1 Einführung in die Betreuung von Kindern mit Autismus
Was ist Autismus? Diese Fragestellung könnte das ganze Buch füllen.
Um dies zu verhindern, gebe ich an dieser Stelle eine kurze und etwas ungewöhnliche Antwort: »Autismus ist eine Wahrnehmungsstörung. Autisten nehmen Reize genauer oder ganz anders auf als normale Menschen. Aufgrund dieser Störung verhalten sie sich anders. Außerdem haben manche eine erstaunliche Begabung in einem Gebiet, wie z. B. ein erstaunliches Gedächtnis. Diese Autisten sind aber wenige. Einige Autisten werden gar nicht erkannt, weil sie z. B. Probleme im Sozialbereich haben und deshalb für verrückt gehalten werden. Autisten können sich aber durch viel Training wie normale Menschen verhalten. Doch dieses Training ist hart, und viele Leute, z. B. Eltern und andere Verwandte, geben schnell auf, weil sie auf starken Widerstand bei den Autisten stoßen. Für Autisten muss nämlich der Tag einen festen Ablauf haben. Wird dieser Ablauf gestört, reagiert der Großteil der Autisten mit Nervenausbrüchen. Deshalb brauchen die Anderen starke Nerven und viel Geduld, bis der Autist einen Fortschritt macht.« So erklärte mein vierzehnjähriger Sohn mittels einer PowerPoint-Präsentation seinen Brüdern, was seine Diagnose bedeutet.
Mit dieser Beschreibung beleuchtet er nahezu alle Facetten des Autismus, ohne komplizierte Fachtermini zu benutzen oder Symptomlisten durchzugehen. Da es inzwischen reichlich Bücher über Autismus gibt, soll dies vorerst zu dieser Fragestellung genügen. Im Kontext der Geschwister von Kindern mit Autismus wird sich dem Leser im Verlauf dieser Ausführungen ein vielfältiges Bild des Autismus erschließen.
1.1 Was bedeutet Betreuung?
Betreuer, also Personen, die betreuende Tätigkeiten ausüben, werden im schulischen Bereich in einigen Bundesländern eingesetzt, um Erzieher zu unterstützen. Sie dürfen in dieser Funktion bspw. keine Gruppe von Kindern allein beaufsichtigen. Eine weitere Definition dieses Berufsbildes beschränkt sich auf pflegerische Leistungen für Kinder mit Behinderung, die an Regelschulen inkludiert werden. Schon ein Blick auf die Synonyme zum Wort Betreuung, die von Beratung, Versorgung und Behandlung über Pflege, Begleitung, Beaufsichtigung bis zu Bildung reichen (duden.de, 2015), verdeutlicht, dass Betreuung weit mehr beinhaltet, als Hilfe zur Erziehung zu leisten. Allerdings findet sich auch im Sprachgebrauch eine Aufweichung der begrifflichen Grenzen, denn oben genannte Synonyme für Betreuung schrumpften im Laufe eines Jahres auf Bemutterung, Pflege, Sorge, Versorgung (duden.de, 2016).
Daher scheint es geboten, die Begrifflichkeiten zu definieren, bevor sie in diesem Buch Verwendung finden: Betreuung von Kindern umfasst Fürsorge, Aufsicht, Umgang und Förderung.
Abb. 1.1: Die Komponenten von Betreuung
Fürsorge bedeutet die Befriedigung physischer und psychischer Grundbedürfnisse. Um die Erfüllung physischer Grundbedürfnisse zu sichern, ist u. a. das Bereitstellen von Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Beschäftigungsmaterial unerlässlich. Für eine gesunde psychische Entwicklung benötigt ein Kind Geborgenheit, es muss geliebt werden, sollte sich beschützt fühlen und Vertrauen entwickeln können. Die Fürsorge- und Erziehungspflicht der Eltern dient dazu, eine gesunde körperliche und seelische Entwicklung des Kindes zu gewährleisten.
