1 Aufgaben der Diagnostik in schulischen Handlungsfeldern
1.1 Diagnostik als Methode zur Problemlösung
1.2 Diagnostik in schulischen Handlungsfeldern
1.2.1 Heterogenität der Lernvoraussetzungen
1.2.2 Strategien im Umgang mit heterogenen Lernvoraussetzungen
1.3 Adaptiver Unterricht
1.3.1 Aptitude-Treatment-Interaction
1.3.2 Grenzen der adaptiven Unterrichtsgestaltung
1.4 Adaptive Lehrkompetenz
1.4.1 Diagnostische Aufgaben im Rahmen der adaptiven Unterrichtsgestaltung
1.5 Doppelfunktion der schulischen Diagnostik
1.6 Weiterführende Literatur
Im Alltag trifft man oftmals auf die Vorstellung, psychologische Diagnostik ziele darauf ab, die grundlegende Persönlichkeitsstruktur des Individuums zu ergründen und verborgene Persönlichkeitszüge des Individuums offenzulegen. Nach diesen Alltagsvorstellungen wird unter psychologischer Diagnostik eine Methode zur Beurteilung von Menschen verstanden, die darauf ausgerichtet ist, verborgene Schichten der Persönlichkeit aufzudecken.
1.1 Diagnostik als Methode zur Problemlösung
In der Praxis werden diagnostische Methoden jedoch nicht eingesetzt, um die Persönlichkeit des Individuums zu ergründen und verborgene Motive oder Konflikte offenzulegen, sondern um praktische Probleme zu lösen. In diesem Sinne kennzeichnen Jäger und Petermann (1999, S. 11) die psychologische Diagnostik als »das systematische Sammeln und Aufbereiten von Informationen mit dem Ziel, Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen zu begründen, zu kontrollieren und zu optimieren«. Diesem Ansatz zufolge dient psychologische Diagnostik nicht der Beurteilung und Analyse der Persönlichkeitsstrukturen von Menschen, sondern der Lösung praktischer Probleme. Damit ist psychologische Diagnostik als eine Methode zur Problemlösung gekennzeichnet, mit der gezielt solche Informationen über die Person und ihr Umfeld erhoben und aufbereitet werden, die zur Entscheidungsoptimierung beitragen.
Diagnostik als Methode zur Problemlösung
Diagnostik als Methode zur Problemlösung ist ein problembezogener und zielgerichteter Prozess, bei dem von einer konkreten Problemstellung ausgehend solche Informationen über die Person und ihr Umfeld erhoben und zielgerichtet aufbereitet werden, die zur Entscheidungsoptimierung beitragen.
Diagnostik als Methodendisziplin
Jäger und Petermann (1999) nennen in ihrer Definition drei Stufen des diagnostischen Prozesses: die Sammlung, die Verarbeitung und die Interpretation diagnostisch relevanter Informationen. Welche Informationen gesammelt, wie sie verarbeitet und welche Schlüsse daraus gezogen werden, sollte nach Regeln erfolgen, deren Nützlichkeit sich empirisch erwiesen hat. Diese Regeln zu entwickeln, zu begründen und zu überprüfen, ist Aufgabe der Diagnostik.
Damit ist die psychologische Diagnostik auch eine methodische Disziplin, der die Aufgabe zukommt, ein Methodenrepertoire zu entwickeln, mit dem Informationen über Personen und ihre Umwelt-Bezüge erhoben, verarbeitet und interpretiert werden können. Grundlage dafür sind theoretische Konzepte und Paradigmen, die in Kapitel 3 dieses Lehrbuchs näher erläutert werden. Welche Informationen diagnostisch relevant sind und wie diese interpretiert werden, ergibt sich jeweils aus den wissenschaftlichen Konstrukten (z. B. Lernmotivation, schulisches Selbstkonzept), die in den weiteren Kapiteln dieses Lehrbuchs dargestellt werden.
Diagnostik als angewandte Disziplin
Die Diagnostik ist kein Selbstzweck; sie erhält ihre Berechtigung erst dadurch, dass mit ihrer Hilfe praktische Probleme gelöst werden können. Damit ist die psychologische Diagnostik als eine angewandte Disziplin der Psychologie gekennzeichnet, die Konzepte, Methoden und Verfahren bereitstellt, die in unterschiedlichen Praxisfeldern zur Lösung von Problemen eingesetzt werden können.
