1 Geschichte der Beziehungspsychologie
Im ersten, von Steve Duck et al. (1988) herausgegebenen Handbuch der Beziehungspsychologie (Handbook of Personal Relationships: Theory, Research, and Interventions) wird die Beziehungspsychologie vom Herausgeber noch als eine gerade erst neu entstandene psychologische Subdisziplin gekennzeichnet, deren Anfänge der Autor in den späten 1960er Jahren sieht und deren Entstehung nach seiner Auffassung wesentlich aus der Hinwendung der Sozialpsychologie zu experimentell orientierter Forschung resultiere, die in diesem Zeitraum unter Sozialpsychologen zunehmend an Einfluss gewann.
Die oft zitierte und treffende Feststellung von Allport (1954), dass die Psychologie als Wissenschaft eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte habe, trifft somit in besonderem Maße auch auf die Beziehungspsychologie zu: Sie gehört zwar mit zu den jüngeren Entwicklungen innerhalb der angloamerikanischen akademischen Psychologie, kann aber, wie auch im anschließenden Abschnitt noch deutlich werden wird, im Vergleich zu anderen psychologischen Teildisziplinen auf eine ebenso lange Vergangenheit zurückblicken.
Die nachfolgende Darstellung stützt sich auf Anmerkungen zur Entwicklung der Beziehungspsychologie von Berscheid & Reagan (2005) sowie vor allem auf eine Arbeit von Perlman & Duck (2006), in der die Geschichte der Beziehungspsychologie von ihren Wurzeln bis zu ihrem Stand am Beginn des 21. Jahrhunderts von ausgewiesenen Kennern dieses Gebiets nachgezeichnet wird und die dabei verdeutlicht, welche rasante Entwicklung das Fach in den letzten dreißig Jahren vollzogen hat und welche zukünftigen Entwicklungen zu erwarten sind.
1.1 Wurzeln der Beziehungspsychologie
Bei der Frage nach den Wurzeln ihrer Wissenschaft verweist die Psychologie stets auf ihre Anfänge in der griechischen Philosophie im Zusammenhang mit der Behandlung des Wesens und des Verhältnisses von Geist und Materie. Neben Heraklit, Demokrit, Epikur, Platon und einigen anderen wird dabei vor allem Aristoteles hervorgehoben, der als erster die Psychologie in systematischer Weise behandelt habe, wobei er neben spekulativen Betrachtungen auch empirische Tatsachen verwertete (Dorsch in Häcker & Stapf, 1998, S. 679 f.).
Aristoteles als einer der ersten Beziehungspsychologen. Für Perlman & Duck (2006, S. 13) gehen die Anfänge der Beziehungspsychologie ebenfalls vornehmlich auf Aristoteles zurück, der sich in seinen Schriften, wie z. B. in der Rhetorik und der Nikomachischen Ethik, ausführlich mit Beziehungsfragen beschäftigt hat, wobei insbesondere die Auseinandersetzung mit Freundschaftsbeziehungen vor allem in der Ethik einen breiten Raum einnimmt (vgl. auch Russell, 2000, S. 201). So hat sich Aristoteles nach einer englischen Übersetzung von Pakaluk bereits vor mehr als 2.300 Jahren über Freundschaftsbeziehungen wie folgt geäußert (Pakaluk, 1991, S. 72–73):
»One person is a friend to another if he is friendly to the other and the other is friendly to him in return. […] People are also friends if the same things are good and bad for them, or if they are friends to the same people and enemies to the same people. […] We are also friendly to those who have benefited us. […] Also to those who are friends of our friends and those who are friendly to the people to whom we ourselves are friendly.«
Aristoteles hat sich auch mit der Definition von Freundschaft, mit verschiedenen Freundschaftstypen, der Funktion von Freundschaften, der Rolle von Freundschaft zur Aufrechterhaltung einer stabilen Gesellschaft, der Wahl eines Freundes sowie mit der Rolle von individuellen Differenzen in Freundschaften oder dem Scheitern von Freundschaften beschäftigt (Perlman & Duck, 2006). Zum Scheitern von Freundschaften hat Aristoteles beispielsweise Folgendes gesagt und dabei nach Berscheid & Reagan (2005) auch einen Bezug zu romantischen Beziehungen hergestellt (zit. nach Ross, 1915/1966, S. 1163):
»In the friendship of lovers sometimes the lover complains that the excess of love is not met by love in return (though perhaps there is nothing lovable about him), while often the beloved complains that the lover who formerly promised everything now performs nothing. Such incidents happen when the lover loves the beloved for the sake of pleasure while the beloved loves the lover for the sake of utility, and they do not both possess the qualities expected of them. If these be the objects of the friendship it is dissolved when they do not get the things that formed the motives of their love.«
Russell (2000, S. 201) merkt jedoch kritisch an, dass alles, was Aristoteles über Freundschaftsbeziehungen sagt, zwar durchaus vernünftig sei, aber aus heutiger Sicht mit keinem Wort über den gesunden Menschenverstand hinausreiche.
