Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Eltern
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Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Eltern

Vom Ablösekonzept zum Freiraumkonzept

  1. 103 Seiten
  2. German
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Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Eltern

Vom Ablösekonzept zum Freiraumkonzept

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Der Prozess des "Erwachsen-werdens" geht stets einher mit der Lösung der engen Bindung des Kindes von den Eltern. Für erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung oder Mehrfachbehinderung stellt dies eine erhebliche Herausforderung dar. Mitarbeiter in den verschiedenen Wohnformen und Diensten treten als zusätzliche Bezugspersonen in Erscheinung. Das Buch bietet Grundlagenwissen u.a. zu den spezifischen Eltern-Kind-Beziehungen, den Prozessen der Ablösung und Annäherung, den Rollen der Fachkräfte und beschreibt die Entwicklungsaufgaben der Menschen mit Behinderungen in fünf "Lebens"-Phasen.Der Erwachsene mit einer kognitiven Beeinträchtigung steht im Mittelpunkt des Freiraumkonzeptes. Gleichzeitig wird die Situation der Eltern differenziert betrachtet und dadurch eine sehr gute Verstehensbasis für eine wertschätzende und konstruktive Zusammenarbeit geschaffen.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783170338821

1 Entstehungsgeschichte/Einleitung

»Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.«
(Johann Wolfgang von Goethe)
»Vergiss es nie, hörte ich meinen Vater sagen: Jede Generation hat ihren eigenen Weg.«
(Joe Cocker)