Welche Probleme mit Hilfe diagnostischer Methoden und Verfahren gelöst werden sollen, wird vom jeweiligen Praxisfeld vorgegeben. In jedem Praxisfeld stellen sich der psychologischen Diagnostik spezielle Aufgaben. So werden beispielsweise in der Verkehrspsychologie diagnostische Verfahren eingesetzt, um die Fahreignung von Verkehrsteilnehmern festzustellen. In der forensischen Psychologie (Rechtspsychologie) kommen diagnostische Verfahren zum Einsatz, die zur Entscheidungsfindung im Rahmen der Rechtsprechung beitragen, zum Beispiel zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen oder zur Entscheidung über die Schuldfähigkeit und strafrechtliche Verantwortlichkeit von Angeklagten. In der Markt- und Werbepsychologie werden diagnostische Methoden herangezogen, um zum Beispiel die Wirksamkeit von Werbemaßnahmen zu überprüfen oder die Marktchancen eines neuen Produkts zu erkunden. In der Klinischen Psychologie tragen diagnostische Verfahren unter anderem zur Klärung der Frage bei, ob der Klient therapiebedürftig ist und wenn ja, welche Therapie für ihn am besten geeignet ist (Therapieindikation).
Wie an diesen Beispielen deutlich wird, stellen sich in den verschiedenen Praxisfeldern jeweils spezifische Probleme, zu deren Lösung diagnostische Methoden und Verfahren beitragen können. Welche Aufgaben sich für Lehrkräfte in Schule und Unterricht ergeben, soll im Folgenden erörtert werden.
1.2 Diagnostik in schulischen Handlungsfeldern
Aufgabe der Lehrkräfte ist es, Lernprozesse bei allen Lernenden in Gang zu setzen und zu optimieren. Dabei treffen die Lehrkräfte in ihrer Klasse auf Schülerinnen und Schüler, die unterschiedliche Lernerfahrungen gemacht haben und unterschiedliche Voraussetzungen für das schulische Lernen mitbringen. Sie verfügen über unterschiedliche Vorkenntnisse, haben verschiedene Interessen und Vorlieben, unterscheiden sich in ihren kognitiven, sprachlichen und sozialen Kompetenzen und darin, wie sie lernen, welche Lernziele sie verfolgen und wie sie zum Lernen motiviert werden können. Diese und weitere Merkmale und Eigenschaften, die Einfluss darauf haben, wie Schülerinnen und Schüler lernen und wie erfolgreich sie lernen, werden zusammenfassend als schulische Lernvoraussetzungen bezeichnet.
Angesichts heterogener Lernvoraussetzungen stellt sich die Frage, in welcher Weise den individuellen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler in der Organisation des schulischen Lernens und in der Gestaltung der Lernprozesse im Unterricht Rechnung getragen werden soll. Die Herausforderungen, die sich angesichts heterogener Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler für die Lehrkräfte stellen, sind keineswegs neu. Bereits am Anfang des 18. Jahrhunderts erkannte Johann Friedrich Herbart (1776 - 1841), einer der Begründer der modernen Unterrichtswissenschaft, in den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler das »größte Hindernis der Schulbildung«:
»Die Verschiedenheit der Köpfe ist das größte Hindernis der Schulbildung. Darauf nicht zu achten ist der Grundfehler aller Schulgesetze, die den Despotismus der Schulmänner begünstigen und alles nach einer Schnur zu hobeln veranlassen« (Herbart 1808, S. 453).
Herbart bezeichnete in diesem Zitat die »Verschiedenheit der Köpfe« zwar als das größte Hindernis der Schulbildung; das eigentliche Problem – den »Grundfehler alle Schulgesetze« – sah er jedoch darin, diese Verschiedenartigkeit der Köpfe nicht zu beachten und stattdessen »alles nach einer Schnur zu hobeln«. Dieses Monitum hat auch nach mehr als 200 Jahren nichts von seiner Aktualität eingebüßt.
1.2.1 Heterogenität der Lernvoraussetzungen
Geht man vom Einzelnen aus, sind Schulklassen notwendigerweise heterogen. Jede Schülerin und jeder Schüler besitzt eine eigene Persönlichkeit, jede Schülerin und jeder Schüler unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von anderen Schülerinnen und Schülern. Die Zahl der Merkmale, nach denen sich Lernende unterscheiden, ist prinzipiell nicht begrenzt. Dazu gehören soziodemografische Merkmale wie zum Beispiel Geschlecht, Migrationshintergrund, Nationalität, Konfession, Wohnort, Familiengröße, aber auch lernrelevante Eigenschaften wie zum Beispiel die Lernbereitschaft, die Lernfähigkeiten oder die Interessen der Lernenden (Wischer, 2009). Für schulische Bildungsprozesse sind prinzipiell solche Heterogenitätsdimensionen wichtig, die einen engen Zusammenhang mit den individuellen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler aufweisen und damit Einfluss darauf haben, wie Schülerinnen und Schüler lernen und mit welchem Erfolg sie lernen.
