Begegnung mit dem Fremden
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Begegnung mit dem Fremden

Zur Psychotherapie, Philosophie und Spiritualität menschlichen Wachsens

  1. 178 Seiten
  2. German
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Begegnung mit dem Fremden

Zur Psychotherapie, Philosophie und Spiritualität menschlichen Wachsens

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

The work offers an extensive developmental overview and presentation of philosophical, anthropological and spiritual dimensions of mental diseases. In linking these to concrete psychotherapeutic practice the work reaches further than a primary clinical perspective.The focus lies on the contemporarily important afflictions such as burnout and narcissistic disorders as well as ways leading out of crises to enable necessary human development.

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Information

Jahr
2011
ISBN
9783170274846
Auflage
1

1 Voraussetzungen menschlichen Wachsens

Zunächst wird dargelegt, weshalb der Mensch überhaupt in der Situation des Wachsens steht. „Voraussetzung“ ist in diesem Sinne gemeint: Was ist dem Wachstum voraus gesetzt? Was veranlasst unser Wachsen? Wodurch zeichnet sich unser Wachsen grundsätzlich aus? Welche Elemente gehören notwendig dazu?

1.1 Conditio humana: Differenzierung und Verzeitlichung

Mit dem Begriff „conditio humana“ soll etwas Grundsätzliches über die menschliche Situation ausgesagt werden. Dazu gehören Differenzierung und Verzeitlichung. Das Basale ist auch das Banale, weil es einem ja immer schon gegeben und prima vista klar ist. Da stellt sich zu Recht die Frage: Was bringt es, sich damit auseinanderzusetzen? Ist es mehr als eine philosophische Selbstgefälligkeit? Alles, was in diesem Buch besprochen wird, hat Differenzierung und Verzeitlichung als Voraussetzung. Sie sind das Fundament und verdienen deshalb Interesse. Aber auch für die Psychotherapie wirft die Auseinandersetzung damit bereits einen Gewinn ab. Welche Veränderungsschritte uns auch immer gelingen oder misslingen, sie sind von vorübergehender Natur, weil der Prozess von Differenzierung und Verzeitlichung unvermeidlich weitergeht. Diese Einsicht fördert die Akzeptanz dessen, was im eigenen Leben momentan ist oder nicht ist.

