Globale Welt (1970-2015)
  1. 193 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfĂŒgbar
eBook - ePub
Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Die 1970er Jahre stellen in vielerlei Hinsicht einen Bruch in der europĂ€ischen Geschichte dar. Globalisierung, Digitalisierung und der neoliberale Umbau von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft prĂ€gten nachhaltig die Epoche. Dazu kam das Ende des Kalten Krieges und die Eingliederung Osteuropas in westeuropĂ€ische Entwicklungsprozesse und die EuropĂ€ische Union nach 1989. Seit Mitte der 2000er Jahre mehren sich durch die Finanzkrise von 2008, die TerroranschlĂ€ge in den HauptstĂ€dten Europas oder das sinkende Vertrauen in die EuropĂ€ische Union die Anzeichen fĂŒr ein Ende der Basisdeterminanten EuropĂ€ischer Geschichte seit den 1970er Jahren. Die vielfĂ€ltigen Entwicklungen systematisiert und thematisiert das neue Lehrbuch. Es kombiniert einen chronologischen Überblick mit einer systematischen Erschließung der Themenfelder Gesellschaft, Gewalt, Recht, Staat, Technik und Wirtschaft.

HĂ€ufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kĂŒndigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekĂŒndigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft fĂŒr den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf MobilgerĂ€te reagierenden ePub-BĂŒcher zum Download ĂŒber die App zur VerfĂŒgung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die ĂŒbrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden AboplÀnen erhÀltst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst fĂŒr LehrbĂŒcher, bei dem du fĂŒr weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhĂ€ltst. Mit ĂŒber 1 Million BĂŒchern zu ĂŒber 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nÀchsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Globale Welt (1970-2015) von Christian Henrich-Franke, Guido Thiemeyer, Christian Henrich-Franke im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten BĂŒchern aus History & 20th Century History. Aus unserem Katalog stehen dir ĂŒber 1 Million BĂŒcher zur VerfĂŒgung.

Information

Jahr
2019
ISBN
9783170332508

1 Chronologischer Überblick

1.1 Vorbemerkungen

FĂŒr die EuropĂ€ische Geschichte stellten die 1970er Jahre einen starken Einschnitt dar, der in vielerlei Hinsicht einen Bruch mit dem Zeitraum davor bedeutete. Sie werden in diesem Band als ZĂ€sur und als Anfang einer neuen Phase der EuropĂ€ischen Geschichte gesehen, in der Europa Teil einer global interdependenten und vernetzten Welt wurde. Seit den 1970er Jahren waren die meisten Staaten Europas immer stĂ€rker in grenzĂŒberschreitende Verflechtungsprozesse eingebunden, die sich einerseits als globale EntwicklungszusammenhĂ€nge darstellten und andererseits nach innen eine IntensitĂ€t erreichten wie niemals zuvor.
Der Zeitraum zwischen 1970 und 2015 lĂ€sst sich in drei mehr oder weniger abgeschlossene, sich aber durchaus ĂŒberlappende Phasen gliedern. Diese erheben keinen Anspruch auf ExklusivitĂ€t, vielmehr sollen sie als Binnendifferenzierung einen groben Orientierungsrahmen liefern:
(a) Gewandelte Grundlagen EuropÀischer Geschichte (1970er/1980er Jahre);
(b) Vom Ende der geteilten Welt (1975-1992);
(c) Transformatives Europa: Entgrenzt, Verflochten, Mobil (1990er/2000er Jahre).
Hinzu kommen fĂŒr die Zeit seit Mitte der 2000er Jahre aktuelle Beobachtungen und Entwicklungstrends der EuropĂ€ischen Geschichte, die sich derzeit weder historisch fundiert bewerten lassen, noch als fĂŒr sich abgeschlossen adĂ€quat eingeordnet werden können.
In der ersten Phase â€șGewandelte Grundlagenâ€č kristallisierten sich neue Basisdeterminanten EuropĂ€ischer Geschichte heraus, in der zweiten Phase wurde die Teilung des Kontinents allmĂ€hlich ĂŒberwunden und es eröffnete sich so die Möglichkeit gesamteuropĂ€ischer Entwicklungen, bevor dann in der dritten Phase eine gesamteuropĂ€ische Transformation einsetzte, die mit den Schlagworten â€șEntgrenzt, Verflochten, Mobilâ€č umschrieben werden kann. Wenngleich die Auswirkungen der neuen Grundlagen sich in Westeuropa bereits zu Beginn der 1980er Jahre auszuwirken begannen – die neoliberale Politik der britischen Regierungschefin Margaret Thatcher ist hier als Paradebeispiel zu nennen –, so kann dennoch erst ab den 1990er Jahren von einem tatsĂ€chlich gesamteuropĂ€ischen PhĂ€nomen gesprochen werden. Bevor nun die groben Entwicklungslinien EuropĂ€ischer Geschichte entlang dieser drei Phasen skizziert werden, wird zunĂ€chst der Strukturbruch der 1970er Jahre als solcher thematisiert, da mit diesem endgĂŒltig die Weichen in eine neue Entwicklungsrichtung auf der Basis gewandelter Grundlagen gestellt wurden.