Schulische Lernvoraussetzungen
Unter der Bezeichnung schulische Lernvoraussetzungen werden die Merkmale und Eigenschaften von Lernenden zusammengefasst, die Einfluss darauf haben, wie Schülerinnen und Schüler lernen und mit welchen Erfolg sie lernen.
Unterschiede in den für organsierte Lehr-Lernprozesse relevanten Voraussetzungen ergeben sich aus dem familiären, sozialen, ökonomischen, kulturellen und ethnischen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler, etwa aus dem sozioökonomischen Verhältnissen der Familie, aus dem Bildungs- und dem Migrationshintergrund der Familie, aber auch aus dem Geschlecht oder der physischen und psychischen Konstitution (Behinderung, chronische Krankheiten) der Lernenden (Prengel, 2006). Aus den damit einhergehenden Sozialisationserfahrungen entwickeln die Kinder unterschiedliche Lernbedürfnisse und Lernvoraussetzungen, beispielsweise unterschiedliche kognitive, sprachliche und soziale Fähigkeiten, die für das schulische Lernen notwendig sind.
In den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts richtete sich die Aufmerksamkeit zunächst auf einzelne Schülermerkmale, wie zum Beispiel die soziale Herkunft, das Geschlecht, die Behinderung und den Migrationshintergrund der Lernenden (Wischer, 2009). Anlass war die Erfahrung, dass bestimmte Gruppen von Schülerinnen und Schüler – beispielsweise Kinder aus bildungsfernen Familien oder Kinder mit Migrationshintergrund – im Bildungssystem benachteiligt werden. Um diese Benachteiligungen auszugleichen, wurde gefordert, den spezifischen Lernbedürfnissen dieser Schülergruppen in besonderer Weise Rechnung zu tragen. Durch schulorganisatorische Maßnahmen, aber auch durch gezielte Förder- und Unterstützungsangebote sollten die Benachteiligungen einzelner Gruppen von Schülerinnen und Schülern ausgeglichen und damit Chancengleichheit hergestellt werden.
Pädagogik der Vielfalt
Eine andere Antwort auf die Frage, wie heterogene Lernvoraussetzungen der Lernenden im Unterricht zu berücksichtigen sind, gibt das Konzept der Pädagogik der Vielfalt (Prengel, 1995). Im Rahmen dieses Ansatzes werden nicht einzelne Heterogenitätsdimensionen herausgestellt, auf die sich der Unterricht im besonderen Maße einzustellen hätte. In Anbetracht der Vielzahl von Merkmalen, nach denen sich Lernende unterscheiden, wird die Verschiedenheit als Normalfall und nicht als eine unerwünschte Ausnahme betrachtet, die den Lernerfolg gefährdet (»Jeder ist anders!«, »Alle sind verschieden!«). Dementsprechend soll die Heterogenität der schulischen Lernvoraussetzungen nicht durch kompensatorische Maßnahmen (z. B. Förderunterricht) abgebaut werden, sondern die Grundlage für die im Unterricht organisierten Lernprozesse darstellen.
Damit der Unterricht allen Lernbedürfnissen gleichermaßen Rechnung tragen kann, sind die schulischen Lernprozesse so zu gestalten, dass jeder Schülerin und jedem Schüler die Lernwege und die Lernziele offenstehen, die ihren individuellen Lernbedürfnissen und Lernmöglichkeiten entsprechen. Ziel ist nicht die Kompensation von Benachteiligungen einzelner Schülergruppen, sondern ein Unterricht, der allen Schülerinnen und Schülern ungeachtet ihrer individuellen Lernvoraussetzungen ein optimales Lernen ermöglicht.
Das Ziel, jeder Schülerin und jedem Schüler individuelle Lerninhalte, Lernziele und Lernwege zu eröffnen, erfordert nicht nur eine Individualisierung des methodisch-didaktischen Vorgehens im Unterricht, sondern beinhaltet auch eine Dekategorisierung, also den Verzicht auf eine Einteilung der Lernenden in Gruppen bei der Organisation schulischen Lernens. Somit wird mit der Pädagogik der Vielfalt auch die grundsätzliche Frage aufgeworfen, wie Schule und Gesellschaft zu organisieren sind, um »der geschlechtlichen, kulturellen und individuellen Verschiedenheit der Menschen gerecht werden [zu können]« (Prengel 1993, S. 17).
1.2.2 Strategien im Umgang mit heterogenen Lernvoraussetzungen
Ungeachtet aller Änderungen der Curricula und der schulorganisatorischen Rahmenbedingungen in den let...