1 Einführung
Pflegerische sowie medizinische und rehabilitative Einrichtungen sind verpflichtet, ihre Leistungen „entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse“ zu erbringen (SGB XI § 11; SGB V § 70). Die sogennanten SGB-XI Einrichtungen sind ab 01.07.2008 gemäß § 113a SGB XI auch zur Umsetzung der Expertenstandards verpflichtet. Die Zulassung zur Pflege erhalten (SGB XI § 71; § 113a) nur die Einrichtungen, die sich dieser Verpflichtung stellen. Die Qualitätskriterien der Expertenstandards sind bereits vor dieser, jetzt im Gesetz verankerten Verpflichtung sukzessive in den Prüfkatalog des Medizinischen Dienstes aufgenommen worden. Somit sind die Kriterien der Expertenstandards durch das „Hintertürchen“ der Qualitätsmaßstab für die Pflege geworden, ohne dass sie in der Vergangenheit explizit gesetzlich „vorgeschrieben“ wurden. In der Pflegepraxis sowie in der Pflegewissenschaft wird oft über den „allgemein anerkannten Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse“ kontrovers diskutiert. Was sind die allgemein anerkannten Erkenntnisse und wer erkennt diese an? Wo ist der Stand des gegenwärtig, gültigen Wissens beschrieben? Noch 2001 schrieb Entzian, dass in der Pflege „gegenwärtig [....} auf einen Stand der Erkenntnisse nicht zurückgegriffen werden kann“ (Entzian 2001, S.15). Damit die Erkenntnisse allgemein anerkannt werden, müssen sie von allen Akteuren anerkannt werden, das heißt von der Wissenschaft, von den Praktika und nicht zuletzt von den Kunden. Die Pflegewissenschaft erkennt die Erkenntnisse dann an, wenn diese aus den qualitativen Forschungsarbeiten gewonnen werden. Die Pflegepraxis erkennt sie an, wenn diese in der Praxis umsetzbar sind und die Kunden, wenn sich deren gesundheitlich-pflegerischer Zustand durch die Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zumindest aufrechterhält, wünschenswert auch verbessert.
1.1 Die Qualität
Der nach der EN DIN ISO-Norm 9000:2000 ziemlich neutral definierte Qualitätsbegriff – als „Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt“ (Deutsches Institut für Normung e. V. 2000, S. 18) oder „Qualität ist die Beschaffenheit einer Einheit [....] bezüglich ihrer Eignung, festgelegte und vorausgesetzte Erfordernisse zu erfüllen“ (Deutsches Institut für Normung e. V. 1995) – erlebte vielfältige Anpassungen an die verschiedenen Branchen und Gegebenheiten: von ganz komplizierten und für viele unverständlichen bis hin zu jedermann verständlichen Definitionen, wie z. B.: „Qualität ist Einhalten von Zusagen und Versprechungen“ (Leineweber 2002, S. 6). Zwischen diesen beiden Extrempolen der Qualitätsdefinition fand inzwischen eine Umwandlung statt. Ein nach ISO-Normen wertfreier Qualitätsbegriff wird von allen bewusst und unbewusst mit den hochwertigen Leistungen und erstklassigen Produkten in Verbindung gesetzt. In der Umgangssprache wird unter Qualität eigentlich immer eine sehr gute Qualität verstanden, die bei Dienstleistungen sehr oft am subjektiven Empfinden eines Individuums gemessen wird (Hildebrandt 2000). Das subjektive Empfinden ist zwar richtig, aber nicht der einzige Maßstab für die Bewertung der Qualität. Diese zu definieren, zu messen und objektiv zu beurteilen, ist eine der größten Herausforderungen für die Dienstleistungsunternehmen. Die Dienstleistungen sind (Meffeert 1986) selbstständige Leistungen, die marktfähig sind, sie sind auf die Bereitstellung bzw. den Einsatz von Potenzialfaktoren gerichtet (Betzold 1996):
- Dienstleistungspotenzial
- Dienstleistungsprozess
- Dienstleistungsergebnis
Die menschlichen Ressourcen bilden das Dienstleistungspotenzial. Der Dienstleistungsprozess ist ein Interaktionsprozess zwischen Dienstleistungserbringer und -abnehmer (Leinweber 2002), und dessen Qualität hängt von der Interaktionsintensität und Produktionsstandardisierung ab. Die Intensität definiert sich aus Häufigkeit und Dauer der Interaktionen bzw. aus Kontakten zwischen den Mitarbeitern und Kunden. Die Produktionsstandardisierung hilft, in einem Dienstleistungsprozess die häufig nicht gewünschten negativen Einflüsse kontrolliert zu halten (Betzold 1996). Das Dienstleistungsergebnis ist der Zustand, der unmittelbar nach der Produktionsphase vorliegt und einen immateriellen Nutzen für Kunden hat, meistens als Kundenzufriedenheit ausgedrückt.