1.2 StrukturbrĂŒche der 1970er Jahre?

Die ZĂ€sur in den 1970er Jahren lĂ€sst sich zunĂ€chst mit Verweis auf die wirtschaftlichen Entwicklungen begreifen. Schon in der zweiten HĂ€lfte der 1960er Jahre setzte die Schwierigkeit einer Aufrechterhaltung des WeltwĂ€hrungssystems von Bretton-Woods ein, welches seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – zumindest in der â€șnichtsozialistischen Weltâ€č – eine wesentliche Grundlage der internationalen Wirtschaftsbeziehungen dargestellt hatte. Mit dem offiziellen Ende von Bretton-Woods im Jahr 1973 wurde nicht nur das WeltwĂ€hrungssystem auf die Basis fluktuierender Wechselkurse festgelegt, sondern vielmehr begann Europa, v. a. die Mitglieder der EuropĂ€ischen Wirtschaftsgemeinshaft (EWG), nun ökonomisch wieder mehr Eigenverantwortung zu ĂŒbernehmen und sich ĂŒber ein europĂ€isches WĂ€hrungssystem Gedanken zu machen, welche im Werner-Plan von 1970 eine erste Umsetzung erfuhren, um dann nach weiteren Zwischenstufen in der 1999 vollendeten Wirtschafts- und WĂ€hrungsunion ihre bis dato endgĂŒltige Form anzunehmen. DarĂŒber hinaus sorgten die Ölkrise und der intersektorale Strukturwandel weg von der Industrieproduktion fĂŒr einen wirtschaftlichen »Strukturbruch der Industriemoderne« (Doering-Manteuffel/Raphael 2010). Es folgten nicht nur der Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft mit einem substanziellen Abbau industrieller ProduktionskapazitĂ€ten, sondern eben auch der Einstieg westeuropĂ€ischer Gesellschaften in die Sockelarbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung. Mit der Tokio-Runde nach 1973 erreichte die Liberalisierung der WeltmĂ€rkte, d. h. der Abbau der Handelshemmnisse im Rahmen des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), wieder dasselbe Niveau wie vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914.
Politisch beendete die letzte Phase der Dekolonialisierung, v. a. in Afrika, eine Jahrhunderte dauernde Epoche der EuropĂ€ischen Geschichte, die ĂŒber die frĂŒhen Formen des Handelskolonialismus und dessen radikaler VerĂ€nderung im Imperialismus des 19. Jahrhundert den Aufstieg Europas zum global fĂŒhrenden Kontinent gebracht hatte. Mit der UnabhĂ€ngigkeit der portugiesischen Kolonien in Afrika nach der Nelkenrevolution des Jahres 1974 beendete Europa auch symbolisch ein Kapitel seiner Geschichte, dessen Inhalt – die FĂŒhrungsrolle in der Welt – es ohnehin lĂ€ngst verloren hatte. Die Notwendigkeit globale GemeinschaftsgĂŒter wie die Weltmeere, den Weltraum oder die Umwelt unter â€șgleichberechtigterâ€č Beteiligung aller Staaten zu verhandeln, zeugt ebenfalls davon, dass Europa seinen Platz in einer â€șglobalen Weltâ€č neu bestimmen musste.
Nach innen stellte die erste Erweiterungsrunde der EuropĂ€ischen Gemeinschaft (EG) um DĂ€nemark, Großbritannien und Irland ebenso eine ZĂ€sur dar, die von zunehmender Verflechtung deutet, wie auch die Konferenz fĂŒr Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die nach zweijĂ€hrigen Verhandlungen in der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 ihren ersten Höhepunkt hatte. War die EG-Erweiterung auf Westeuropa begrenzt, so brachte die KSZE erste konkrete Ergebnisse einer gesamteuropĂ€ischen Entspannung im Kalten Krieg. Wenngleich die aus der KSZE resultierenden gesellschaftlich-kulturellen Kontakte ebenso wie Formen wirtschaftlicher Zusammenarbeit, u. a. Gas- und Öllieferungen aus der Sowjetunion nach Westeuropa, hinter die Wahrnehmung des Kalten Krieges als ein dominant politisch-militĂ€rischer Konflikt zurĂŒcktrat, so haben geschichtswissenschaftliche Forschungen jĂŒngerer Zeit doch herausgearbeitet, dass gerade diese Kontakte in ihrer destabilisierenden Wirkung fĂŒr den real existierenden Sozialismus nicht unterschĂ€tzt werden sollten. Immerhin ging es der großen Mehrheit der friedlichen Demonstranten der Jahre 1989–1991 nicht darum, die sozialistischen Systeme schnellstmöglich durch kapitalistische zu ersetzen. Vielmehr wĂŒnschten sie in erster Linie VerĂ€nderungen, um die Freiheiten des Konsums oder des Reisens genießen zu können, die sie u. a. aufgrund gesellschaftlicher Kontakte durch die KSZE kennengelernt hatten. Insofern hat also auch die Überwindung des Kalten Kriegs in Europa eine Dimension, die bis in die frĂŒhen 1970er Jahre zurĂŒckreicht.
