mit dem die direkte oder indirekte Schädigung eines Individuums intendiert wird (vgl. Barron et al. 1981; Brandtstädter et al. 2007). Aggressives Verhalten ist eine offene Tat, die ein schädliches Stimulus (psychisch oder psychologisch) einschließt. Die Tat ist in der Regel auf ein anderes Objekt (z. B. Zerstören des Eigentums), auf einen Organismus (Schlagen einer Person) oder auf sich selbst gerichtet (Selbstkörperverletzung). Die Tat kann vom Betroffenen mit Absicht oder unbewusst ausgeführt werden (vgl. Patel 1993). Aggressives Verhalten kann nach Attributionen eingeteilt werden (nach Cohen-Mansfield 1991 : 3):
- es kann auf die zwischenmenschliche Ebene gerichtet sein, d. h. beleidigend gegenüber anderen Personen oder verletzend gegenüber sich selbst sein,
- es kann nicht transitiv sein, d. h. auf die soziale Umgebung durch die Frequenz störend einwirken (z. B. Schreien),
- es kann sozial unpassend in einer bestimmten Situation sein (z. B. Entkleiden während der Mahlzeitenaufnahme) und
- kann schließlich auf leblose Objekte abzielen.
In lernpsychologischen Experimenten und Studien wird Aggression als ein Verhalten bestätigt, das erlernt bzw. durch den familiären und sozialen Kontext bedingt und aufrecht erhalten wird (vgl. Frick et al. 1992). Die Studie von Frick belegt, dass Aggression das stabilste Sozialverhalten des Menschen darstellt. Aggressive Verhaltensweisen eines Menschen haben immer Ursachen und Beweggründe, die in persönlichen Charakteristiken, Verhalten von Interaktionspartnern und Umweltmilieu zu finden sind. Hat ein Mensch in seiner Erziehung ein überprotektives, entwertendes, kontrollierendes, gewaltvolles oder missbrauchendes Milieu kennengelernt, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit Interaktionsmuster entwickeln, welche von Aggressionen geprägt sind. Oftmals werden aggressive Verhaltensstrategien im Erwachsenenalter beibehalten (vgl. Noeker et al. 2008). Ein gewisses Aggressionspotenzial ist Bestandteil einer normalen Bewältigungsstrategie und trägt zum seelischen Gleichgewicht und zur Erhaltung des Selbstwertgefühls bei. Aggression kann als normale, zielorientierte, nicht feindselige Reaktion bezeichnet werden. Sie ist gleichzeitig ein positiver, physiologischer Bestandteil der Persönlichkeit und beinhaltet u. a. Durchsetzungswillen (vgl. Hillenbrand 2006 : 175).
Aggressives Verhalten lässt sich als dieses erst bezeichnen, wenn eine Person in mehreren Situationen über eine längere Dauer (mindestens 6 Monate) in störender Weise auf seine Umwelt mit großer Häufigkeit einwirkt (vgl. Hillenbrand 2006 : 175).
Aggressive (agitierte) Verhaltensweisen können unter psychodynamischen Aspekten, unter dem Zusammenspiel von Persönlichkeitsmerkmalen, Bewusstsein, Unbewusstsein und einer Situation ausgelöst werden und gestalten sich, wie oben erläutert, konträr.
Unterschiedliche Ansätze versuchen die Entstehung von aggressiven Verhaltensweisen zu erklären. So geht die Frustrations-Aggressions-Hypothese von Dollard und Miller (vgl. ebd. 1941, 1950) davon aus, dass jede Aggression auf einer Frustration basiert. Eigenes Versagen, verursacht durch den demenziellen Prozess, Entbehrungen psychischer und physischer Bedürfnisse, Bedrohungen durch Verkennungen von Pf...