Es ist nun zu prüfen, ob der konkrete Lebenssachverhalt unter die einzelne Anspruchs- oder Ermächtigungsgrundlage fällt. Dieser Abgleich der zumeist abstrakt-generell formulierten Rechtsnorm mit dem konkreten-individuellen Lebenssachverhalt wird als Subsumtion bezeichnet.65 Der Lebenssachverhalt muss alle Tatbestandsmerkmale der zu prüfenden Anspruchs- oder Ermächtigungsgrundlage erfüllen. Fehlt auch nur ein Tatbestandselement, kann die jeweilige Anspruchs- oder Ermächtigungsgrundlage nicht herangezogen werden.
Die Subsumtion erfolgt durch eine logische Aussageverknüpfung, dem sogenannten juristischen Syllogismus.66 Ein Beispiel aus dem nicht-juristischen Bereich soll die Aussageverknüpfung erläutern:
(Allgemeiner) Obersatz: | Alle Menschen sind sterblich. |
(Konkreter) Untersatz: | Sokrates ist ein Mensch. |
Schlusssatz: | Sokrates ist sterblich. |
Die beiden Aussagen im allgemeinen Obersatz und konkreten Untersatz weisen einen identischen Mittelbegriff Mensch auf. Werden Ober- und Untersatz über den gemeinsamen Mittelbegriff Mensch verknüpft, ergibt diese Aussageverknüpfung einen logischen Schlusssatz. Der Schlusssatz ist die Folgerung aus der Verknüpfung von Ober- und Untersatz. Beim Syllogismus handelt es sich um eine formal-logische Schlussfolgerung im Wege der Deduktion, dem Schluss vom Allgemeinen zum Besonderen.
Der Schlusssatz ist jedoch nur sachlich richtig, wenn der Obersatz und der Untersatz zutreffend sind. Sind diese nicht richtig, wird auch der Schlusssatz nicht richtig sein. Handelt es sich im konkreten Fall bei Sokrates um eine griechische Rebsorte, ist der Untersatz nicht richtig und der Schlusssatz ist nicht richtig. Die Feststellung der richtigen Ober- und Untersätze ist nicht Aufgabe der Logik, sondern der Erkenntnis- und der Wahrheitsforschung.
Die Folgerichtigkeit des Schlusssatzes setzt voraus, dass die Verknüpfung zwischen Ober- und Untersatz über identische Mittelbegriffe erfolgt. Gleichlautende Begriffe – wie läuft – sind nicht unbedingt identische Begriffe:
Obersatz: | Was läuft hat Beine. |
Untersatz: | Die Verjährungsfrist läuft. |
Schlusssatz: | Die Verjährungsfrist hat Beine.67 |
Der Schlusssatz ist falsch, weil die Aussageverknüpfung über gleichlautende aber nicht gleichbedeutende Begriffe erfolgt. Ober- und Untersatz werden aus Begriffen gebildet. Da Begriffe mehrdeutig sein können, muss dies berücksichtigt werden und bei der Aussageverknüpfung geprüft werden, ob im Ober- und Untersatz die Begriffe auch wirklich gleichbedeutend sind.
Das Prinzip der Aussageverknüpfung liegt der Rechtsanwendung zugrunde, wenn es darum geht zu prüfen, ob eine abstrakte Rechtsnorm auf einen konkreten Lebenssachverhalt zur Anwendung kommt und die von der Rechtsnorm vorgesehene Rechtsfolge auslöst. Die Rechtsnorm ist der abstrakte Obersatz. Der Lebenssachverhalt ist der konkrete Untersatz. Wird der Sachverhalt – als Untersatz – mit der Rechtsnorm – als Obersatz – verknüpft, ergibt dies eine Rechtsfolge – als Schlusssatz.
§ 985 BGB: (Obersatz) | Der Eigentümer kann vom Besitzer Herausgabe der Sache verlangen. |
Sachverhalt (Untersatz): | Das Auto ist eine Sache |
Rechtsfolge (Schlusssatz): | Der Eigentümer kann vom Besitzer die Herausgabe des Autos verlangen. |
Die Verknüpfung von Ober- und Untersatz erfolgt über den gemeinsamen Mittelbegriff Sache.