1.1.1 Das Eine und das Viele

Erkennen wir etwas, unterscheiden wir es von anderem. Auch wenn wir Erfahrungen machen, Erlebnisse haben oder Handlungen ausführen, sind es diese und eben nicht andere. Immer gibt es das Viele, wovon wir ein Einzelnes situativ auswählen und es durch Abgrenzung identifizieren. Identifikation und Differenz gehören zusammen.
Als Beispiel dient das Selbsterleben des Neugeborenen, wie es die Psychoanalyse in Kombination mit der Säuglingsbeobachtung darlegt. Freuds (1914) Idee des primären Narzissmus, der ausschließlichen Selbstbezogenheit zu Beginn des Lebens, ist überholt. Die Theorie hat sich in vielen Etappen weiter entwickelt. Eine breite Aufmerksamkeit fanden Mahlers (1968) Ideen zu Symbiose und Separation. Der Säugling erlebt sich anfänglich in der Symbiose mit der Mutter und mit der Zeit individuiert er sich durch schrittweise Separation. Hier ist es das Individuationsprinzip, das Selbsterleben und Identität bewirkt. Die Differenzierung von der Mutter führt zur eigenen Identität. Stern (1985) hat später die Symbiose durch die primäre Intersubjektivität ersetzt. Das Erleben des Säuglings ist von Beginn an als Selbst- und Zusammensein differenziert. Es entsteht überhaupt auf diese Weise und die Identität bildet sich durch den Vorgang der wechselseitigen Differenzierung von Zusammen und Selbst. Es ließe sich nun dennoch fragen: Spürt der Neugeborene zuerst das Selbstsein oder Zusammensein? In der Mahlerschen Auffassung wäre es das Zusammensein, die Symbiose und erst nachher das separierte Selbstsein. Die Frage ist aber falsch gestellt und passt nicht zu Sterns Idee der primären Intersubjektivität. Der Differenzierungsvorgang von Selbst- und Zusammensein weist keinen Anfang auf, vielmehr ist das eine nur durch die Abgrenzung vom anderen.
Stern vertritt hiermit ein neues Denkmuster, das sich auch in der aktuellen Philosophie findet. Einen anfänglichen Seinsbestand gibt es nicht. Der Prozess des Differenzierens ist von Beginn an da. Derrida (1972) verwendet für dieses unhintergehbare Grundgeschehen den Begriff différance, als Neologismus mit einem „a“ geschrieben, um das Unvergleichliche auszudrücken. Immer wird etwas Neues konstruiert und Bisheriges destruiert, es läuft eine andauernde Dekonstruktion ab. Der Differenzierungsvorgang ist notwendig mit Erschaffen und Zerstören verbunden, er ist somit eine schöpferische Zerstörung. Auch das menschliche Wachsen ist ein dekonstruktiver Ablauf, in dem Aufbau und Abbau einander bedingen. An sich hat der Grundgedanke der Unbeständigkeit eine lange Vorgeschichte. Bekannt geworden sind unter anderem das „panta rhei“, das „alles fließt“ des Vorsokratikers Heraklit und Hegels dialektisches Fortschreiten, wonach jeder These eine Antithese folgt, die sich in der Synthese auflösen, bevor der Prozess wieder von vorn beginnt.
Mit der Einsicht in die fließende Mannifaltigkeit ist das Eine noch nicht erfasst. Aufgrund der basalen Dekonstruktion ist klar, dass es sich beim Einen um etwas handeln muss, zu dem wir Menschen keinen direkten Zugang haben. Auf das Transzendenzthema wird in den weiteren Überlegungen noch vertieft eingegangen werden. Vorbereitend soll hier die Frage gestellt werden, wie sich das Eine und das Viele zueinander verhalten. Handelt es sich auch um ein dekonstruktives Geschehen, um eine thetisch-antithetische Wechselwirkung? Das überzeugt nicht, da so das Eine zu einem Einzelnen innerhalb der Vielfalt verkäme. Die grundlegende Verschiedenheit muss bewahrt werden, Heidegger (1926) spricht von der ontologischen Differenz zwischen dem Einen und dem Vielen, zwischen dem Sein und dem Seienden. Dies darf allerdings nicht als Bezugslosigkeit zwischen dem Einen und dem Vielen angesehen werden. Der hinduistisch-vedische Begriff Advaita ermöglicht ein vertieftes Verständnis. Er besagt „Zweitlosigkeit“ oder Nicht-Zweitheit, d. h. wenn man vom Einen und vom Vielen spricht, so geht es weder um ein letztlich doch Identisches noch um ein klar Differentes, weder um eins noch um zwei, sondern eben um „nicht zwei“. Spricht man in den westlichen Religionen von der „Transzendenz in der Immanenz“, meint man etwas Ähnliches: Das Transzendente ist im Immanenten und ist es nicht, es bleibt auch als Immanentes transzendent und unfassbar. Die Auffassung der Advaita wird uns noch wiederholt beschäftigen.
Das Denkmuster der Nicht-Zweiheit bereichert das Verständnis der menschlichen Entwicklung. Wenn ich mich weiterentwickle, wenn ich wachse, muss ich mich nicht damit zufrieden geben, dass ich mich ständig verändere und in einem dekonstruktiven Geschehen stecke, sondern darf dies – wenn ich will – als Ausdruck eines Ganzen sehen. Ich kann das Ganze zwar nicht erfahren und es ist nicht direkt als mein Wachsen fassbar, aber es ist auch nicht verschieden davon. Das Verhältnis zwischen dem Wachsen und dem Ganzen ist eine Nicht-Zweiheit.