1.1 Grundsätzliches

Der Wunsch nach Freiheit, sein Leben möglichst so zu gestalten, wie man es möchte und eigene Entscheidungen zu treffen, sind Grundbedürfnisse des Menschen. Diese Entwicklung gelingt in einem biographischen Prozess. Es handelt sich dabei um eine wechselseitige Entwicklungsaufgabe von Kindern und Eltern. Gelingende Ablösungsprozesse sind von besonderer Bedeutung für die Ausbildung der eigenen Identität und der verschiedenen Rollen in Kultur und Gesellschaft. Dieser angestrebte Freiraum umfasst alle Entwicklungen und Veränderungen im Eltern-Kind-Verhältnis, welche mit einem Mehr an Unabhängigkeit und Eigenständigkeit für beide Seiten einhergehen.
Wir gehen davon aus, dass jeder erwachsene Mensch, unabhängig von seinem Hilfebedarf, das Recht auf eine eigene Wohn- und Lebensform hat. Menschen mit Behinderungen und ihre Eltern müssen lernen, mit ihrem neu gewonnen Freiraum konstruktiv umzugehen. Die unterschiedlichen Wege, den eigenen Freiraum zu erobern und zu gestalten, führen zu Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Sichtweisen. Die daraus resultierenden Konflikte sind normal und notwendig.
Eine aktive und wertschätzende Elternarbeit unterstützt diesen Prozess, sobald sich Menschen entscheiden in eine Wohnstätte oder in eine eigene Wohnung zu ziehen. In dem Freiraumkonzept steht der Mensch mit Behinderung im Vordergrund. Gleichwohl sind die beiden anderen wichtigen Bezugsgruppen, die Eltern und die Mitarbeiter, von entscheidender Bedeutung.
Wenn Erwachsene mit einer geistigen Behinderung und/oder Mehrfachbehinderungen vom Elternhaus in eine erwachsengemäße Wohnform ziehen, ist ein weiterer Schritt im Sinne der Selbständigkeit von Menschen mit Behinderungen gegangen. Die Erfahrungen in nahezu allen Einrichtungen der Eingliederungshilfe zeigen, dass die Elternarbeit sich in einem sensiblen und meist spannungsreichen Beziehungsfeld zwischen den Menschen mit Behinderungen, deren Eltern und den Mitarbeitern vollzieht.
Die Eltern der Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung sind für die alltägliche Arbeit in den Wohneinrichtungen einflussreiche Protagonisten. Oftmals fehlt jedoch ein differenziertes fachliches Konzept, welches den Mitarbeitern Orientierung über die sich ändernden Rollen und Aufgaben in der Zusammenarbeit mit den Eltern gibt. Ebenso fehlt den Eltern eine klare Darstellung der Themen, die ihnen im Laufe der Jahre bezüglich der Entwicklung ihres Kindes widerfahren. In den vom Wohn- und Teilhabegesetz geforderten Vorvertragsinformationen werden Details zu Leistungen, Abläufen und Regeln gegeben. Die persönlichen Themen, die die Eltern jedoch erleben werden, werden selten thematisiert. Auch mit den Menschen mit Behinderungen wird selten über das in der Wohnform geltende Konzept zur Elternarbeit gesprochen.
Das im Folgenden dargestellte Freiraumkonzept schließt hier eine fachliche Lücke, indem erstmalig in fünf Phasen die Beziehung von Menschen mit Behinderungen und ihrer Eltern von dem Einzug in eine neue Wohnform bis zum Leben der Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung nach dem Tod der Eltern beschrieben wird. Das Freiraumkonzept formuliert die jeweiligen Entwicklungsaufgaben der Menschen mit Behinderungen und die sich ändernden Aufgaben und Rollen der Eltern.
Für die Mitarbeiter werden strukturierte und praxisorientierte Aufgaben beschrieben, um den Menschen, die in einer Wohneinrichtung oder eigenen Wohnung leben, darin zu unterstützen, selbstbewusste Erwachsene zu werden und deren Eltern zu ermutigen, die eigenen neu gewonnenen Freiräume zu nutzen.
Durch die Einführung des Freiraumkonzeptes werden Konflikte mit Eltern nicht vermieden. Sie sind im Grundverständnis der Entwicklung von Freiräumen notwendig und sinnvoll. Es wird jedoch eine wertschätzende Verstehens-Basis für eine konstruktive, am Menschen mit Behinderungen orientierte Zusammenarbeit gelegt. Die Festlegung der zeitlichen Dimensionen der ersten beiden Phasen wird mit den Erfahrungen aus der Praxis begründet. Es hat sich gezeigt, dass ohne diese Festlegung teilweise sehr lange Verhandlungen über den richtigen Zeitpunkt zum Wechsel in die nächste Phase stattfinden.
