ADHS kontrovers
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ADHS kontrovers

Betroffene Familien im Blickfeld von Fachwelt und Öffentlichkeit

  1. 266 Seiten
  2. German
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ADHS kontrovers

Betroffene Familien im Blickfeld von Fachwelt und Öffentlichkeit

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Eltern suchen oft jahrelang vergeblich Hilfe für ihr lernschwaches und verhaltensauffälliges Kind. Immer häufiger wird die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) gestellt und medikamentös behandelt. Kritiker warnen vor der medikamentösen Therapie und sehen die Ursachen für ADHS vorrangig in ungünstigen Umwelteinflüssen.Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen als Pädagogin und aus der Selbsthilfearbeit geht die Autorin den Gründen für diese oft tiefenpsychologisch motivierte Kritik nach. Sie stellt die Ursachen und Folgen der ADHS in einen Zusammenhang mit der Diskussion um erzieherische, schulische und gesellschaftliche Probleme.Mit zahlreichen authentischen Beispielen werden die großen Probleme ADHS-betroffener Familien dargestellt. Mediziner, Psychologen, Pädagogen, Soziologen und Juristen sowie Laien finden in diesem Buch wertvolle Informationen, die sie bisherige Annahmen vielleicht hinterfragen lassen.

Häufig gestellte Fragen

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Information

1 Zumutungen

1.1 Wechselwirkungen

„Erziehung ist nicht kinderleicht“ – wie selbstverständlich wissen wir darum, und wir meinen damit die alltäglichen Probleme, die mit dem Alter der Kinder und Jugendlichen einem Wandel unterworfen sind und die Eltern auch schon hin und wieder zur Verzweiflung bringen oder in Wut versetzen können. Wer indes annimmt, dass Kinder mit einer ausgeprägten Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) lediglich etwas mehr Nervenstärke auf Elternseite benötigen als Kinder ohne ADHS oder eine andere schwerwiegende chronische Erkrankung oder Behinderung, der (oder die) verkennt die Vehemenz, oft Dramatik, mit der sich der Alltag in vielen von einer ADHS geprägten Familien ereignet. Wie verheerend sich die ADHS-Problematik mit entsprechenden Begleitstörungen ohne adäquate Therapie für die Betroffenen selbst und für ihre Familie auswirken kann, das wissen jene, die es erleben.
Speziell zu betrachten sind hochproblematische Familiensituationen aufgrund starker und komorbider ADHS-Betroffenheit beider Eltern, was Thema der entsprechenden Fachdisziplinen werden muss.
Wie noch auszuführen sein wird, zeichnet sich die Störung dadurch aus, dass es ein überaus großes Spektrum an Verhaltensweisen der Betroffenen gibt, die jeweils ein ganz individuelles Charakterbild eines Menschen zeichnen, was leicht zu der Annahme führen kann, dass dieses Kind und jener Jugendliche nicht unter demselben Grundproblem leiden können. Die verträumte und die hyperaktive Form der ADHS seien hier nur beispielsweise als Gegenpole genannt, wie auch die Ausprägung eine leichte und eine sehr schwere sein kann und die komorbiden Störungen (Begleiterkrankungen) viele oder wenige, starke oder schwächere sein können. Dass auch eine niedrige oder besonders hohe Intelligenz im Verbund mit der ADHS Probleme besonderer Art hervorrufen kann, ist bekannt. Insbesondere eine (schwere) oppositionelle Störung des Sozialverhaltens mit (starker) Neigung zur Aggression bei kleinen und großen ADHS-Kindern, die vielleicht schlimmste Ausprägung der Aufmerksamkeitsstörung, kann das Familienleben in einen Abgrund ziehen.
Der Blickwinkel aus Elternsicht zeigt, dass die Ausprägung der ADHS-Betroffenheit des Kindes bzw. der familiäre Leidensdruck die Schwere der seelischen Verletzungen bedingen kann. Dies sind nicht nur die Verletzungen, die Eltern durch ihr Kind erfahren und Kinder durch ihre Eltern, sondern auch Kränkungen aus professionellem, aber ADHS-unkundigem Mund. Was die Verletzungen der Eltern betrifft, scheint ein großes Ungleichgewicht zwischen Vätern und Müttern durchaus üblich zu sein: Nicht nur das Kind teilt in Richtung Mutter kräftiger aus, sondern auch die Kränkungen, die bei falschen Diagnosen auf die Mutter abzielen, sind geradezu sprichwörtlich, wie die vielen Berichte von Müttern in der Selbsthilfegruppe immer wieder belegen.