1.1.2 Objektive und subjektive Zeit

Auf der Zeitachse ist die Differenzierung die Verzeitlichung1. Das Ewige ist uns unbekannt. Gemäß alttestamentlicher Genesis ist es uns mit der Vertreibung aus dem Paradies verloren gegangen. Die Interpretationen dieser Bestrafung Gottes sind vielfältig. Eine zeigt die Verknüpfung von Differenzierung und Verzeitlichung auf: Indem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse aßen, machten sie den Schritt ins Differenzieren. Auf der ethischen Ebene waren jetzt Gut und Böse entstanden und voneinander getrennt. Das vorher ethisch Undifferenzierte hat sich durch die Aufteilung verändert und mit dieser Veränderung war die Zeitachse eingeführt, denn der Differenzierungsvorgang impliziert ein Vorher und Nachher und damit eine Verzeitlichung. Mit dem Essen vom Baum der neuen Erkenntnis ging Adam und Eva – und damit den Menschen – die paradiesische Ewigkeit verloren. Die Verzeitlichung ist die Bestrafung Gottes.
Das gemeine Zeitverständnis ist das naturwissenschaftliche: Die Zeit entspricht einer Abfolge von Jetztpunkten. Sie ist ein objektiver, neutraler Ablauf ohne Bezug zum Erleben. Auch in der Psychotherapie ist diese Perspektive der objektiven Zeit die spontan gegebene, sie ist das lineare Raster sowohl für die Vergangenheits- wie auch die Zukunftsarbeit. Die subjektive Zeit ist aber für die psychotherapeutische Arbeit von größerem Nutzen. Bei der subjektiven Zeit geht es nicht mehr um die Abfolge von Jetztpunkten, sondern jeder Jetztpunkt entspricht einem Paket aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Zeitmodi sind phänomenologisch zu verstehen2. Vergangenheit ist, was ich jetzt als vergangen erfahre, und Zukunft, was ich jetzt als zukünftig sehe. Morgen werden Vergangenheit und Zukunft anders sein. Jede therapeutische Zukunfts- und Vergangenheitsarbeit findet in diesen phänomenologischen Zeitmodi statt. Wir können in unseren Erinnerungen beliebig weit zurückgehen, immer ist das subjektive Zurückgehen verhaftet im momentanen Jetztpunkt. In der objektiven Zeit können wir nicht zurückgehen. Sie ist die Linie, auf der die subjektive Zeit verankert ist und an ihr entlang unumkehrbar weiterschreitet und sich dabei fortlaufend verändert. Dies betrifft auch Fakten, die sich zwar nicht in ihrem objektiven Tatbestand, aber in ihrer Bedeutung und Wertigkeit weiterentwickeln. Für die Psychotherapie ist es gut, sich bewusst zu machen, dass es diese zwei Zeitmodi gibt, einerseits den objektiven Zeitfluss von Geburt bis Tod und anderseits das momentane subjektive Erfahren von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die subjektive Zeit wird von den objektiven Einflüssen vorbereitet und mitgestaltet, aber von uns selber geschaffen. Hier zeigt sich eine Verknüpfung von objektiver und subjektiver Zeit, die von Freud (1895) in seinem Frühwerk analysiert wurde. Später wurden diese Gedanken wieder aufgegriffen und theoretisch weiter ausgearbeitet, unter anderem auch von Derrida. Der Kerngedanke ist, dass unser Erleben einer prinzipiellen Nachträglichkeit und einem prinzipiellen Aufschub unterworfen ist. In der Freudschen Terminologie lässt sich die Nachträglichkeit