Aufsicht sichert die physische und psychische Unversehrtheit eines Kindes und ist altersabhängig bei jedem Kind in unterschiedlichem Maße notwendig. Bei Kindern mit Autismus können Weglauftendenzen (
Abschn. 4.1) die Aufsicht erschweren. Es besteht eine größere Gefahr, dass sich diese Kinder verletzen, z. B., weil kein Festhalten in Nahverkehrsmitteln stattfindet, da häufig keine Automatisierung von Handlungen erfolgt. Ein abweichendes Schmerzempfinden (
Abschn. 5.5) und unklare Äußerungen, sowohl verbal als auch nonverbal (
Abschn. 5.7), erschweren ebenfalls die Beaufsichtigung von Kindern mit Autismus.
Umgang beschreibt die Art und Weise, wie das Miteinander gestaltet wird. Bei einer Kontaktaufnahme mit Kindern mit Autismus kann es hilfreich sein, Körper- und/oder Blickkontakt zeitweise zu verringern oder zu vermeiden. Aufgrund der veränderten
Wahrnehmung vieler Kinder mit Autismus (
Abschn. 5.4) muss die Umgebung angepasst werden, und die Strukturierung von Raum und Zeit (
Abschn. 5.9) hilft, den Alltag zu bewältigen. Alltägliche Verrichtungen bedürfen häufig einer Anleitung und Erfolgskontrolle, die das alterstypische Maß weit übersteigen kann (
Abschn. 4.7.2). Auch sprachliche Besonderheiten (
Abschn. 5.7) beeinflussen den Umgang, so verstehen Menschen mit Autismus häufig jede Äußerung wortwörtlich oder fühlen sich ohne direkte Anrede nicht angesprochen.
Förderung umfasst in Bezug auf Kinder die Erhaltung und Entwicklung von Fähigkeiten und den Erwerb von Fertigkeiten. So ermöglichen bspw. die Fähigkeiten zu hören, Gehörtes zu verarbeiten und Laute zu produzieren das Erlernen von Sprachen. Förderung wird häufig mit Therapie oder Nachhilfe synonym verwendet, ist aber viel umfassender. Jede Beschäftigung mit einem Kind ist Förderung, ebenso wie Bildung, Freizeitaktivitäten und letztendlich auch besondere Maßnahmen, um ein Kind auf seinem Weg voranzubringen. Im häuslichen Bereich ist eine Förderung des Kindes mit Autismus u. a. folgendermaßen möglich: Motorik und Wahrnehmung können mithilfe von speziellen Übungen trainiert und verbessert werden (
Abschn. 4.7.2). Bildkarten eignen sich zum Äußern von Bedürfnissen, aber auch zur Anbahnung von Sprache und zum Aufrechterhalten der Kommunikation. Schwierigkeiten im Bewerten von Handlungen können mit visuellen Hilfen wie der Aktivität
Scales of Justice (Attwood, 2006; Waage der Gerechtigkeit,
Abschn. 5.8) abgebaut werden.
Die Beispiele zu den Komponenten der Betreuung sind nicht zufällig gewählt, sondern prägen die Beziehung zu den Geschwistern maßgeblich, im positiven oder negativen Sinn, je nachdem, wie damit im Alltag umgegangen wird.
1.2 Welche Personengruppen sind an der Betreuung beteiligt?
Um Missverständnissen vorzubeugen, werde ich immer dann, wenn verschiedene Berufsgruppen und Personen im Umkreis der Familie, die in die Betreuung der Kinder involviert sind, angesprochen werden, die Formulierung Betreuende benutzen. Ein Arzt oder Therapeut deckt ebenso wie Lehrer und Erzieher oder auch die Verwandten des Kindes bestimmte Bereiche der Betreuung ab. Welche das konkret sind, wird im Folgenden erläutert.
Eltern erbringen Betreuungsleistungen in sämtlichen Bereichen, was sich zwangsläufig aus ihrer Rolle als Erziehungsberechtigte ergibt. Großeltern, Verwandte, Freunde und Bekannte sind in dem Maße an der Betreuung der Kinder beteiligt, wie ihnen diese Aufgaben von den Eltern übertragen werden.
Auf der anderen Seite betreuen Erzieher, Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Therapeuten und gelegentlich auch Einzelfall- oder Schulhelfer sowie andere Personengruppen ein Kind.
Abb. 1.2: Die Komponenten von Betreuung – Eltern
Mitarbeiter von Bildungseinrichtungen haben Aufsichtspflichten, sie müssen mit den Kindern umgehen, und sie leisten einen wesentlichen Anteil an der Förderung ...