Die gewĂ€hlte ZĂ€sur lĂ€sst sich durch technische Entwicklungen weiter untermauern. Computerisierung und Digitalisierung, die auf der Erfindung des Mikrochip aufsattelten, lĂ€uteten den Übergang in die mobile Informationsgesellschaft mit vielfĂ€ltigen technischen Innovationen im Kommunikationswesen ein. Die Inbetriebnahme des â€șAdvanced Research Projects Agency Networkâ€č (ARPANET) im Jahr 1969 als erstes Computer-Netzwerk, die massenhafte Implementation der Satellitentechnologie oder die Digitalisierung europĂ€ischer Telefonnetze stellten einen epochalen Einschnitt auf dem Weg von analoger zu digitaler Massenkommunikation dar.
Zu guter Letzt darf der vielfach betonte Wertewandel in den Gesellschaften Europas nicht unerwĂ€hnt bleiben, der im Kern aus einem Wandel von Pflicht- und Akzeptanz zu Selbstverwirklichungs- und Individualwerten fĂŒhrte. Zum einen etablierte sich zunĂ€chst in Westeuropa der einzelne Mensch zunehmend als idealtypischer EuropĂ€er, der entweder als Triebfeder von Mitbestimmung und BĂŒrgerrechten oder als â€șBungee-Jumperâ€č, der seine individuelle Erlebnisgrenze austestet, erschien. Zum anderen rĂŒckte der einzelne Mensch im Neoliberalismus der Chicagoer Schule der 1970er Jahre ins Zentrum eines ökonomischen Dogmas, das Wirtschaft und Staat von Grund auf umkrempeln wollte.
Folgt man demgegenĂŒber einem eher außenpolitisch-militĂ€rischen Narrativ, dann sprechen wiederum einige Argumente fĂŒr die Jahre 1989–1991 als ZĂ€sur, ĂŒberwand doch das Ende des Kalten Kriegs die Trennung des Kontinents und brachte mit dem 2+4 Vertrag 1990 sogar den formellen Friedensvertrag mit dem 1945 besiegten Deutschland. Gegen eine strikte ZĂ€surierung der EuropĂ€ischen Geschichte in den 1970er Jahren spricht auch das politisch-militĂ€rische Argument der erneuten VerschĂ€rfung des Kalten Kriegs gegen Ende der 1970 Jahre. Nachdem der US-PrĂ€sident Gerald Ford die Einbeziehung von Mittelstreckenraketen in die AbrĂŒstungsplĂ€ne des SALT-II Abkommen abgelehnt hatte, modernisierten die Sowjetunion bzw. der Warschauer Pakt mit den SS-20 Raketen und der Westen bzw. die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft (NATO) mit den Pershing II ihre mobilen Waffenarsenale in Europa. In die ohnehin angespannte Situation fiel dann der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Dezember 1979, den der Westen mit einem Boykott der Olympischen Spiele in Moskau (1980) und der Osten mit einem Boykott der Spiele vier Jahre spĂ€ter in Los Angeles (1984) beantworteten. Letztlich scheiterten auch die ersten AbrĂŒstungsgesprĂ€che fĂŒr Waffenarsenale in Europa zwischen den USA und der Sowjetunion 1982 in Genf daran, dass sich die Kontrahenten nicht auf eine Definition des militĂ€rischen Gleichgewichts einigen konnten.
Nichtsdestotrotz, so bedeutsam die gesamten politisch-militĂ€rischen Aspekte fĂŒr die EuropĂ€ische Geschichte auch waren und so sehr sie strukturell in der unmittelbaren Nachkriegszeit verankert sind, so wenig vermögen sie doch die (langfristig) wirkmĂ€chtigen VerĂ€nderungen der grundlegenden Entwicklungsdeterminanten in den 1970er Jahren zu marginalisieren. Mit Blick auf eine vielschichtige Interpretation EuropĂ€ischer Geschichte, die politische, wirtschaftliche, technische, gesellschaftliche und andere Faktoren gleichberechtigt nebeneinanderstellt, sprechen also viele GrĂŒnde fĂŒr die gewĂ€hlte ZĂ€sur in den 1970er Jahren.