Die Dienstleistung kann nicht gelagert werden, sie wird zeitnah erbracht und ihre Qualität wird ebenso zeitnah bewertet. Die Dienstleistungserbringer bemühen sich deshalb zunehmend, die Anforderungen (Kundenerwartungen) durch die Kunden bestimmen zu lassen. Der Begriff „Kunde“ wird im Gesundheitswesen sehr kontrovers diskutiert (Stoffer 2002). Das Wort „Kunde“ deutet darauf hin, dass der Kunde kundig ist. Demnach kann sich der Kunde über Dienstleistungen und Anbieter erkundigen, die Qualität fördern, zielgerichtet beeinträchtigen und beurteilen. In den gesundheitlichen Dienstleistungsinstitutionen handelt es sich um verschiedene Kunden: von Versicherten über Patienten bis hin zu Pflegebedürftigen in der Alten- und Behindertenhilfe. In der stationären Altenpflege, wo über 60 % der Bewohner demenziell erkrankt sind (www.gbe-bund.de, Letzter Zugriff am 09.01.2012) ist die Sichtweise kundig sehr fraglich. Der Kunde ist außerdem nicht immer nur derjenige, der die Angebote unmittelbar in Anspruch nimmt (Patient, Bewohner), sondern auch dessen nahestehenden Personen wie Angehörige oder bei den Geschäftsunfähigen, gesetzliche Vertreter. Zudem hat jeder Akteur in einem Prozess seine Sichtweise, anhand der er seinerseits die Qualitätsanforderungen bestimmt. Im Gesundheitswesen sind es zumindest drei (Selbmann 1990).
- JCHO (Joint Commission on Accreditation of Healtcare Organizations 1988) definiert Qualität aus der Sicht der Kostenträger, die sich nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V und § 4 SGB XI) richten, als angemessene und effiziente Nutzung der für die Gesundheitsversorgung bereitgestellten Ressourcen.
- Die Mitarbeiter medizinischer und pflegerischer Professionen verbinden Qualität mit den Arbeitsbedingungen und dem Grad der Übereinstimmung zwischen der Versorgung und dem aktuellen Stand der Forschung.
- Die Kunden erwarten, dass die Mitarbeiter im Gesundheitswesen auf deren subjektiv empfundenen Hilfebedarf unter Beachtung der Menschenwürde einfühlsam eingehen. Sie messen Qualität anhand der Serviceleistungen, der sogenannten weichen Faktoren, wie z. B. Zuwendung, Umgangsform, Erreichbarkeit, Höflichkeit, Kontinuität, emotionale Unterstützung (Roes et al. 2000). Dies kommt in der Altenpflege besonders zum Ausdruck, z. B.: In einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu Qualitätsmängeln und Regelungsdefiziten der Qualitätssicherung in der ambulanten Pflege zeigt sich eine gewisse „Diskrepanz zwischen Maßstäben und Kategorien zur Qualitätsbeurteilung von Professionellen und Betroffenen“ (Roth 2001, S. 97). Die Betroffenen weisen den professionellen Kategorien weniger Bedeutung zu als den persönlichen Merkmalen wie Freundlichkeit, Respekt und Zuverlässigkeit. Nicht selten gibt die Nichterfüllung dieser Kundenerwartungen in Bezug auf die weichen Faktoren der Gesamtqualität einen negativen Beigeschmack.
1.2 Die Pflegequalität
Die Definition der Pflegequalität ist abgeleitet aus der allgemeinen Qualitätsdefinition der Dienstleistung im Gesundheitswesen. Kämmer (Kämmer & Schröder 2000) verbindet in ihrer Qualitätsdefinition die Kundenorientierung mit Professionalität. Sie modifizierte Donabedians Qualitätsdefinition: „Qualität ist der Grad der Übereinstimmung zwischen den Zielen des Gesundheitswesens und der wirklich geleisteten Pflege“ in die Definition: „Qualität ist der Grad der Übereinstimmung von Kund...