Dieses von Aristoteles vermittelte alltagspsychologische Verständnis von engen Beziehungen und insbesondere von Freundschaften bestimmt die beziehungspsychologische Analyse erstaunlicherweise noch bis in die späten 1880er Jahre (vgl. Reisman, 1979; Blieszner & Adams, 1992), bis vor allem unter dem Einfluss von Freud, James, Durkheim und Simmel der Beziehungspsychologie neue Impulse gegeben wurden, die weitreichende Implikationen auch noch für das heutige Verständnis von engen zwischenmenschlichen Beziehungen haben (Perlman & Duck, 2006).
Freuds Annahmen über persönliche Beziehungen. Freud postuliert, dass alle zwischenmenschlichen Beziehungen von den frühkindlichen Beziehungen zu den Eltern geprägt seien. Frühkindliche Gedanken, Gefühle, Wünsche und Verhaltenstendenzen gegenüber den Eltern würden unbewusst auf Bezugspersonen im Erwachsenenalter übertragen. Persönlichkeitsmerkmale der Eltern, insbesondere Normen, Werte und geschlechtstypisches Verhalten, würden durch Identifikation – vor allem mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil – übernommen (Asendorpf & Banse, 2000, S. 141).
Die Betonung des Einflusses anderer für die Selbstkonzeptbildung durch James. William James (1890), der den Selbstbegriff in die Psychologie eingeführt hat, unterscheidet zwischen I (Ich) und Me (Mich), einem Erkennenden und einem Erkannten, um damit deutlich zu machen, dass die Bildung und Aufrechterhaltung des personalen Selbstkonzepts wesentlich von unseren Beziehungen mit anderen bestimmt wird.
Durkheims Arbeiten über die Folgen von sozialer Isolation. Der französische Soziologe Durkheim (1897/dt.1973) sah einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Selbstmord. Aus soziologischer Sicht befinde sich die suizidgefährdete Person in einem Zustand wachsender sozialer Desintegration und aus psychologischer Perspektive in einem Zustand der Vereinsamung, Isoliertheit, inneren Orientierungslosigkeit sowie Macht- und Hilflosigkeit. Durkheim fasst beide Phänomene unter dem Begriff der Anomie zusammen.