1.3 Gewandelte Grundlagen EuropÀischer Geschichte (1970er und 1980er Jahre)

Die fĂŒr die 1970er und 1980er Jahre zu konstatierenden sich wandelnden Grundlagen historischer Entwicklung besaßen ganz unterschiedliche AusprĂ€gungen und Facetten. Vereinfacht können sie in vier Feldern zusammengefasst werden: EuropĂ€ische Wirtschaftsverantwortung, globale Interdependenzen, der einzelne Mensch und seine Entscheidungen und Weichenstellungen in eine vernetzte Welt.

1.3.1 EuropÀische Wirtschaftsverantwortung

In den frĂŒhen 1970er Jahren brachen wirtschaftliche Grundstrukturen in mehrfacher Hinsicht auf und zwangen Europa sich strukturellen VerĂ€nderungen zu stellen. Schon in der zweiten HĂ€lfte der 1960er Jahre geriet das auf dem Gold-Dollar-Standard fußende WeltwĂ€hrungssystem von Bretton-Woods zunehmend unter Druck. War das System im Kern auf eine ausgeglichene Zahlungsbilanz der USA angewiesen, da alle WĂ€hrungen an den Dollar gebunden waren, so wirkten sich ab Mitte der 1960 Jahre die Zahlungsbilanzdefizite der USA aufgrund der Finanzierung des Vietnamkrieges schnell auf Europa aus. WĂ€hrungskrisen und Inflationsdruck innerhalb Europas waren die Folge, die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen zwischen den Staaten Europas noch verschĂ€rften. Als die Bundesregierung im Mai 1971 schließlich einseitig die ParitĂ€t zum US-Dollar aufgab und damit zu einem freien Wechselkurs umstieg, fiel nicht nur der Dollar gegenĂŒber der DM um 9,3 %, sondern psychologisch war dies ein bedeutsamer Schritt, weil die FĂ€higkeit der USA, die Weltwirtschaft stabil zu halten, hinterfragt wurde. Die wirtschaftliche Dominanz der USA, die immerhin die deutsche und europĂ€ische Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg massiv mitaufgebaut hatte, stand damit im Bereich der WĂ€hrungen zur Disposition. Der US-PrĂ€sident Nixon reagierte darauf im Juni 1971, indem er die KonvertibilitĂ€t von Gold in Dollar aufgab, sich unilateral weigerte den Dollar abzuwerten und seine Maßnahme mit Einfuhrzöllen in die USA flankierte.
Die AufkĂŒndung multilateraler Prinzipien stellte die Staaten Europas vor eine völlig neue Situation. Einige ließen ihre WĂ€hrungen frei floaten, andere versuchten mit dem Washingtoner System (1971) oder auch mit dem Werner-Plan der EG (1970) die WĂ€hrungsturbulenzen einzudĂ€mmen. Letztlich scheiterten diese Systeme aber (vorerst) an divergierenden nationalen Interessen. Nachdem in Folge unkontrollierbarer Devisenspekulationen in Europa zwischen dem 2. und 19. MĂ€rz 1973 die meisten Devisenbörsen geschlossen werden mussten, kĂŒndigten zunĂ€chst die Schweiz und Großbritannien das Abkommen von Bretton-Woods auf. Die anderen europĂ€ischen Staaten folgten. Mit dem Ende des WeltwĂ€hrungssystems von Bretton-Woods verlagerte sich die Verantwortung fĂŒr die WĂ€hrungsstabilitĂ€t in Europa von den USA auf eine Kollektivverantwortung der EuropĂ€er, die dann sukzessive von der EuropĂ€ischen Gemeinschaft ĂŒbernommen wurde.