Dabei mag es eine größere Verwundbarkeit der Mütter sein, eine größere Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, oder eine größere Bereitschaft, sich beschuldigt zu fühlen oder eine Schuld bei sich selbst anzunehmen – Mithilfe von Studien könnte man dies vielleicht herausfinden. Deutlich ist, dass der Leidensdruck einer Familie meist von den Müttern in aktive Suche nach Hilfe umgesetzt wird, was sich in den regelmäßigen Treffen der Selbsthilfegruppen widerspiegelt. Dementsprechend arbeiten in der Selbsthilfe meist Frauen aktiv mit. Diesem Ungleichgewicht liegt vermutlich auch die Berufstätigkeit der Väter zu Grunde, was deren Passivität ein wenig entschuldigen mag.
Die Eltern schwer betroffener ADHS-Kinder sind physisch wie psychisch in einer Weise belastet, die von außen kaum realistisch eingeschätzt werden kann, denn das Zuhause bildet in erster Linie den Rahmen für die vielen unschönen, teilweise haarsträubenden Szenen, die vor über 150 Jahren der Nervenarzt Heinrich Hoffmann in seinem „Struwwelpeter“ in Verse und Bilder gefasst hat.
„Es hört nie auf!“, bemerkt, durchaus ohne Resignation, eine kompetente und engagierte Pflegemutter von vier Kindern, alle mit sehr verschieden ausgeprägter ADHS, weil nach einem Problem, dessen Lösung noch nicht in Sicht ist, sich schon das nächste ereignet.
Insbesondere das hyperaktive Kind, der hyperaktive Jugendliche mit ADHS und einer Störung des Sozialverhaltens verlangt täglich mehr, als eine „gute“ Mutter, ein „guter“ Vater leisten kann, was auch immer man unter „guten“ Eltern verstehen mag. Manches ADHS-Kind „verdirbt“ sich ohne Absicht seine Eltern, die doch in einer gewissen Harmonie mit ihrem Kind leben möchten, sich aber täglich zu Reaktionen gezwungen sehen, die sie eigentlich ablehnen. Manche liebesfähigen und eigentlich starken Eltern, die Jahre mit ihrem schwer betroffenen Kind zusammenleben, das mit zunehmendem Alter immer härter und verschlossener wird, wissen vielleicht irgendwann nicht mehr, ob sie ihr Kind überhaupt noch wirklich lieben können. Für Außenstehende müsste es vollkommen unverständlich sein, wenn Eltern diesen Gedanken aussprechen würden.
„Ich habe Angst vor meinem 18-jährigen Sohn“, gesteht eine Mutter ihrer Schwester, „aber ich versuche, ihn das nicht merken zu lassen“. Sie will eigentlich nicht mehr mit dem jungen Mann zusammenleben, aber sie weiß, dass er alleine völlig unfähig ist, sein Leben zu organisieren.
„Wenn mein Sohn nicht seine Medikamente bekäme, dann hätte ich heute wahrscheinlich Angst vor ihm“, sagt die Mutter eines oppositionellen Jugendlichen, der zu verbaler Aggression und zu Wutausbrüchen neigt. Sie sagt, dass sie, seitdem er 14 war, eine immer größer werdende Distanz zu ihm verspüre. Dem Psychologen, der anscheinend ergebnislos jahrelang eine Verhaltenstherapie bei dem Jungen durchführte, schrieb sie anfänglich in den Fragebogen darüber, was sie sich von der Therapie erhoffe: „dass die Liebe nicht verloren geht“. Heute berichtet sie von ihrem Gefühl, dass ihre Mutterliebe vielleicht doch schon am Schwinden ist. Ihre Mühen am großen Kind sind eher zur Erfüllung ihrer Pflicht als Mutter geworden, und sie sieht wie ihr Partner mit großer Sorge in die Zukunft des Sohnes.
Eltern, die ihr Kind bereits ans Gefängnis verloren haben, fühlen sich zerrissen zwischen Liebe und tiefster Enttäuschung – Hass? Sie wissen es vielleicht selber nicht. Eine schwere Ausprägung der ADHS beim Kind belastet die Eltern-Kind-Beziehung und die Paarbeziehung schwer. Sie formt die Erwartungshaltung und Verhaltensweisen der Eltern, die wiederum das Kind belasten. Es entsteht eine Kommunikation, die anders ist als in anderen Familien. Enttäuschung ergreift Besitz von Eltern, die sich einmal so sehnlichst ein Kind gewünscht haben …
Besonders nichtberufstätige Mütter, entsprechend Väter, in noch größerem Maß allein erziehende Mütter mit einem ADHS-Kind, sind in Gefahr zu vereinsamen. Sie können seltener als andere Eltern berufstätig sein oder persönlichen Interessen nachgehen, weil das stärker betroffene Kind auch später noch den ganzen Tag ein hohes Maß an Zuwendung, Aufmerksamkeit und Kontrolle braucht, so wie andere Kinder mit ein, zwei oder fünf Jahren – denn es ist stets mit allerlei Unfug zu rechnen. Kontakte zu anderen Eltern, die sie über Kindergarten oder Grundschule kennen lernen, bleiben flüchtig. Nach einem ersten oder zweiten Besuch hat nicht nur das fremde Kind genug von den Regelverletzungen des ADHS-Kindes, auch dessen Eltern finden zu wenig Positives an dem Treffen, um es wiederholen zu wollen. Die Interessen besonders der Mütter von Kindern mit ADHS liegen brach, sodass ihnen auch die notwendigen Erholungsphasen für Leib und Seele fehlen.