so beschreiben: Die äußeren Einflüsse hinterlassen in uns Zeichen des Wahrgenommenen, die Wahrnehmungszeichen. Sie sind eine erste Niederschrift in uns, die ersten Spuren der äußeren Einflüsse. Sie sind noch nicht bewusstseinsfähig und entsprechen eher einer Art neurologischer Eingravierung. Um bewusst werden zu können, müssen die Wahrnehmungszeichen in Erinnerungsspuren übersetzt werden3. Die Übersetzung wird nie vollständig gelingen, es bleibt immer eine Differenz zwischen Wahrnehmungszeichen und Erinnerungsspuren bestehen, da die Übersetzungen subjektive Interpretationen sind, die durch neue Erfahrungen und die Entwicklung des Übersetzers, der Psyche, fortlaufend verändert werden. Die subjektive Vergangenheit, die Erinnerung, hinkt der objektiven Vergangenheit, dem tatsächlich Vorgefallenen somit notgedrungen hinterher. Aus dieser Nachträglichkeit ergibt sich auch der uneinholbare Aufschub in unserem Erleben. Da Neulektüre und Neuschreibung der Eingravierungen nie zum Abschluss kommen, entgleitet die definitive und endgültige Lektüre fortwährend in die Zukunft. Das noch nicht Erinnerte in den Eingravierungen fließt dabei in unsere Zielsetzungen und eine Zielerreichung im Sinne einer Übereinstimmung von Erinnerungsspuren und Wahrnehmungszeichen tritt nicht ein. Das angestrebte deckungsgleiche Erleben bleibt auf der objektiven Zeitachse aufgeschoben, auch wenn wir uns im subjektiven Zeiterleben ein solches vormachen sollten. In der Denkart Derridas ist es die „différance“ selber, die auf der Zeitachse die Nachträglichkeit und den Aufschub notwendig hervorbringt, sodass „Ausführung oder Erfüllung des Wunsches oder Willens suspendiert“ bleiben (1972, S. 36).
Für die Psychotherapie bestätigt diese Mikroanalyse der Zeitlichkeit die Einsicht, dass Ereignisse der Vergangenheit grundsätzlich aufarbeitbar und die einzelnen Ziele der Zukunft grundsätzlich weiter entwerfbar bleiben. Es wird immer neue Interpretationen der Prägungen durch die objektiven Einwirkungen geben und immer neue darauf abgestimmte Ziele, die Erfüllung bringen sollen. Auf die prinzipielle Nachträglichkeit und den prinzipiellen Aufschub wird wiederholt Bezug genommen werden.
Die phänomenologische Analyse der Zeitlichkeit kann durch einen Gedanken von Levinas (1978) ergänzt werden, der im Hinblick auf das Transzendenzthema von Interesse sein wird. Unsere subjektive Zeit ist ein Zusammensein, eine Synchronie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ihr Zusammenwirken ist die Basis unseres Erlebens: Was wir erinnern oder als Ziele setzen, lässt sich aus diesem zeitlichen Prozess verstehen. Nun gibt es aber auch Erfahrungen, die sich nicht in die Synchronie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einordnen lassen. Sie liegen quer dazu, sie sind – in der Sprache von Levinas – diachron, d.h. quer zur Zeitachse und anarchisch, d.h. ohne Anfang und somit auch ohne Einbettung in einen Sinnzusammenhang4. Es handelt sich um Erfahrungen, die von außen einbrechen und sich nicht durch Vergangenheits- und Zukunftsarbeit verstehen lassen. Sich dieser Grenze bewusst zu sein, befreit davon, alles aus der eigenen Geschichte verstehen zu wollen.