Die WĂ€hrungsturbulenzen trafen die europĂ€ische Wirtschaft zu einer Zeit, als diese sich ohnehin im Umbruch befand. Mit dem Kohle- und Stahlsektor leitete eine Industriebranche das Ende des Industriezeitalters in Europa ein, die lange Zeit als Symbol industrieller ProsperitĂ€t gegolten hatte und noch in den 1950er und frĂŒhen 1960er Jahren ein zentraler Motor der wirtschaftlichen Erholung nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen war. Der â€șStrukturbruch der Industriemoderneâ€č bedeutete zwar kein Verschwinden der Industrie in Europa, aber die BeschĂ€ftigtenzahlen und die Wertschöpfung verlagerten sich in den Dienstleistungssektor. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, setzte spĂ€testens in den 1970er Jahren die Verringerung der Produktion von MassengĂŒtern im Eisen- und Stahlbereich sowie in der Kohleförderung ein. In der weiterverarbeitenden Industrie sorgte zudem eine Kombination ansteigender ArbeitsproduktivitĂ€t und stagnierender Nachfrage fĂŒr eine sinkende BeschĂ€ftigtenzahl. Eine zentrale Rolle fiel dabei der Mechanisierung und dem zunehmenden Einsatz von Computern im Produktionsprozess zu. So baute alleine in der Bundesrepublik die Industrie zwischen 1966 und 1979 ca. 1,8 Millionen Stellen ab. In den 1970er Jahren ĂŒberstieg in den westeuropĂ€ischen Staaten erstmals die Zahl der BeschĂ€ftigten im Dienstleistungssektor diejenigen in der Industrie. Neue ArbeitsplĂ€tze erforderten neue Qualifikationsprofile, so dass es schwierig wurde, ehemalige Industriearbeiter in neue TĂ€tigkeiten ĂŒberzuleiten. Schwierige Anpassungsprozesse waren die Folge, die sich ĂŒber eine ganze Generation hinzogen. Regional fielen die Auswirkungen sehr unterschiedlich aus, insgesamt Ă€nderten sich wirtschaftsgeografisch die Koordinaten innerhalb Europas aber dramatisch. Ehemalige Wachstumsmotoren der Schwerindustrie wie Mittelengland oder das Ruhrgebiet wurden zu wirtschaftlichen Sorgenkindern. Es folgte ein jahrzehntelanger Umstrukturierungsprozess, der mit dem Ende der Kohleförderung in Großbritannien 2015 sowie im Ruhrgebiet 2018 eine Art symbolischen Abschluss erlebt. Die betroffenen Gebiete haben sich jedoch bis heute noch nicht erholt und leiden unter hohen Arbeitslosenquoten. Der Strukturwandel zwang die Wirtschaften Europas seit den 1970er Jahren zu einem Umbau, damit die EuropĂ€er auf den WeltmĂ€rkten mit neuen Produkten und Dienstleistungen bestehen konnten. Die europĂ€ische Industrie musste sich dabei zunehmend auf Spezialprodukte fokussieren, deren Herstellung viel technisches Wissen erforderte.
Wie ein Katalysator fĂŒr die Herausforderungen der europĂ€ischen Wirtschaft wirkten die Ölkrisen der Jahre 1973 und 1978. Wenngleich die KrisenanlĂ€sse politischer Natur waren – es ging vor allem um Reaktionen auf die Kriege im Nahen Osten wie etwa den Jom-Kippur-Krieg von 1973, der mit einer Erhöhung des Ölpreises um 400 % beantwortet wurde –, so waren die Krisen selber doch klare Zeichen fĂŒr grundlegende Änderungen auf den EnergiemĂ€rkten. Sie stellten ein AufbĂ€umen der erdölproduzierenden LĂ€nder gegenĂŒber einem Markt dar, der von einem Oligopol westlicher Ölkonzerne kontrolliert wurde. Die Verstaatlichung von französischen Ölunternehmen in Algerien, die eigentlich die Energiebasis der französischen Wirtschaft ausmachen sollten, stellte beispielsweise die französische Regierung vor völlig neue Herausforderungen. Der Konflikt um die Rohstoffbasis zwang die EuropĂ€er nachhaltig ĂŒber die eigene Energieversorgung nachzudenken. Immerhin beruhte diese in Westeuropa im Jahr 1972 zu 60 % auf Erdöl.