Gemeinsamen Einladungen folgt über viele Jahre, wie bei Eltern kleiner Kinder, oft nur ein Elternteil, denn sie haben niemanden auf Dauer, der auf ihr Kind aufpasst – nach kurzer Zeit stellen Babysitter fest, dass sie dieses Kind nicht zur Ruhe bekommen. Auch sie sind bald überfordert. Nicht selten meiden Nachbarn und Freunde bald den ehemals gewohnten Kontakt, denn der kleine und bald der große Störenfried wird doch zunehmend lästig und unangenehm, insbesondere wenn die Störung des Sozialverhaltens frühzeitig zu erkennen ist. Vielleicht fühlt man sich nun auch unangenehm berührt durch das Erziehungsverhalten der Mutter oder des Vaters, mit dem etwas unfreundlich wirkenden, nicht mehr so liebevoll klingenden, häufig ermahnenden Ton dem Kind gegenüber.
Die mütterlichen Kraftreserven sind nach wenigen Jahren, je nach der Art und der Schwere der Betroffenheit des Kindes und je nach der Konstitution der Mutter erschöpft. Sie fragt sich schon lange: Was habe ich nur falsch gemacht? Bluthochdruck oder eine reaktive Erschöpfungsdepression, nach außen vielleicht noch mit antrainiertem Lächeln kaschiert, folgt bei vielen, die, sich mühsam von einem Tag zum nächsten hangelnd, hoffen: Vielleicht kommt bald der Verstand bei diesem Kind, und dann wird es besser … Diese totale Überforderung und in deren Folge auch Aggression münden in einen fatalen Teufelskreis: Gerade dieses Kind, das so besonders feste Grenzen, ständiges Kümmern, Kontrollieren, erneutes Nachsetzen und auch Nachsicht braucht, dazu viel, viel Geduld und Zuwendung, Lob und freundliche Bestätigung, es saugt die Energien der Mutter aus und sorgt so womöglich dafür, dass ihre bisher intensive Erziehungsarbeit schwächer wird und es vielleicht zu einer gewissen Resignation kommt, insbesondere wenn sie selbst ADHS-betroffen ist. Eine Verstärkung der Symptomatik ist dann beim ADHS-Kind unausweichlich, und es verbreitet immer mehr Chaos. Das Kind will endlos Aufmerksamkeit, aber es bekommt immer „zu wenig“, mit der Zeit vielleicht sogar immer weniger, insbesondere dann, wenn mehrere (ADHS-)Kinder und ein ADHS-Partner die Mutter überbeanspruchen.
Deutlich wird oft, dass Beziehungsprobleme in der Familie mit einem schwerer betroffenen ADHS-Kind Sekundärfolgen der ADHS sind, die dann symptomverstärkend auf das Kind zurückwirken: Freudlosigkeit, häufiger Streit und Unfrieden mit der typischen Aggressionsspirale, nicht selten Trennung, besonders bei selbst betroffenen Eltern.
Eltern greifen vielleicht irgendwann zu Erziehungsmethoden, die sie eigentlich ablehnen: Sie schreien ihr Kind an, sie zerren und schütteln es, damit es doch endlich reagiere und gehorche, sie schlagen es sogar, vielleicht erst nur ein Klaps, doch da das auch nicht hilft, wird vielleicht mehr daraus. Das hilft zwar auch nicht, aber die Nerven liegen blank, und Mutter und Vater schauen in Abgründe ihrer Seele, wo sie nie geahnte Aggressionen spüren. Erschrocken über sich selbst, beginnen sie sich zu schämen, nehmen sich vor, die Geduld nicht mehr zu verlieren …
Eine der schlimmsten Aussagen von Eltern ihrem Kind gegenüber ist die Androhung von Trennung oder dass sie es nicht (mehr) lieben oder dass sie es gar nicht mehr haben wollen. In schwer betroffenen Familien geschieht solches vermutlich viel zu oft. Kein Außenstehender wird verstehen und akzeptieren können, dass eine verzweifelte Mutter ihrem aggressiven Sohn sagt: „Wenn das nicht aufhört, dann musst du in ein Heim, ich halte das nicht mehr aus …“. Und sie hofft, dass diese nicht als Drohung, sondern aus Verzweiflung gemachte Aussage etwas im Kind bewegen kann.
Glücklicherweise können gemütvolle ADHS-Kinder wenigstens dafür sorgen, dass Mutter und Vater immer wieder mal ein Trostpflaster bekommen, eine spontane Entschuldigung, den leider oft vergeblichen Vorsatz, es nie wieder tun zu wollen. Die Eltern-Kind-Beziehung erfährt wieder eine kleine Stärkung, und die Eltern schöpfen Kraft für den nächsten Tag.