1.2 Mangel – Begehren – Aufgerufensein

Differenzierung und Verzeitlichung schließen das Ganzsein aus. Nicht ganz Sein heißt mangelhaft Sein. Die zwei besprochenen Merkmale der conditio humana gehen einher mit einem weiteren Grundcharakteristikum des Menschen, dem Mangel. Er wurde von verschiedenen Autoren beschrieben. In der psychoanalytischen Literatur hat Lacan den Mangel als Grundlage der psychischen Funktionen verstanden5, in der Philosophie ist bei Sartre der Mangel ein unüberwindbares Faktum des Menschseins. Wir sind zwar immer bezogen auf uns selbst, wir sind ein „Für-sich“, aber es bleibt uns versagt, je mit uns selbst in Übereinstimmung zu kommen, oder in Sartres Worten: „Wir sahen, dass die menschliche Wirklichkeit Mangel ist und dass sie als Für-sich einer bestimmten Koinzidenz mit sich selbst ermangelt“ (1943, S. 151).
Aus dem Mangel entspringt unmittelbar das Begehren. Es gibt ein Begehren der Natur, der Psyche und des Geistes6. Das natürliche Begehren hat auch beim Menschen eine animalisch-instinkthafte Note. Es ist der Trieb, in der Freudschen Begrifflichkeit die Libido. Freud ließ sich vermutlich durch Schopenhauer (1859) inspirieren, bei dem der Kern des Menschen der Wille zum Leben ist. Aber schon in früheren Zeitperioden wurde das Begehren oder Streben klar als Essenz des Menschen erkannt. Interessant für die folgenden Ausführungen sind die Gedanken von Spinoza im 17. Jahrhundert (Ethica III, Prop. VI und XI). Das Streben – in der lateinischen Bezeichnung conatus – ist für ihn ein Streben nach Selbsterhaltung. Es entspricht einer produktiven Potenz, die sich fortlaufend aktualisiert. In der körperlichen Ausprägung ist es der „appetitus“ (Trieb), in der psychisch-geistigen die „voluntas“ (Wille). In der heutigen Zeit ist der psychischgeistige Wille als narzisstisches Begehren präsent, als Streben nach Selbstverwirklichung und Anerkennung, das zur dominanten Begehrensform avanciert ist. Es zeigt sich hier bereits ein für die Moderne typisches Phänomen, das im Folgenden noch weiter ausgeführt wird: Begehrensziel ist nicht mehr ein Ganzes, wie zum Beispiel Gott im Mittelalter, sondern ein Teil in betonter Abgrenzung von anderen Teilen, nämlich das eigene Selbst in seiner Verwirklichung. Das Ganze wird dabei in die kleinstmöglichen Einheiten partialisiert, in die Unteilbaren bzw. Individuen. Das Fragment wird dadurch zur Schimäre des Ganzen und muss dementsprechend aufgebläht werden, da die Sehnsucht nach dem Ganzen nicht verschwindet. Diese zeittypische individualistische Selbstverwirklichung vollzieht sich – zumindest teilweise – auf Kosten der anderen. Macht spielt dabei eine wichtige Rolle. Nietzsche (1887) hob denn auch den Machtaspekt hervor und nannte das grundlegende Begehren „Wille zur Macht“7. Im Grunde genommen kann das Begehren in alles gelegt werden, abhängig davon, wo man das Zentrum des Menschen verortet. In der Philosophie gibt es ein „vernünftiges Begehren“ (Aristoteles zit. n. Ricoeur, 1990, S. 252), d. h. ein Streben nach Ordnung gemäß der Vernunft, in religiösen Traditionen das Streben nach Gott, der dadurch zum dominanten Motivator der einzelnen Seele werden kann. In Anlehnung an Frankls Logotherapie (1979; 1994) lassen sich die drei Begehrensformen, die naturhaft-libidinöse, die psychisch-narzisstische und die geistig-noetische, in eine griffige Form bringen: der Wille zur Lust, der Wille zur Macht und der Wille zum Sinn.
Das Begehren ist nur eine Seite des Mangels, die antreibende Seite, es gibt aber ebenso die ziehende Seite, der Aufruf zum Ganzwerden. In der mystisch-religiösen Perspektive ist damit ein umfassendes Ganzsein gemeint. In der Psychologie sind es einzelne Aspekte, die es zu vervollkommnen gilt. Inhaltlich entsprechen sie zuerst einmal Spiegelbildern der Begehrensformen: Im Anerkennungsstreben sind wir aufgerufen, in den Augen der anderen möglichst gut da zu stehen, im Sexualtrieb zu intensiver Sinnlichkeit und erfüllendem Orgasmus usw. In dieser Funktion unterstützt der Aufruf das Begehren, indem er die Zielerreichung fördert. Dem Aufruf kommt wesentlich aber auch eine korrektive Funktion zu. Sie ist notwendig, weil das dem Mangel entspringende Begehren selbst mangelhaft ist. Es ist ihm das Risiko der Maßlosigkeit inhärent, da es ja nie eine abschließende Befriedigung gibt. Das Begehren kann zur Gier werden. In der korrektiven Funktion hat der Aufruf ein Wissen, das über die Begehrens- oder Triebbefriedigung hinausgeht. Es ist das Ge-wissen, das zum Beispiel im Anerkennungsstreben die Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber als unethisch einstuft. Das Gewissen kann allerdings selbst maßlos werden und den Willen zum Leben unnötig einschränken. Es wird dann zu streng und entwickelt sich vom Partner zum Gegner des Begehrens. Das ethische Wissen verkümmert und die korrektive Funktion wird zum Selbstzweck.

1.3 Das Problem mit der Freiheit

Angesichts von Begehren und Gewissen stellt sich die Frage, wie weit der Mensch seine Entwicklung selbst in der Hand hat. An sich spüren wir, dass die Freiheit zu uns gehört, sonst wären auch psychotherapeutische Anstrengungen sinnlos. Die Freiheit aber zu beweisen, ist ein Problem, welches sowohl für Philosophen wie auch Psychotherapeuten eine Herausforderung bleibt. Die Determinierung nachzuweisen gelingt besser. Alle Formen des Begehrens imponieren als kausale, die Formen des Aufrufs als finale Determinierung. Die bekanntesten Beispiele menschlicher Unfreiheit sind die libidinösen und narzisstischen Antriebe. Sie können stark fesseln und das Handeln bestimmen, ohne dass man sich dessen bewusst ist. Auch ohne psychoanalytisch...

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. 1 Voraussetzungen menschlichen Wachsens
  3. 2 Der historische Kontext: die heutige Krisenzeit
  4. 3 Anthropologie in psychotherapeutischer Sicht
  5. 4 Anthropologie in philosophischer Sicht
  6. 5 Therapie als Emanzipation und Resignation
  7. Anhang: Postnarzisstische Übergangszeit – quo vadis?
  8. Literatur
  9. Stichwortverzeichnis
  10. Personenverzeichnis