Simmels Bemerkungen über den wechselseitigen Blick. Simmel hat sich grundlegend mit dem Austausch von Wahrnehmungen und deren Bedeutung für das Entstehen dyadischer Beziehungen beschäftigt (1921, S. 352):
»Von den Sinnesorganen hat das Auge eine einzigartige soziologische Funktion. Die Vereinigung und Interaktion von Individuen beruht auf gegenseitigen Blicken. Dies ist vielleicht die unmittelbarste und reinste Reziprozität, die irgendwo existiert. Diese höchste psychische Reaktion, in der die Blicke von Auge zu Auge Menschen vereinen, schlägt sich jedoch in keiner objektiven Struktur nieder; die Einheit, die für einen Augenblick zwischen zwei Personen entsteht, ist nur in der Situation vorhanden und löst sich in der Funktion auf […] Dieser wechselseitige Blick zwischen Personen bezeichnet im Unterschied zum einfachen Anblick oder zur Beobachtung des Anderen eine völlig neue und einzigartige Verbindung zwischen ihnen […] Was bei diesem wechselseitigen Blick geschieht, repräsentiert die perfekteste Reziprozität im gesamten Bereich der menschlichen Beziehungen.«
Diese frühen, eher impressionistischen Darstellungen zwischenmenschlicher Beziehungen eines Philosophen, Psychoanalytikers, Sozialpsychologen und zweier Soziologen setzen aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive zwar unterschiedliche Akzente, betonen aber gleichermaßen die Bedeutung von engen Beziehungen für den Menschen: Ihre Verfügbarkeit kann z. B. Glücksempfindungen hervorrufen (Aristoteles) und ihr Fehlen zu Gefühlen der Einsamkeit führen (Durkheim). Diese Bestimmungen der Bedeutung von Beziehungen bleiben jedoch reine Spekulationen, wenn sie nicht auch empirisch überprüft werden.
1.2 Anfänge einer empirischen Beziehungsforschung
Durkheim (1897) war allerdings auch einer der ersten Sozialwissenschaftler, der den Versuch unternahm, seine These vom Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Suizidgefährdung durch Daten zu belegen. Nur wenig später veröffentlichte Monroe (1898) seinen Bericht über einen Report, in dem er 2.336 Kinder nach den Kriterien für die Auswahl ihrer Freunde gefragt hatte. Harris (1912) suchte unter Verwendung verschiedener statistischer Verfahren nach Merkmalen, die ursächlich für eine Heirat sein könnten und fand als Hauptmerkmal die Ähnlichkeit zwischen den Partnern, was er als »assortative mating« bezeichnete. Davis (1929) untersuchte das Sexualverhalten von 2.200 Frauen und entwickelte dazu auch eine Methode zur Erfassung ehelicher Zufriedenheit.
In den 1930er Jahren stellte Moreno (1934) seine soziometrischen Studien über Anziehung und Abstoßung in Schülercliquen vor, Bernard (1933) entwickelte ein Maß ehelichen Erfolgs und Waller (1937) publizierte eine Analyse über beziehungsbezogene Wünsche von College-Studenten in Bezug auf ihre Mitstudenten.
Während des II. Weltkriegs ging die Veröffentlichung von Beziehungsstudien verständlicherweise zurück, danach wurde eine Studie über die Bedeutung von Peer-Beziehungen in US-Truppen für den Erfolg von Kampfeinsätzen publiziert (Stouffer, Suchman, Devinney, Star & Williams, 1949). Von Sozialpsychologen (wie z. B. von Asch, 1946) sind erstmals Untersuchungen zur Eindrucksbildung vorgestellt worden und Festinger, Schachter & Back (1950) fanden heraus, dass räumliche Nähe in einem Studentenwohnheim die Entwicklung von Freundschaften vorhersagen konnte: Die Betreffenden bauten mehr Freundschaften zu Personen auf, die physisch nahe bei ihnen wohnten, als zu denjenigen, die weiter entfernt lebten. Newcomb (1956, 1961) präsentierte erste Arbeiten zur später in der Sozialpsychologie einflussreich werdenden experimentellen Attraktionsforschung (s. u.), die u. a. zeigten, dass Personen mit ähnlichen Einstellungen voneinander angezogen werden.
1.3 Experimentelle interpersonale Attraktionsforschung in den 1960er und 1970er Jahren
Unter dem Einfluss von Newcombs Arbeiten änderte sich die damalige Ausrichtung der Sozialpsychologie. Während die meisten sozialpsychologischen Studien bis weit in die 1950er Jahre hinein noch als nichtexperimentell bezeichnet werden konnten, zeigte sich schon gegen Ende der 1960er Jahre ein Überwiegen von experimentellen sozialpsychologischen Arbeiten, was z. B. allein anhand der diesbezüglichen Anzahl von in der renommierten Zeitschrift Journal of Personality and Social Psychology publizierten Artikeln deutlich wird (Perlman & Duck, 2006, S. 15).