Die Staaten Europas und die EuropĂ€ische Gemeinschaft reagierten in vielfacher Hinsicht auf die wirtschaftlichen Herausforderungen. Auf die WĂ€hrungsturbulenzen antworteten sie mit dem Werner-Plan und mit den Ideen einer EuropĂ€ischen WĂ€hrungsunion verband sich in den 1970er Jahren die Vorstellung, aus Europa einen StabilitĂ€tsblock zu machen. Zwar scheiterte der Werner-Plan aus dem Jahr 1970 noch an den nationalen AlleingĂ€ngen der Regierungen, mit denen die wĂ€hrungspolitischen Turbulenzen bekĂ€mpft werden sollten. Doch gerade die Erfolglosigkeit individueller Maßnahmen ermunterte die EG-Mitglieder bereits 1977/78 einen erneuten Anlauf zu einer Wirtschafts- und WĂ€hrungsunion zu nehmen. Auf Initiative des französischen PrĂ€sidenten Giscard D’Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde dann 1979 im EuropĂ€ischen WĂ€hrungssystem (EWS), ein System fester (aber begrenzt flexibler) Wechselkurse etabliert, das mit der EuropĂ€ischen WĂ€hrungseinheit (ECU) eine KunstwĂ€hrung auf der Basis der Wirtschaftskraft der einzelnen Volkswirtschaften hervorbrachte, um innerhalb der EG abrechnen zu können. Eventuelle Schwankungen zwischen den nationalen WĂ€hrungen sollten durch Interventionen der Zentralbanken auf den DevisenmĂ€rkten unterbunden werden, wofĂŒr u. a. StĂŒtzungsfonds zur VerfĂŒgung standen.
Auf die strukturellen und weltwirtschaftlichen VerĂ€nderungen versuchte ebenfalls das deutsch-französische Tandem, d’Estaing und Schmidt, institutionelle Antworten zu geben. Zum einen fanden im Rahmen des Weltwirtschaftsforums und der G7-Treffen multilaterale GesprĂ€che der sieben grĂ¶ĂŸten Industrienationen außerhalb der bestehenden UN-Institutionen statt. Die G7-Treffen dienten daneben aber auch dazu, die Folgen gestiegener globaler Interdependenz fĂŒr die industrialisierten Staaten zu erörtern. Zum anderen nahm in den frĂŒhen 1980er Jahren Europa den Anlauf zum Binnenmarktprojekt. In der sich verĂ€ndernden Weltwirtschaft organisierte sich Europa damit noch stĂ€rker im Inneren und wurde damit zum Vorreiter eines generellen Regionalisierungstrends der Weltwirtschaft. Das Ergebnis der BemĂŒhungen waren die Einheitliche EuropĂ€ische Akte (1986) und die Errichtung des Binnenmarkts (1992), die Europa immer stĂ€rker zu einem Wirtschaftsblock mit offenen Grenzen nach innen verflochten.

1.3.2 Globale Interdependenzen

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. 1 Chronologischer Überblick
  6. 2 Staat
  7. 3 Recht
  8. 4 Wirtschaft
  9. 5 Technik
  10. 6 Gewalt
  11. 7 Gesellschaft
  12. AbkĂŒrzungen
  13. Literatur
  14. Abbildungsnachweis
  15. Index