Bindung, Sexualität und Persönlichkeitsentwicklung
eBook - ePub

Bindung, Sexualität und Persönlichkeitsentwicklung

Zum Verständnis sexueller Störungen aus der Sicht interpersonaler Theorien

  1. 199 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Bindung, Sexualität und Persönlichkeitsentwicklung

Zum Verständnis sexueller Störungen aus der Sicht interpersonaler Theorien

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Dieses Buch verbindet drei verschiedene theoretische Felder: die Bindungstheorie, klinische Theorien der sexuellen Entwicklung und die interpersonale Theorie der Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung. Neben einer Einführung in diese Theorien werden anhand von zwei Falldarstellungen Möglichkeiten der unterschiedlichen Betrachtungsweisen demonstriert. Speziell im Zusammenhang mit sexuellen Störungen, die immer auch Beziehungsdimensionen betreffen, sind interpersonale und bindungstheoretische Ansätze sinnvoll. Das Buch soll Anstöße geben, die Sexualität aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und zu verstehen.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Bindung, Sexualität und Persönlichkeitsentwicklung von Bernhard Strauß, Helmut Kirchmann, Barbara Schwark, Andrea Thomas im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Psychology & Developmental Psychology. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2009
ISBN
9783170280663

1 Einleitung: Sexuelle Entwicklung1

Die Sexualität, von der Freud sagte, sie gehöre zu den „gefährlichsten Betätigungen des Individuums“ (Nunberg & Federn, 1977), kann auf unterschiedliche Weise definiert werden:
  • Sexualität ist eine biologisch verankerte Form des menschlichen Erlebens, die aber nicht notwendigerweise manifest werden muss (Schorsch, 1975).
  • Sexualität ist ein vielschichtiger, zahlreiche Aspekte umfassender Verhaltens- und Erlebensbereich, der durch eine enge Verknüpfung von körperlichen und psychischen Prozessen gekennzeichnet ist (Bancroft, 1986).
  • Beim Menschen hat die Sexualität neben ihrer biologischen Funktion (Fortpflanzung) eine große Bedeutung für die Selbstbestätigung (narzisstischer Aspekt der Sexualität) und eine zentrale interpersonale Funktion (Sexualität als Mittel der Bezogenheit und Beziehungsgestaltung) (Bancroft, 1989).
  • Sexuelles Erleben, sexuelle Erregung und sexuelle Lust sind in starkem Maße subjektiv und beeinflusst durch biologische, psychologische und soziokulturelle Faktoren.