Die experimentelle Attraktionsforschung entwickelte sich bis zum Ende der 1960er Jahre zu einer anerkannten Subdisziplin innerhalb der Sozialpsychologie und wurde zu dieser Zeit vor allem durch Veröffentlichungen von Berscheid & Hatfield Walster (1969) sowie Rubin (1973) repräsentiert. Zu dieser Zeit wurden von Byrne (1961, 1971) auch erste experimentelle Arbeiten vorgestellt, die einen engen Zusammenhang von interpersonaler Attraktion und Ähnlichkeit (»Gleich und Gleich gesellt sich gern«) nachwiesen. Es wurde festgestellt, dass z. B. die Wahl von Freunden ganz wesentlich durch die erlebte Ähnlichkeit bzw. Übereinstimmung von Interessen, Einstellungen, Werten, sozialen Hintergründen oder Persönlichkeitseigenschaften bestimmt wird.
1.4 Trends zwischen den späten 1970er und den 1990er Jahren
Huston & Levinger (1978) verweisen in ihrem Überblicksartikel in der Zeitschrift Annual Review of Psychology zum Thema Interpersonal Attraction and Relationships auf zunehmende Forschungsanstrengungen und Veröffentlichungen zu diesem Thema und verwenden in diesem Kontext erstmals den Begriff relationships (Beziehungen).
Duck & Perlman (1985) analysieren Mitte der 1980er Jahre weitere Entwicklungen in diesem Arbeitsfeld und konstatieren das Entstehen eines speziellen Arbeitsgebietes, das sie als personal relationships bezeichnen. Duck & Gilmour (1981a, 1981b, 1981c) hatten zuvor eine Serie von drei Herausgeberbänden zu dieser Thematik veröffentlicht (personal relationships: individuals in relationships, developing relationships, relationships in disorder), denen kurz darauf noch zwei weitere Publikationen von Duck (1982, 1984) folgten (relationship dissolution, relationship repair). Etwa zur gleichen Zeit initiierten Gilmour und Duck (1982/1984) zudem die ersten beiden internationalen Konferenzen zum Thema personal relationships in Madison/Wisconsin. 1984 erscheint auch die erste Zeitschrift dieses neuen Arbeitsfeldes, das Journal of Social and Personal Relationships, 1986 wurde die International Society for the Study of Personal Relationships (ISSPR) gegründet, die gegenwärtig unter dem Namen International Association of Relationship Research (IARR) weitergeführt wird.
Duck & Perlman (1985) bemerken, dass seit 1978 auch einige methodologische Innovationen in der Beziehungsforschung zu verzeichnen sind, wie z. B. die Einführung der Tagebuchmethode oder die Ausstattung von Untersuchungsteilnehmern mit Pagern zur Erfassung der aktuellen Befindlichkeiten von Beziehungspartnern. Diese erstmals verwendeten Methoden verdeutlichen nach Ansicht der Autoren, dass die Forschung das Labor verlassen hatte, um zunehmend einen besseren Einblick in das alltägliche Beziehungsleben ihrer Probanden zu gewinnen. Außerdem wurden vermehrt qualitative Methoden eingesetzt, Dyaden statt Einzelpersonen analysiert und Längsschnittstudien durchgeführt. Zur Datenerhebung und Datenauswertung sind neue statistische Methoden entwickelt bzw. genutzt worden, wie z. B. Metaanalysen, Strukturgleichungsmodelle (LISREL) oder etwa Kennys social relations model (Kenny & La Voie, 1984), eine Methode zur Bestimmung des Einflusses der einzelnen Beziehungspartner sowie ihrer interpersonalen Beziehung auf die Interaktion, u. v. m.
Von Kommunikationswissenschaftlern, Soziologen und Familienforschern wurden zu dieser Zeit überdies sehr oft Interviewtechniken eingesetzt und zwar häufig im Rahmen von systematischen Langzeitstudien zur Datenerhebung zu Hause bei den Untersuchungsteilnehmern.
Berscheid (1985, S. 417) gibt aus ihrer Sicht zur Entwicklung der Beziehungsforschung seit den 1970er Jahren d...