1.2 Wer glaubt schon einer Mutter...

1.2.1 … ihr Umfeld?

Hinweise aus der eigenen Familie und aus dem Freundeskreis sind leicht dazu angetan, die Mütter als die in der Regel erste Bezugs- und Erziehungsperson des ADHS-Kindes zu kränken. Oft reichen auch bereits vage Andeutungen, um die Mutter in eine Verteidigungsstellung zu bringen. So stößt denn auch der Hinweis einer klugen Großmutter: „Der Junge ist hyperaktiv“ bei seiner Mutter auf reflexartige Abwehr: „Der hat nur mehr Temperament“. Auch wenn die Mutter schon länger fühlt, dass wohl „irgendetwas mit dem Kind nicht stimmt“, so stellt sie sich doch erst einmal schützend vor ihr Kind, das sie nicht schlechtreden lassen will. Sie ist wie der Vater doch auch stolz auf dieses Kind, denn es besitzt ja Eigenschaften, über die sie sich freut und die zeigen, dass allerlei in ihm steckt: vielleicht die originellen Ideen, seine intelligenten Fragen, die Offenheit für Neues, die Ausgelassenheit, vielleicht sein besonders hübsches Aussehen oder sein Charme …
„Die Umwelt signalisiert den Eltern voreilig und häufig unbedacht: ‚Ihr seid erziehungsinkompetent und habt ein grässliches Kind‘“, schreibt von Voss (2002, S. 15).
Mehr als Väter ernten Mütter von Seiten der eigenen wie auch der angeheirateten Familie sehr bald offene Vorwürfe, die dazu führen können, dass sie niemanden mehr hat, mit dem sie ihre Sorgen besprechen kann. Wird deutlich gemacht, dass die Mutter das Kind „doch wohl nicht so richtig erzieht“, ist es für sie schwer, argumentativ dagegenzuhalten. Sie hat ja nichts in der Hand als ihre vielleicht schon längst gehegte Ahnung, dass da etwas Rätselhaftes, vielleicht Unfassbares ist, das sie nicht in ihr bisheriges Bild von Kindern und Kindererziehung einordnen kann.
Vielleicht äußert die Mutter Außenstehenden gegenüber ihre Ansicht, dass das unerträgliche Verhalten ihres Kindes doch wohl krankheitsbedingt sein müsse und dass sie dem Problem auf den Grund gehen möchte, dann ist dies jedoch wiederum geeignet, sie selbst weiter in Misskredit zu bringen, denn sie dichtet ihrem Kind ja nun eine Krankheit an, weil sie unfähig ist, mit ihm klarzukommen. Man konnte die Unruhe ja schon merken, als das Kind gerade auf der Welt war …
Mütter tauschen ihre Gedanken, Erfahrungen und Sorgen gerne mit anderen Müttern aus der Bekanntschaft aus oder mit den Müttern, die sich in Mutter-Kind-Gruppen regelmäßig treffen. Im Beisein „dieses“ Kindes ist der Gedankenaustausch schwierig, schon allein die Teilnahme an der Gruppe, denn ihr Kind eckt früh bei den anderen Kleinen an, ist vielleicht nicht gruppenfähig, aggressiv und furchtbar laut und verhält sich regelwidrig – es stört. Bald fühlt sich die Mutter fehl am Platze und gewinnt vor den Augen anderer Mütter nicht wie diese die gewisse Ruhe und Selbstsicherheit im Umgang mit ihrem Kind. Sie merkt bald oder sie vermutet es vielleicht nur, dass man sie als Mutter doch eher abschätzig betrachtet, zumal insgeheim innerhalb einer solchen Gruppe leicht ein Konkurrenzdenken um sich greifen kann: Mein Kind kann schon alleine sitzen, ihr Kind ist noch immer nicht trocken, wieso schläft dein Kind denn nachts immer noch nicht durch? Und so weiter. Die Mutter des ADHS-Kindes stellt sich schon lange die Frage, was da mit ihrem Kind vor sich geht, auf das sie so wenig erfolgreich einwirken kann.
Insbesondere eine Störung des kindlichen Sozialverhaltens führt dazu, dass Freunde, Nachbarn, bekannte Eltern aus Kindergarten oder Schule den Kontakt zu den Eltern dieses Kindes bald stillschweigend oder eindeutig kommentierend abbrechen. Vielleicht nehmen sie einen Kontakt gar nicht erst auf: „Wenn die so ihr Kind erziehen, dann soll unser Kind dort nicht auch noch allen Unfug lernen“.
Bei der ADHS zeigt sich nicht selten, wer die wirklichen Freunde sind. Auch wenn’s schwer fällt, das Kind zu ertragen – gute Freunde bemühen sich, den Kontakt zu den Eltern zu halten, weil sie es ihnen wert sind.