1.1 Linien der sexuellen Entwicklung

Die Entwicklung der Sexualität ist multidimensional und immer in Bezug auf den komplexen soziokulturellen Kontext zu betrachten. Bancroft (1986) schlug ein interaktionelles Modell der sexuellen Entwicklung vor, in dessen Rahmen verschiedene Entwicklungsstränge differenzierbar sind, die sich zwar zunächst relativ unabhängig voneinander entwickeln mögen, dann aber zunehmend miteinander verschränkt bzw. verwoben werden. Die sexuelle Entwicklung kann somit anhand einer Matrix von Entwicklungslinien oder Entwicklungskonstituenten differenziert werden, die zusammengenommen die Phänomenologie des Sexuellen bestimmen. Diese Linien der sexuellen Entwicklung beziehen sich auf biologische Funktionen als Basis für die Entwicklung des Erlebens und Verhaltens, Differenzierungen sexueller Motive und Bedürfnisse, die Entwicklung sexueller Reaktionen und sexueller Reaktionsfähigkeit, die Entwicklung von Bindung bzw. Bindungsfähigkeit und möglicher Funktionen der Sexualität in Beziehungen, die Entwicklung der Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle, sexueller Orientierungen und des manifesten sexuellen Verhaltens (Strauß, 2005).
Die biologische Differenzierung des anatomischen/genitalen Geschlechts ist naturgemäß eine wesentliche Grundlage für die sexuelle Entwicklung. Diese Differenzierung manifestiert sich primär auf chromosomaler Ebene (genetisches Geschlecht, Determinierung), auf der Ebene der gonadalen Entwicklung (Keimdrüsengeschlecht), der Ebene der inneren (gonoduktalen) und äußeren Geschlechtsmerkmale sowie auf der Ebene der geschlechtstypischen Differenzierung des Gehirns (für Details siehe Beier, 2007).
Die Entwicklung sexueller körperlicher Reaktionen setzt in der Regel eine ungestörte Entwicklung der Geschlechtsorgane voraus, die in einem frühen Stadium der pränatalen Entwicklung gebahnt wird (Ausnahmen sind möglich; so wird berichtet, dass einige Menschen mit körperlich-sexuellen Fehlentwicklungen, wie etwa dem Adrenogenitalen Syndrom, durchaus reaktionsfähig sein können, siehe Richter-Appelt, 2004). Ultraschalluntersuchungen machen deutlich, dass männliche Embryonen bereits Erektionen entwickeln. Außerdem sind Hand-Genitalkontakte in utero bei beiderlei Geschlecht beschrieben. Es ist also möglich, dass bereits der Fötus genitalbezogene Lust erlebt (Calderone, 1985). Die Kapazität für genitale Reaktionen besteht bei Jungen und Mädchen wahrscheinlich bereits vor der Geburt. Eine Reihe von Studien belegt, dass Säuglinge beiderlei Geschlechts bereits in den ersten Lebensmonaten mit den Genitalien spielen und sexuelle Reaktionen zeigen. Sexualwissenschaftliche Studien deuten an, dass Jungen Masturbation und Orgasmus häufig durch Kontakte zu Gleichaltrigen erlernen, während Mädchen ihre ersten Orgasmen durch Selbstexploration oder „zufällig“ über indirekte Stimulation erfahren (Beier, 2007). Es ist das Verdienst der Sexualwissenschaftler Masters und Johnson (1966), die sexuelle Reaktion bei Erwachsenen erstmalig systematisch mit psychophysiologischen Methoden erforscht zu haben. Von diesen Wissenschaftlern stammen die prototypischen Darstellungen sexueller Erregungsabläufe bei Frauen und Männern und die Definition von Phasen der sexuellen Reaktion, die allerdings individuell stark variieren können und nicht als normativer Bezug gesehen werden sollten.
Es wird heute nach wie vor davon ausgegangen, dass sich eine Kerngeschlechtsidentität (also die innere „Überzeugung“, männlich oder weiblich zu sein) bereits bis zum Ende des zweiten Lebensjahres gebildet hat, wenngleich im weiteren Entwicklungsverlauf bis ins Erwachsenenalter Veränderungen der Geschlechtsidentität möglich sind (Coates, 2006). Wie oben erwähnt, definiert die anatomische Ausstattung des Neugeborenen maßgeblich, welches Geschlecht ihm zugewiesen wird. Mit der Geschlechtszuweisung ist eine Kaskade differentieller Verhaltensweisen durch die Bezugspersonen gegenüber dem Kleinkind verbunden (resultierend aus einer kulturellen Übereinkunft der Zweigeschlechtlichkeit), die zur Formierung der Kerngeschlechtsidentität beitragen. Geschlechtsspezifisches Verhalten ist deutlich abhängig von den Einflüssen der Umgebung (also sozialen Lernprozessen) und kulturellen bzw. gesellschaftlichen Faktoren. Bereits im Säuglingsalter ist unterschiedliches Verhalten von kleinen Jungen und Mädchen gegenüber Männern und Frauen sichtbar (Maccoby, 2000). Für die Ausformung geschlechtstypischen Verhaltens ist neben sozialen Lernprozessen und neurobiologischen Faktoren, wie etwa dem Einfluss von Androgenen auf das Verhalten, auch die kognitive Entwicklung bedeutsam. Es wird davon ausgegangen, dass sich in den ersten Lebensjahren „sexuelle Schemata“ entwickeln, die zu einer kognitiven Selbstkategorisierung (Zugehörigkeit zu einer Geschlechtergruppe und Geschlechtskonstanz) führen. Diese Kategorisierung ist wiederum die Voraussetzung für die Identifikation mit einer spezifischen Rolle bzw. für die Aneignung von Rollenvorstellungen