Das Freiraumkonzept ist grundsätzlich auf alle Wohnformen anzuwenden, die für Erwachsene mit einer geistigen Behinderung möglich sind. Es gilt sowohl für Wohneinrichtungen und Wohnstätten, die einen umfassenden Betreuungsauftrag haben. Es gilt für sogenannte Außenwohngruppen, aber auch dann, wenn Erwachsene mit einer geistigen Behinderung und/oder Mehrfachbehinderung in ihre eigene Wohnung ziehen und durch Fachdienste, z. B. das »Ambulant Begleitete Wohnen«, unterstützt und begleitet werden. Im Buch wird daher grundsätzlich von Wohnformen gesprochen.
Mit der Bezeichnung »Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung und/oder Mehrfachbehinderung« sollen grundsätzlich alle unterschiedlichen Ausprägungsformen erfasst werden. Das Freiraumkonzept ist eine Orientierung sowohl für Erwachsene mit einer Lernbehinderung als auch für Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung und möglicherweise weiteren Mehrfachbehinderungen. In jedem Fall muss individuell geprüft werden, in welcher Form die notwendige Unterstützung und Begleitung aussehen kann. Ausgehend von unserem Menschenbild kann es aber keine grundsätzlichen Einschränkungen oder Ausnahmen geben. In den Fällen, wo die Entscheidung eines Erwachsenen mit einer schweren geistigen Behinderung nicht eindeutig erfasst werden kann, soll die sogenannten 50 %-Regel gelten. Diese beinhaltet, dass in solchen Situationen die notwendige Unterstützung maximal zur Hälfte weiterhin von den Eltern geleistet werden soll. Nur wenn der Erwachsene mit einer schweren geistigen Behinderung und seine Eltern die Erfahrung machen, dass auch Mitarbeiter diese Unterstützung leisten können, ist die Chance zum Nutzen des neuen Freiraums denkbar.

1.2 Vom Ablösekonzept zum Freiraumkonzept

In der Fachliteratur wird als Entwicklungsaufgabe von Menschen die Ablösung vom Elternhaus beschrieben. Der Begriff Ablösung ist hier zentral. Er macht deutlich, dass die enge symbiotische Beziehung von Kindern mit ihren Eltern sich im Laufe der Jahre Zug um Zug entwickelt. Die Ablösung erreicht einen zentralen Schnitt, wenn der junge Erwachsene das Elternhaus verlässt und beginnt, überwiegend auf eigenen Beinen zu stehen (
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Kap. 2.1).
Diese Entwicklungsaufgabe gilt grundsätzlich auch für Menschen mit geistigen Behinderungen und/oder Mehrfachbehinderungen. Dennoch hat dieser Personenkreis mit der besonderen Herausforderung zu tun, so dass sie ein Leben lang auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Demzufolge wird ihnen unterstellt, diese Entwicklungsaufgabe nicht meistern zu können. Ablösung bedeutet dann vor allem, dass es sich nicht um Eigenständigkeit, sondern um ein Verlagern der notwendigen Unterstützung an andere Personen handelt.
Für Eltern impliziert das in besonderer Weise, sich ein Leben lang verantwortlich für das Kind zu fühlen. Demzufolge kann es keine Ablösung geben. Der Begriff »Ablösung« ist folglich negativ, weil unmöglich besetzt. In vielen Gesprächen mit Eltern kamen wir immer genau an diesen Punkt. Ablösung ist nicht möglich, also sind bestimmte Regeln und Konzepte zur Verselbständigung nur vorgeschoben, um selber als Wohneinrichtung Einfluss auf den Menschen mit Behinderung zu bekommen. Eine Mutter drückte das sehr deutlich aus: »Ich kann mich nie von meinem Kind lösen – ich bleibe immer die Mutter!«
Ebenso reagierten durchaus auch Erwachsene mit einer geistigen Behinderung, wenn sie von Ablösung hörten. Sie drücken z. B. ihre Sorge derart aus: »Wenn ich mich von zu Hause ablöse – darf ich dann nicht mehr nach Hause fahren?«
Wir haben lange nach alternativen, nicht so mit Angst besetzten Begriffen gesucht. In vielen Diskussionen wurde deutlich, dass es sich beim Ablöseprozess nicht um eine Abkehr oder endgültige Trennung handelt. Im Vordergrund steht die Einstellung, dass jeder Mensch seinen eigenen Lebensweg gehen kann. Ein Auszug aus dem Elternhaus schafft neue Freiräume. Diese Freiräume gilt es zu nutzen. Aus diesem Grunde ist aus einem ehemaligen Ablösekonzept ein Freiraumkonzept entstanden.

