1 Strukturelemente
Zu den Strukturelementen des Pietismus zählen die Sammlung der wahrhaft Gläubigen in Konventikeln vor Ort als Kerngruppe kirchlicher Reform wie im Spener’schen Pietismus oder in der Separation wie meist im radikalen Pietismus, sowie die Pflege von geistlichen Freundschaften und der Aufbau von länderübergreifenden Netzwerken mit intensiver Kommunikation durch Gespräche, Publikationen (Erbauungsschriften, erbauliche Zeitschriften), Korrespondenzen und Besuche, hinzu kommt ein reformerischer Aktivismus wie im kirchlichen Pietismus oder ein eher charismatisch-ekstatisches Christentum wie im radikalen Pietismus. Damit verbunden waren auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität chiliastische Hoffnungen. Der Reformaktivismus nahm im Hallischen Pietismus dank obrigkeitlicher Unterstützung feste institutionelle Formen mit weitreichendem gesellschaftlichem Einfluss an. Als beachtlich innovativ in der Entwicklung von neuen internen Gemeinschaftsformen erwiesen sich die Herrnhuter und verschiedene radikalpietistische Gruppierungen.
Der unter Gelehrten und Dichtern in humanistischer und barocker Tradition gepflegte Freundschaftskult wurde im Pietismus unter dem Vorzeichen der geistlichen Freundschaft egalisiert und in eine intensive Besuchs- und Korrespondenzkultur eingebettet. Standes- und Geschlechtergrenzen wurden dabei relativiert (Brüder und Schwestern »in Christus«, Martin Luthers Konzept des »allgemeinen Priestertums aller Gläubigen«). Dies schlug sich zum Beispiel in einem vermehrten Engagement von Laien in der Sterbebegleitung nieder. Nichtadelige Frauen hatten es mit dem Aufbau eigener Freundschafts- und Korrespondenznetze schwerer als Männer. Doch auch verheiratete bürgerliche Pietistinnen überschritten zuweilen die traditionellen Grenzziehungen in eigenen Formen der Freundschaftspflege.
Vor allem die Konventikelbildung und die Rezeption chiliastischer Motive unterschieden den Pietismus von der klassischen Orthodoxie und ihren Frömmigkeitsidealen. Anderes hatte orthodoxe Vorbilder im kirchlichen Arndtianismus, so die biblisch orientierte Frömmigkeitspraxis (praxis pietatis) zur Heiligung des Alltags und der »Reformation des Lebens«, die Kritik an der als »verweltlicht« kritisierten Traditionskirchlichkeit, die Individualisierung des Glaubens in der Pflege eines vertieften Sünden- und Erlösungsbewusstseins um Buße und Bekehrung bzw. Wiedergeburt sowie eine rigorose Handlungsethik.
Bei der frühen Ausbreitung der Bewegung und der Organisation der Konventikel kam Geistlichen und Angehörigen des gehobenen Bürgertums sowie unterstützungswilligen Obrigkeiten eine tragende Rolle zu. Mit ihrer Hilfe fasste der Pietismus in allen Bevölkerungsschichten Fuß. Eine eigene Rolle bei der Ausbreitung der Bewegung und insbesondere der Umsetzung von Reformen spielte der sog. Adelspietismus an verschiedenen Höfen. Er half bei der strategischen Besetzung kirchlicher Ämter. Diese war von der zeittypischen Protektion bestimmt. So waren in Württemberg und in Hessen-Darmstadt – beide Herrscherhäuser waren eng miteinander verwandt – einflussreiche Fürstenmütter tätig, welche die junge pietistische Bewegung in ihren Ländern unterstützten. Nicht wenige Pietisten kamen nur dank der Fürsprache von Fürstenfrauen und -müttern, die eng mit pietistischen Hofpredigern verbunden waren, zu ihren Professuren. Bei radikalpietistischen Gemeinschaftsbildungen spielten enthusiastische Prediger(innen) und Prophet(inn)en eine tragende Rolle, wie überhaupt die religiöse Selbständigkeit der Frau in diesen Kreisen weiter entwickelt wurde als im kirchlichen Pietismus.