und -erwartungen. Der Prozess der Rollenaneignung ist bis zum Ende des Vorschulalters vorläufig abgeschlossen und am Verhalten sichtbar: Jungen spielen zu diesem Zeitpunkt beispielsweise lieber mit Jungen, haben typisch männliche Zukunftsvorstellungen etc. In dieser Entwicklungsphase sind die Rollenvorstellungen meist noch rigide und unflexibel, erst ab ca. dem achten Lebensjahr sind die kognitiven Voraussetzungen dafür gegeben, selektiv Eigenschaften von unterschiedlichen (Geschlechts-)Rollenmodellen zu übernehmen. Im Jugendalter, verbunden mit der ausgebildeten Fähigkeit zu abstraktem Denken, erfolgt eine weitere Flexibilisierung der Geschlechtsrollen und eine Neubewertung der Rollenaneignung, die u. a. durch die Qualität der Beziehung zu den Elternfiguren bestimmt wird (Maccoby, 2000). Eine Reihe von empirischen Studien belegen die Schichtspezifität der Rollenvorstellungen, ebenso die Tatsache, dass Geschlechtsrollenbilder starken soziokulturellen Schwankungen unterworfen sind.
Die sexuelle Orientierung (Präferenz, Identität) bezieht sich auf die gesamte Reaktivität einer Person gegenüber Männern und Frauen. Es ist das Verdienst Alfred Kinseys, im Rahmen seiner sexualwissenschaftlichen Umfragen in den späten 40er/frühen 50er Jahren die sexuelle Orientierung in verschiedene Komponenten differenziert zu haben (Kinsey et al., 1948, 1953). Zum einen zeigte Kinsey, dass die sexuelle Orientierung auf einem Kontinuum mit den Extremen einer exklusiven Homo- bzw. Heterosexualität anzusiedeln ist, zum anderen konnte er zeigen, dass sich die sexuelle Orientierung auf verschiedenen Ebenen manifestiert, nämlich der physiologischen Reaktion (auf homo- bzw. heterosexuelle Reize), der Fantasie (Tagträume, Masturbationsfantasien), des Verhaltens (v. a. tatsächliche Interaktion mit gleich- bzw. gegengeschlechtlichen Personen) sowie der Selbsteinordnung (die durch die vorherrschende erotische Anziehung definiert wird). Die vier oben genannten Ebenen müssen diesen Ergebnissen zufolge keineswegs konvergieren. Die ausschließlich homosexuelle oder heterosexuelle Partnerwahl repräsentiert somit nur die Endpunkte einer Verteilungskurve. Transkulturelle Untersuchungen zeigen ebenfalls die Plastizität der sexuellen Orientierung. Die Einstellung gegenüber Homosexualität ist in verschiedenen Kulturen unterschiedlich und beeinflusst das tatsächliche, beobachtbare Verhalten. Soziokulturelle Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft schlagen sich dementsprechend auch in den konkreten Erfahrungen nieder. Dies zeigt sich in der Tendenz beispielsweise an regelmäßig durchgeführten Studien zur Studentensexualität in der BRD (Schmidt, 2000), die in der Zeit zwischen 1966 und 1996 deutliche Fluktuationen in der Häufigkeit bisexuellen Verhaltens reflektieren.
Eine grundlegende Bedeutung für die Entwicklung von Theorien zur Differenzierung sexueller Bedürfnisse und Motive kommt der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie zu, der zufolge von Geburt an – im weitesten Sinne – sexuelle (sinnliche) Bedürfnisse zu erkennen sind und die Entwicklung des Sexualtriebes definierte Phasen durchläuft. In der frühen Entwicklung kommt außerdem der Ausbildung des Selbstsystems eine große Bedeutung für die Sexualität zu. Der Narzissmus, also das Ausmaß positiver Gefühle, die mit der Erfahrung des Selbst verbunden sind und die einen wesentlichen Bestandteil späterer Selbstrepräsentanzen darstellen, kann als eine wesentliche Grundvoraussetzung für sexuelle Befriedigung gesehen werden. Auch wenn im Detail die empirische Absicherung der triebpsychologischen Entwicklungstheorie nicht eindeutig geglückt ist, finden sich auf der Verhaltensebene deutliche Entsprechungen mit den primären Bedürfnissen, die in der Phasentheorie postuliert werden (Krause, 1998). Die Annahme der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, dass nach der Überwindung des Ödipuskomplexes eine „Latenzzeit“ eintrete, in der die Sexualität keine wesentliche Rolle spiele, ist heute sicher nicht mehr haltbar. Viele sexualwissenschaftliche Studien belegen, dass vom Grundschulalter bis zur Pubertät eine stetige Zunahme des Interesses an Sexualität und (teilweise noch verborgener) sexueller Aktivitäten zu verzeichnen ist (Beier, 2007).
Sexuelle Verhaltensweisen formieren sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Entwicklungsphase. Übereinstimmungen mit den in bestimmten Entwicklungsphasen vorherrschenden sexuellen Motiven werden dabei offensichtlich. Schon sehr früh, etwa ab dem zweiten Lebensjahr, werden deutliche Geschlechtsunterschiede im Sexualverhalten manifest. Die Entwicklung des Sexualverhaltens von Mädchen und Jungen in der frühen und mittleren Kindheit und das generelle Verhalten der Geschlechter dienen zunächst „ganz dem Ziel der Trennung“ (Maccoby, 2000) und verlaufen – von Kontakten etwa im Rahmen von Doktorspielen abgesehen – separiert (Coates, 2006). Erst mit Beginn der Pubertät gehen die Geschlechter wieder offen aufeinander zu.