1.3 Motivation zum Einzug in eine Wohneinrichtung

Vorab: Die Entscheidung von Menschen mit Behinderungen, in eine neue Wohnform ziehen zu wollen, ist immer verbunden mit Wünschen, Hoffnungen und Sorgen. Dies trifft ebenso auf die Eltern zu, die solch eine Entscheidung mittragen oder sogar für ihr »erwachsenes Kind« treffen.

Jede Entscheidung fordert von Fachleuten in den Einrichtungen und Diensten Respekt und damit ein Ernstnehmen der Hintergründe.

Die Gründe für die Entscheidungen sind sehr vielfältig. In den letzten Jahren ist zunehmend eine Generation von Menschen mit Behinderungen und ihrer Eltern in Erscheinung getreten, die sehr selbstbewusst und aus der Überzeugung heraus argumentieren, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Behinderung, das Recht hat, ein eigenständiges Leben nach eigenen Vorstellungen leben zu können. Für diesen Personenkreis ist die Entscheidung, den ersten Schritt in eine neue Wohnform für erwachsene Menschen zu gehen, oft gut durchdacht und mit klaren Vorstellungen verbunden. Nach unseren Erfahrungen haben diese Menschen mit Behinderungen oftmals ein sehr individuelles Netz von Hilfen erfahren, die sie ein Leben lang begleitet haben: von der Frühförderung bis zur Sonderschule und den Ausblick auf einen realistischen Arbeitsplatz. Für diese Menschen ist das Leben in einer neuen Wohnform ein normaler Schritt in ihre Form der Eigenständigkeit und der notwendige Schritt aus dem Elternhaus. Dies trifft auch auf die Eltern zu, die solch eine Entscheidung für ihr Kind mit einer schweren geistigen Behinderung und/oder Mehrfachbehinderungen getroffen haben. Die Beteiligung ihres »Kindes« basierte in der Regel nicht auf Gesprächen, sondern auf dem aufmerksamen Beobachten, während sie verschiedene Wohnangebote geprüft und besucht haben. In den oben genannten Fällen haben die Menschen mit Behinderungen und ihre Eltern die Erfahrungen gemacht, sich im sozialen Netz der Hilfen zu Recht zu finden und entsprechend ihrer Rechte die angemessenen Hilfen einzufordern.
Eine andere Gruppe von Menschen mit Behinderungen und ihrer Eltern sind die, die den Auszug aus dem Elternhaus möglichst lange vor sich herschieben und den Anspruch haben, solange es eben noch geht sich um ihr behindertes Kind zu kümmern. Diese Haltung ist nicht ungewöhnlich und basiert unter anderem auf der Erfahrung, dass sich die Eltern am besten um ihr Kind kümmern können, da sie es am besten kennen. Je höher der Grad der geistigen Behinderung ist, umso ausgeprägter ist diese Haltung. Wenn der Impuls nicht von außen kommt (Freunde, Eltern, Lehrer, Mitarbeiter einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen), sind es in der Regel eher zunehmende Schwierigkeiten, die sich verhaltensbedingt bei den Menschen mit Behinderungen zeigen. Nach unseren Erfahrungen zeigen Menschen mit Behinderungen durch ihr Verhalten, dass Veränderungen anstehen, wenn sie diese argumentativ nicht durchsetzen können. In der Regel treten diese Menschen mit Behinderungen und ihre Eltern in einer sehr angespannten Situation in Wohneinrichtungen auf. Im Vordergrund stehen zunehmend Konflikte und Auseinandersetzungen. Die Menschen mit Behinderungen wollen das Elternhaus verlassen oder zeigen, dass sich etwas verändern muss. Die Eltern sehen diesen Weg jedoch als nicht richtig an.
Eine dritte Gruppe lässt sich so skizzieren, dass weder die Menschen mit Behinderungen noch die Eltern den Schritt in eine erwachsen gemäße Wohnform befürworten. Für die Menschen mit Behinderungen ist ein Verlassen des Elternhauses schier nicht vorstellbar. Sie haben sich in ihrer Rolle als ewiges Kind eingefunden und haben keine Idee einer eigenen Lebensführung. Solange die Eltern da sind, wird es an nichts fehlen. Das Gewohnte tritt jeden Tag in Kraft. Für die Eltern ist es eine Selbstverständlichkeit, sich bis zum Lebensende um das Kind zu kümmern. Sie haben für sich die Entwicklungsaufgabe nach dem Auszug der Kinder negiert. Der Impuls, in Kontakt z. B. mit einer Wohneinrichtung zu treten, kommt nur zustande, weil die Rahmenbedingungen sich geändert haben. Die Eltern werden immer älter und sind zunehmend auch auf Hilfe angewiesen. Auch wenn ein Elternteil verstorben ist, ändert sich diese Haltung nicht zwangsläufig, obwohl die ganze alltägliche Pflege und Verantwortung bei einer Person liegt. In diesen Fällen wollen weder der Mensch mit Behinderung noch die Eltern, dass eine weitere Veränderung zum Tragen kommt. Es werden in der Praxis auch finanzielle Gründe genannt. Wenn die Rente nicht ausreicht, ist das Einkommen des Kindes und das Pflegegeld möglicherweise notwendig, um im Haus oder in der vertrauten Wohnung bleiben zu können. Erst wenn der Alltag zu Hause nicht mehr sichergestellt ist, kommt die Anfrage nach einer anderen Wohnform. Es ist in der Praxis nicht ungewöhnlich, wenn sich sehr betagte Eltern melden und sofort einen Platz für ihr 50-jähriges »Kind« suchen. In diesen Fällen ist der Einzug in ein passendes Wohnangebot sehr erschwert, da dieser nicht gewollt ist, sondern externe Umstände den Menschen mit Behinderungen und seine Eltern dazu zwingen, diesen Schritt zu gehen.
In der Praxis stellt sich immer wieder die Frage, wann der richtige Zeitpunkt ist, das Elternhaus zu verlassen. Natürlich ist hier kein allgemein gültiges Lebensalter zu nennen. Für jeden Menschen ist der Auszug aus dem Elternhaus eine individuelle Entscheidung, die jeder selber oder seine Eltern treffen. Es gibt ja durchaus erwachsene Menschen mit über 30 Jahren, die noch sehr bequem im »Hotel Mama« wohnen. Andere werden mit 18 Jahren vor die Tür gesetzt, um endlich auf eigenen Beinen zu stehen.
Gleichwohl ist es für die Menschen mit Behinderungen sehr viel einfacher, wenn sie selber den Weg in die Eigenständigkeit gehen wollen und darin von ihren Eltern unterstützt werden. Wenn Eltern diesen Weg im Grunde ablehnen, sind bestimmte Konflikte vorprogrammiert. Das im Folgenden dargestellte Freiraumkonzept greift unter anderem diese Konflikte auf und hilft sie zu bearbeiten.
Der früheste mögliche Zeitpunkt, um in eine Erwachseneneinrichtung zu ziehen, ist das Erreichen des 18. Lebensjahres. In der Regel wird das Ende der Schulzeit noch abgewartet. Ebenso gibt es Überlegungen, den Menschen mit Behinderungen nicht gleichzeitig den Auszug aus dem Elternhaus und dem Wechsel von der Schule in eine Arbeitsstätte zuzumuten. Wir haben bisher in keinem Fall die Erfahrung gemacht, dass ein gleichzeitiger Wechsel eine unzumutbare Überforderung darstellt.
Wenn deutlich ältere Menschen mit Behinderungen in eine erwachsengemäße Wohnform einziehen, weil die betagten Eltern sie nicht mehr unterstützen können, sind wesentliche Entwicklungsschritte nicht mehr möglich. Aus diesem Grunde sind wir der festen Überzeugung, dass erwachsene Menschen mit Behinderungen spätestens dann in eine eigene Wohnform wechseln sollten, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. 1 Entstehungsgeschichte/Einleitung
  7. 2 Heilpädagogische Grundlagen
  8. 3 Grundlagen für Konzeptionen in Wohneinrichtungen
  9. 4 Die 5 Phasen des Freiraumkonzeptes
  10. 5 Einsatzfelder des Freiraumkonzeptes
  11. 6 Das Schaubild zum Freiraumkonzept
  12. 7 Literatur