Die Konventikelbildung wurde durch die weltlichen und geistlichen Obrigkeiten im Alten Reich in aller Regel bekämpft, wenngleich unterschiedlich streng. Lutheraner, Reformierte und Katholiken sahen hier eine neue schwärmerische »Sekte« aufkommen, die keiner der reichsrechtlich tolerierten Konfessionen zugeordnet werden konnte. Mit sog. Pietisten-Edikten bzw. -Reskripten versuchten die weltlichen Obrigkeiten, der Bewegung Einhalt zu gebieten oder sie zumindest effektiv zu kontrollieren (→ KTGQ 4, Nr. 25). Kirchlicherseits bekamen die unterschriftliche Verpflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnisschriften und die strikte Wahrung der kirchlichen Ordnungen neues Gewicht.
Eine 1736 von Erdmann Neumeister im Geist der Wittenberger Spätorthodoxie veröffentlichte Sammlung von in Europa und Amerika erlassenen einschlägigen Edikten und Verordnungen zeigt, wie grundsätzlich und kompromisslos dieser Kampf gegen den Pietismus noch eingefordert wurde, als die Bewegung längst Fuß gefasst hatte und ein generelles Verbot Illusion geworden war. Die obrigkeitlichen Maßnahmen gegen »Pietisten, Schwärmer und ander solch Ungeziefer« sollten den »pietistischen Satan« entlarven und die Anwendung des Ketzerrechts gegen die Bewegung rechtfertigen. Deutlich kam die Sorge vor dem Autoritätsverlust des universitär gebildeten Theologen gegenüber dem unstudierten Laien in Glaubensfragen zum Ausdruck. Aus den in den obrigkeitlichen Verordnungen behaupteten Irrlehren rekonstruierte Neumeister einen »Pietisten-Katechismus«, um den Widerspruch zur kirchlichen Lehre zu demonstrieren.
Dem kirchlichen Pietismus gelang nach und nach eine Integration der Konventikel. Im radikalen Pietismus mit seinen strengen Heiligkeitsidealen und oft massiv chiliastischen Endzeiterwartungen führten sie, hielt man an einer Gemeinschaftsbildung fest, in der Regel zur Separation von der Kirche, die als verweltlichte »Hure Babylon« galt. Andere radikale Pietisten und deren Sympathisanten, insbesondere solche in kirchlichen Ämtern, mieden bewusst die Separation, um in der Kirche für ihre Reformideale zu wirken.
Die pietistische »Sammlung der Gläubigen« führte zur Ausbildung einer spezifischen Gruppenkultur, die sich bewusst von der Umwelt (als »Welt«) abgrenzte und damit gegenkulturelle Züge annahm. Die endogame Heiratsstrategie – man suchte sich den Partner bevorzugt in den eigenen Kreisen – wie auch die vielfältig nach innen gerichteten Kommunikationsformen begünstigten die Abgrenzung bzw. die tendentielle Selbstabschließung mit ihren Vor- und Nachteilen. Von hohem pädagogischem Wert für Individuum und Gemeinschaft waren das Tagebuchschreiben und die (auto-)biographischen Aktivitäten, welche der Selbstvergewisserung sowie der Stabilisierung des Gruppenbewusstseins dienten. Sie stützten die Etablierung einer spezifisch pietistischen Memorialkultur. Diese diente der Erinnerung des Exemplarischen in der Glaubens- und Heilsgeschichte, nicht der Entfaltung autonomer Subjektivität.
Als religiöses Subjekt wurde die Frau hoch geschätzt, doch herkömmliche Geschlechterrollen blieben in aller Regel unhinterfragt. Der primäre Zuständigkeitsbereich der Frauen war der der Haushaltsführung und der Kindererziehung sowie der Kranken- und Wöchnerinnenpflege. Hinzu kam die geistliche Begleitung Bedürftiger. Doch auch unter patriarchalen Bedingungen lässt sich aufgrund des gewachsenen Bewusstseins spiritueller Gleichheit eine tendentielle Stärkung der Rolle der Frau beobachten. Gerade als »Gehülfinnen« ihrer Männer konnten Frauen die Bereiche eigenverantwortlichen Handelns ausbauen, etwa in der Mitarbeit im Publikationswesen. Ihre Rolle als selbständige Gesprächspartner ist nicht zu unterschätzen. Allenfalls im Herrnhutertum und im radikalen Pietismus kam es aufgrund der spirituellen Gleichheit der Geschlechter zu weitergehenden Rollenveränderungen, etwa in der Übernahme gemeindeleitender Funktionen.