Diese Schlussfolgerung kann in einer verallgemeinerten Form folgendermaßen dargestellt werden:
T = R | für alle Fälle von T gilt R | (Obersatz) |
S = T | S ist ein Fall von T | (Untersatz) |
S = R | für S gilt R | (Schlusssatz = Rechtsfolge)68 |
Da Normen aus einer Mehrzahl von Tatbestandsmerkmalen bestehen, ist der Sachverhalt Schritt für Schritt mit jedem Tatbestandsmerkmal zu verknüpfen. Die Subsumtion vollzieht sich in mehreren hintereinander geschalteten Verknüpfungsvorgängen.69
Hat der Gastwirt dem friedlich schlafenden Gast B absichtlich mit der Faust ins Gesicht geschlagen und das Nasenbein zertrümmert, vollzieht sich die Subsumtion unter § 823 Abs. 1 BGB in folgenden Schritten:
wer | der Gastwirt |
das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht | Nasenbein ist Körper |
eines anderen | B |
verletzt | schlagen ist (kausal adäquate) Verletzungshandlung |
widerrechtlich | kein Rechtfertigungsgrund |
vorsätzlich oder fahrlässig | Absicht ist Vorsatz |
Erst wenn die Prüfung ergibt, dass alle von der Rechtsnorm vorausgesetzten Tatbestandsmerkmale vorliegen, ist die Rechtsfolge – Ersatz des daraus entstandenen Schadens – eröffnet. Erst die Subsumtion des Lebenssachverhalts unter den Tatbestand der Anspruchsgrundlage führt zur gewünschten Rechtsfolge. Auf keinen Fall darf aus dem Umstand, dass § 823 Abs. 1 BGB Schadensersatz als Rechtsfolge vorsieht und der Gast Schadensersatz wünscht, auch Schadensersatz gewährt werden.
Der Tatbestand ist vor der Rechtsfolge zu prüfen
Auch wäre es unzutreffend §§ 249 ff. BGB als Anspruchsgrundlage zu prüfen. Die §§ 249 ff. BGB sind nur ausfüllende Rechtssätze – Hilfsnormen –, die auf der Rechtsfolgenseite die Schadensersatzleistung näher bestimmen, jedoch nichts zu den Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs besagen.
Mit der Prüfung der Anspruchsgrundlage ist nicht schon jeder Fall abgeschlossen. Ein einmal entstandener Anspruch kann nämlich im Nachhinein erloschen oder seine Durchsetzung gehindert sein. Das Vorliegen von Gegennormen ist zu prüfen. Der Schadensersatzanspruch des Gastes kann bereits durch Erfüllung – § 362 BGB – erloschen sein oder der Gastwirt kann nach Ablauf der Verjährung gemäß § 214 BGB die Erfüllung des – fortbestehenden – Anspruchs verweigern.
Der juristische Syllogismus verführt zu der Annahme, dass die Rechtsfindung ein logischer Vorgang sei und es nur eine einzige richtige Lösung geben könne. Die Logik hat ihren Stellenwert im Recht. Daneben erfordert die Rechtsfindung noch eine Vielzahl anderer Überlegungen, die mit Logik nichts zu tun haben, sondern bei denen Wertungen erforderlich sind.
Im Strafrecht kann die Subsumtion des Sachverhalts unter den Straftatbestand zu der Feststellung führen, dass der Täter den Straftatbestand verwirklicht hat und zu verurteilen ist. Ist die Strafbarkeit der Tat bejaht worden, ist in einem zweiten Schritt das Augenmerk auf die konkrete Strafe, das Strafmaß zu lenken. Anhand der Strafzumessungskriterien ist die konkrete Strafe festzusetzen. Für die Bestimmung des Strafrahmens gibt der Syllogismus keinen Anhaltspunkt her. Der Strafrahmen wird in erster Linie im Wege der Wertung der Persönlichkeit des Täters, der Schwere der Tat und ihren Folgen festgelegt.
Im öffentlichen Recht tritt ein ähnliches Phänomen bei Ermessensentscheidungen auf. § 25 Abs. 1 BImSchG besagt: Kommt der Betreiber einer Anlage einer vollziehbaren behördlichen Anordnung … nicht nach, so kann die zuständige Behörde de...