1.2 Jugendsexualität als Spiegel soziokulturellen Wandels?

Die Sexualität Jugendlicher war häufig Gegenstand sexualwissenschaftlicher Untersuchungen. In den frühen siebziger Jahren zeigte eine groß angelegte Studie (Sigusch & Schmidt, 1973), dass Jugendliche – immer noch orientiert an traditionellen Wertvorstellungen – mit sexuellen Aktivitäten einige Jahre früher begannen als die Generation vor ihnen und die Sexualität deutlich weniger angstvoll und schuldhaft erlebten. Die Einführung hormonaler Kontrazeption und die sog. sexuelle Liberalisierung trugen dazu maßgeblich bei. 20 Jahre später wurden von Schmidt (1993) Jugendliche erneut untersucht. Wenn sich auch grundlegend an den Verhaltensweisen nicht sehr viel verändert hatte, zeigte sich hier, dass Emanzipation einerseits und sexuelle Aggression andererseits sich durchaus gegenüberstehen. Ein spezifischer Gegenstand der Untersuchung war, wie 1970, die Gruppe der 16 bis 17-jährigen Mädchen und Jungen aus Großstädten. Ein Detailergebnis: „Einerseits erleben Jungen ihre Sexualität heute seltener als vor 20 Jahren als impulsiv und drängend; Grenzen, die Mädchen selbstbewusster setzen und Wünsche, die sie selbstbewusster äußern, wollen und können sie besser respektieren. Andererseits haben viele Mädchen, kaum 16 oder 17 Jahre alt, traumatische sexuelle Erfahrungen gemacht, Erfahrungen mit sexuellem Zwang bis zur Gewaltandrohung und Gewaltausübung und dies durchaus auch mit Gleichaltrigen“ (Schmidt, 1993, S. 87).
Sigusch (2005) wertet die Jugendsexualität der heutigen Zeit insgesamt – auf der Ebene des Verhaltens – als erstaunlich wenig verändert im Vergleich zu den 70er Jahren, meint aber, dass die symbolische Bedeutung der Sexualität für Jugendliche abgenommen hätte und Sexualität also selbstverständlicher geworden sei, was alle Möglichkeiten zulasse: „Das Sexualleben der Heranwachsenden … oszilliert heute zwischen stiller Beziehungstreue und schrillen Selbstinszenierungen auf Liebesparaden“ (ebd. S. 3).
Nicht nur an den Untersuchungen zur Jugendsexualität wird sichtbar, dass sexuelle Einstellungen und Verhaltensweisen stark durch den jeweiligen soziokulturellen Hintergrund geprägt werden. Beispielsweise gibt es Kulturen, in denen bezüglich bestimmter sexueller Praktiken sehr freizügige Einstellungen bestehen, während diese in anderen eher restriktiv sind. Auch unterliegen sexuelle Werte, Einstellungen und Praktiken immer einem historischen Wandel, der sich in der Postmoderne an unterschiedlichen Phänomenen zeigt, die beispielsweise bei Schmidt, 2004, Sigusch, 2005 oder Strauß, 2007 skizziert sind.