In Alltag und Beruf herrschte eine strenge Ökonomisierung der Zeit, die nicht für »weltliche« Vergnügungen verschwendet werden durfte. Auch die Reich-Gottes-Arbeit forderte Disziplin und Fleiß. Entsprechend gestaltete man die Kindererziehung. Zur betont bibelorientierten Erziehung zählte das frühe Memorieren von Psalmen und biblischen Geschichten.
Im Blick auf Sexualität und Ehe gab es unterschiedliche Ansätze. Neben der traditionellen Hochschätzung der Ehe standen Idealisierungen der jungfräulichen Ehe (»keusche« Ehe ohne Geschlechtsgemeinschaft) und der Ehelosigkeit. Trotz mancher Tendenzen, die »fleischliche Lust« bevorzugt im Sexualakt zu sehen, kann nicht von einer generellen Leibfeindlichkeit des Pietismus ausgegangen werden.
Das große Interesse vieler Pietisten an Medizin und Naturwissenschaft war von den hermetisch-magischen Ansätzen des Paracelsismus mitbestimmt, nach welchen sich Gottes- und Welterkenntnis, Bibel- und Naturstudium nicht voneinander trennen ließen. Daran partizipierte auch die intensivierte Selbstbeobachtung als gleichsam geistliche Psychologie.
2 Philipp Jakob Spener und die Anfänge des lutherischen Pietismus
Die Hauptrolle bei der Entstehung des lutherischen Pietismus in Frankfurt/M. spielte der von der Straßburger Orthodoxie (Johann Konrad Dannhauer, Johann Schmidt) herkommende Philipp Jakob Spener, seit 1666 Senior der Frankfurter Pfarrerschaft. Er wurde zu einem der bedeutendsten Kirchenmänner und Theologen seiner Zeit. Ein einflussreicher Gesprächspartner Speners bei der Ausbildung seiner Reformgedanken war der mit ihm befreundete Jurist Johann Jakob Schütz. Dieser lenkte den Blick auf die Sammlung der Gläubigen in erbaulichen Konventikeln nach urchristlichem Vorbild und auf die chiliastische »Hoffnung besserer Zeiten« für die Kirche auf Erden. Was bei Schütz und seinen Anhängern von Anfang an überkonfessionell auf ein rein biblisches, nicht an kirchlichen Bekenntnissen orientiertes Christentum ausgerichtet war, band Spener mit seinem von Martin Luther in dessen Vorrede zur Deutschen Messe angeregten Gedanken einer »ecclesiola in ecclesia«, einer »kleinen [wahren] Kirche in der [allgemeinen] [Groß-]Kirche«, also einer Art Kerngemeinde, in das innerkirchliche Reformstreben im Sinne des orthodoxen Arndtianismus ein.
Konkret wurde die Sammlung der Gläubigen vor Ort erstmals 1670, als Spener begann, in seinem Pfarrhaus zusammen mit Schütz regelmäßig private Erbauungsversammlungen (collegia pietatis, auch exercitia pietatis, Konventikel) abzuhalten. Diese waren von Spener als Bindeglied zwischen öffentlichem Gottesdienst und Hausandacht bzw. Privaterbauung des Einzelnen gedacht. Sie sollten helfen, die gottesdienstliche Praxis, vor allem die Predigt, stärker für die gelebte Frömmigkeit der Gemeindeglieder fruchtbar zu machen (vgl. Kol 3,16). Die geistliche Zielsetzung war im Grunde dieselbe wie die der orthodoxen häuslichen (Predigt-)Meditation. Anfangs kam in der zweimal wöchentlich tagenden Versammlung eine kleine Gruppe Frankfurter Bürger – unter ihnen Theologen, Schulvorsteher (Scholarc...