1.2.2 … der Vater?

Wenn in diesem Kapitel vorrangig von den Müttern die Rede ist, so hat das einen realen Hintergrund: die enttäuschenden Erfahrungen vieler Mütter mit ihren Ehemännern oder Lebensgefährten. Auffallend viele allein erziehende Mütter, denen der Erzeuger ihres hyperaktiven Kindes nicht lange nach dessen Geburt oder auch schon vorher die Partnerschaft aufgekündigt hat, suchen Rat am Selbsthilfetelefon und bei den professionellen Helfern. Gar nicht selten bringen Frauen, die Bücher über die ADHS gelesen haben, zur Sprache, dass ihr „Ex“ sehr gut in das Bild des erwachsenen Hyperaktiven passt.
Mütter berichten, manchmal mit Tränen in der Stimme, über ihr Kind und die Folgen: Bevor das Kind da war, führte man eine „normale“ Partnerschaft, freute sich gemeinsam auf das Kind. Und nun ist es da und quält die Eltern vielleicht mit seinem extrem häufigen und lauten Geschrei, vielleicht mehr mit seiner Unruhe und Ungeduld oder mit seiner Wut und seinem tyrannischen Verhalten.
Viele Väter, zum Glück nicht alle, sind dem häuslichen Terror anscheinend noch weniger gewachsen als die Mütter: Sie entwickeln clevere Vermeidungsstrategien. Die Bandbreite väterlicher Fluchtburgen ist groß: der Beruf, der nun mehr Zeit und Energie kostet als früher, das Hobby oder das Ehrenamt, das fast jeden Abend und an den Wochenenden bedient werden muss, der Einkauf eines Zubehörteils oder der „kurze“ Besuch, der mal eben gemacht werden muss: Der Vater braucht eben seinen Ausgleich für die Lasten, die sein Beruf mit sich bringt, und es ist verblüffend, wie sehr manche in der Lage sind, sich selbst bei Anwesenheit aus dem unangenehmen Familienleben auszuklinken. Fernseher, Computer und Internet leisten dabei gute Dienste. Es scheint bisweilen, als fehle so manchem Vater die Möglichkeit, diese belastende Andersartigkeit seines Kindes überhaupt wahrzunehmen bzw. sie richtig einzuordnen. Dass vielfach die Väter es sind, die selber von einer Hyperaktivität betroffen sind, mag nicht selten auch die Diskrepanz zwischen der Realität des Kindesverhaltens und subjektiver väterlicher Wahrnehmung erklären. So verwundert es nicht, dass der Vater irgendwann, nachdem sich seine Ehefrau oft genug über seine mangelnde Unterstützung beklagt oder „genörgelt“ hat, ihr zu verstehen gibt, dass sie „das Kind ja auch nicht richtig erzieht“. Geradezu entwürdigende Vorwürfe hören Mütter bisweilen von ihre...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Geleitwort
  6. Vorwort und ein Bekenntnis
  7. 1 Zumutungen
  8. 2 Zur „Sache“ ADHS
  9. 3 Steine im Weg
  10. 4 Knackpunkt MPH (z. B. Ritalin®)
  11. 5 Sackgassen
  12. 6 Im Brennglas Schule
  13. 7 Wünsche
  14. Hilfreiche (Internet-)Adressen
  15. Literatur