1.3 Sexuelle Sozialisation und Beziehungsgeschichte

Neben der Berücksichtigung biologischer und soziokultureller Einflüsse wird speziell in der klinischen Arbeit mit Patienten mit sexuellen Störungen – weitgehend unabhängig von der theoretischen Ausrichtung – davon ausgegangen, dass das sexuelle Erleben und Verhalten auch das Resultat einer komplexen Lerngeschichte darstellt, in der intrapsychische und interpersonale Prozesse eine gleichermaßen bedeutende Rolle spielen. Insbesondere spezifische Beziehungserfahrungen mit signifikanten Personen – die keineswegs notwendigerweise allesamt (potentielle) Sexualpartner sein müssen – werden als relevant für die Entwicklung von interpersonalen Stilen im Kontext der Sexualität gesehen, ebenso für die Entwicklung von speziellen Vorlieben und Aversionen gegenüber Personen und sexuellen Praktiken. Beziehungserfahrungen determinieren also maßgeblich die sexuelle Sozialisation im Kontext der sozialen Umwelt (vgl. z. B. die Theorie der sexuellen Skripte; Gagnon, 2000).
In der Sozial-, Persönlichkeits- und Entwicklungspsychologie sind es insbesondere zwei Theorien, die im Zusammenhang mit der Formierung sexueller Beziehungsmuster hilfreich sein können: Die interpersonale Theorie der Persönlichkeit, die auf Autor(inn)en wie Horney, Sullivan, Leary und Kiesler zurückgeht und ein Modell für die Entwicklung und Phänomenologie interpersonalen Verhaltens, interpersonaler Motive, Einstellung und Probleme bietet. Im Kontext dieser Theorie wurden bislang allerdings nur wenige Studien durchgeführt, die einen Bezug zu sexuellen Problemen und Verhaltensweisen erlauben.
Die Bindungstheorie bietet ein entwicklungspsychologisches Modell für die Entstehung von Beziehungen und inneren Repräsentanzen des Selbst und anderer Personen und eine Basis für die Qualität von Beziehungen. Im Sinne Bancrofts (1986) wäre die Bindungsfähigkeit ein wesentlicher Bestandteil der „Kapazität für enge dyadische Beziehungen“. Es liegt nahe, einen Zusammenhang zwischen der Bindungsentwicklung und der Entwicklung sexuellen Erlebens und Verhaltens anzunehmen. Es liegen bereits einige empirische Befunde zum sexuellen Verhalten und Erleben in Abhängigkeit von Bindungsmustern vor (z. B. Brenk, 2005). Bisherige Studien deuten beispielsweise an, dass eine sichere Bindung eher einher geht mit einer vergleichsweise geringeren Präferenz für Sex außerhalb der Beziehung sowie einer größeren Bedeutung von Gegenseitigkeit und körperlichem Kontakt in sexuellen Beziehungen. Für Personen mit ambivalenter Bindung scheinen sexuelle Praktiken weniger Bedeutung zu haben als die Erfahrung von Zärtlichkeit und „Gehaltenwerden“. Personen mit abweisender Bindung sollen eher eine positivere Einstellung zu Gelegenheitssex („one night stands“) und „Sexualität ohne Liebe“ zeigen und weniger Intimitätsempfinden berichten.
Die Befunde, die in Kapitel 3 ausführlicher dargestellt werden, sind vielversprechend genug, um sie in klinische Reflexionen über die Entstehung und Aufrechterhaltung sexueller Störungen zu integrieren. Um dies an einem konkreten Beispiel zu demonstrieren, werden wir im Folgenden zunächst eine Fallvignette darstellen und diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln, einschließlich dem bindungstheoretischen und dem interpersonalen, diskutieren. Leser, denen diese Perspektiven noch wenig vertraut sind, können in den Kapiteln 3 und 4 ausführlichere Informationen zu den Theorien erhalten und sollten diese beiden Abschnitte ggf. vor dem Kapitel 2 studieren.
1 Teile dieses Kapitels sind einem Aufsatz des Erstautors für das Bundesgesundheitsblatt zum Thema „Sexuelle Entwicklung im Kontext soziokulturellen Wandels“ entnommen (vgl. Strauß, 2007).

2 Fallbeispiel 1: Verhungern auf halber Strecke

Herr L.2, 45 Jahre alt, wird in eine psychosomatische Ambulanz mit der Diagnose „Versagen genitaler Reaktionen“ (F52.2) überwiesen.
Symptomatik: Der Patient kommt auf Veranlassung eines internistischen Kollegen, bei dem er mehrere Monate wegen eines Hypophysenadenoms und einer damit einhergehenden Hyperprolaktinämie in Behandlung war (Es handelt sich hierbei um eine bei Männern eher seltene Hormonstörung, von der allerdings bekannt ist, dass sie die Sexualität, speziell die sexuelle Appetenz, negativ beeinflusst).
Mit der Hormonstörung ging ein Libidoverlust einher, dem später Erektionsstörungen folgten. Durch die Vergabe von Bromocriptin konnten die Hormonwerte wieder ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorbemerkung
  6. 1 Einleitung: Sexuelle Entwicklung1
  7. 2 Fallbeispiel 1: Verhungern auf halber Strecke
  8. 3 Grundlagen der Bindungstheorie
  9. 4 Grundlagen einer interpersonalen Theorie der Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung
  10. 5 Bedeutung der Theorien für das Verständnis der menschlichen Sexualität
  11. 6 Fallbeispiel II: Der Geruch der Mutter
  12. 7 Zusammenfassung
  13. Literatur
  14. Stichwortverzeichnis