1 Aufgaben der Diagnostik in Vor-, Grund- und Sonderschule
1.1 Überblick
Zur Aufgabe von Grund- und Sonderschullehrkräften gehört es zu diagnostizieren. Diese Aufgabe ist hinsichtlich der mit ihr verbundenen diagnostischen Fragestellungen umfassend. Im diesem ersten Kapitel geben wir deshalb einen Überblick über die vielfältigen Fragestellungen und die sich daraus ergebenden diagnostischen Aufgaben. Dabei konzentrieren wir uns auf die Fragestellungen, bei denen seitens der Schul- bzw. Bildungspolitik für ein einzelnes Kind bestimmte Entscheidungen − meist bei Übergängen (Transitionen) im Bildungssystem − gefordert werden: (1) die Ermittlung der Schulfähigkeit, (2) die Feststellung des (sonder-)pädagogischen Förderbedarfs und (3) die Empfehlung am Ende der Grundschule für die Schulform in Sekundarstufe I. Die alltäglichen diagnostischen Aufgaben von Lehrkräften, die sich (4) auf die Ermittlung der Leistungen und Leistungsfortschritte des einzelnen Kindes im Unterricht richten, um aus diesen diagnostischen Informationen jeweils die nächsten methodisch-didaktischen Schritte für den Unterricht bzw. individualisierte Förderungen abzuleiten, und (5) die Frage nach Auffälligkeiten und Besonderheiten der Schüler/-innen (Aufmerksamkeitsdefizit-/-Hyperaktivitätsstörung [ADHS], Verhaltensauffälligkeiten) sind demgegenüber zunächst nachrangig. Ihre Bedeutung für die Aufrechterhaltung und Verschärfung der schulischen Probleme ist jedoch nicht zu unterschätzen.
Um diese Fragen beantworten zu können, ist es unumgänglich, Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu erheben und in einem Entscheidungsprozess miteinander zu verknüpfen. Die Entscheidung darüber, ob ein Kind schulfähig ist (Fragestellung 1), hängt u.a. davon ab, ob das Kind Aufmerksamkeits-, Konzentrationsstörungen oder gar eine ADHS zeigt (Frage 5). Leistungsfortschritt oder -stagnation (Frage 4) sind in Abhängigkeit von einer diagnostizierten Entwicklungsstörung als einer erwartungswidrigen Minderleistung, wie beispielsweise einer Legasthenie oder Dyskalkulie, anders zu bewerten als bei einer allgemeinen Minderleistung (Lernbehinderung). Dementsprechend unterscheiden sich Fördermaßnahmen und möglicherweise auch Förderort. Die Entscheidungen haben gravierende Auswirkungen für die Bildungslaufbahn des einzelnen Kindes. Sie setzen deshalb klare Regelungen und entsprechend hohe diagnostische Kompetenzen voraus.
1.2 Diagnostik im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik
Der deutsche Föderalismus ist, wie in vielen Diskussionen immer wieder betont wird, für die positive Entwicklung der Bildungspolitik hinderlich.2 Bezogen auf die pädagogisch-psychologische Diagnostik führt er zu einer großen Vielfalt zwischen den Bundesländern. Die gesetzlichen Regelungen variieren von Bundesland zu Bundesland. Dies gilt
- für die zu beantwortenden Fragestellungen und
- für den Personenkreis, der mit ihrer Beantwortung betraut ist: Die Zuständigkeiten bzw. beteiligten Institutionen variieren: Beteiligt sind in Abhängigkeit vom Bundesland Erzieher/-innen, Grund- und Sonderschullehrkräfte, Ärztinnen/Ärzte und Diplom-Psychologinnen/-Psychologen. Dem Fehlen eines Konsenses über die mit den diagnostischen Fragestellungen beauftragten Personen entspricht
- das Fehlen einer Übereinkunft über das methodische Vorgehen, d.h. die heranzuziehenden Verfahren. Damit nicht genug, auch
- Art und Zahl der Sonder- bzw. Förderschulen unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Darüber hinaus empfehlen die einzelnen Bundesländer
- unterschiedliche Zeitpunkte der Diagnostik. Nicht zuletzt wird
- der Einbezug der Eltern gestärkt (Kultusministerkonferenz KMK, 1994), sodass die Situation insgesamt eher noch unübersichtlicher geworden ist.
Im Rahmen dieses Leitfadens ist es uns nicht möglich, die Vielfalt der diagnostischen Ansätze, der Entscheidungswege und der Zuständigkeiten abzuhandeln. Eine länderübergreifende Synopse würde den Rahmen sprengen.3 Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK, 2008) geben in aller Regel nur einen Rahmen vor, der von den einzelnen Bundesländern teilweise sehr unterschiedlich gefüllt wird.4 Da ein bildungspolitischer Konsens zwischen den einzelnen Bundesländern zumindest mittelfristig nicht in Sicht scheint, werden wir die diagnostischen Aufgaben unabhängig von den Vorgaben der einzelnen Bundesländer darstellen.
1.2.1 Fragestellungen: Was soll von Lehrkräften diagnostiziert werden?
Unter den Bundesländern besteht kein Konsens darüber, dass und welche Leistungsstandbestimmungen (v.a. im sprachlichen Bereich) flächendeckend – etwa gekoppelt an die Einschulungsuntersuchung zur Ermittlung der Schulfähigkeit – durchgeführt werden sollen. Hier müssen wir auf bestimmte Länderregelungen verweisen, die für die wichtigen Entscheidungen sehr bedeutsam sind, die im Anschluss an die Diagnostik und die Diagnosen getroffen werden müssen. Wird beispielsweise in einem Bundesland der Schule freigestellt, ob sie eine Legasthenie als Entwicklungsstörung anerkennt oder nicht, so hat dies nicht nur in Abhängigkeit von dem betreffenden Bundesland, sondern auch von der Einstellung der Schulleitung oder des betreffenden Kollegiums gravierende Folgen für das einzelne Kind. Bei Vorliegen einer Legasthenie wird dieses in einem Fall als allgemein lernschwach diagnostiziert und könnte in eine Schule für Lernbehinderte überwiesen werden, im anderen Fall kann es im Regelschulsystem verbleiben, es werden Benotungen ausgesetzt und zusätzliche therapeutische und didaktische Maßnahmen ermöglicht.5
Das Beispiel, wie in Abhängigkeit von einem Bundesland oder einer einzelnen Schule mit einem Kind mit einer Legasthenie verfahren wird, illustriert, dass länderspezifische Besonderheiten die Praxis der diagnostischen Begutachtung und Bewertung stark beeinflussen. Dies gilt auch für die Beantwortung der Frage nach der Ermittlung der Schulfähigkeit, für die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs bzw. die Frage nach der Empfehlung für die Art der weiterführenden Schule nach Abschluss der Grundschule.
Nicht nur die Sonderschulformen und ihre Namen variieren von Bundesland zu Bundesland, auch die Behinderungsarten selbst werden in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich voneinander abgegrenzt und definiert. Dies wiederum hat Konsequenzen für die Untersuchungsmethodik und die Diagnose. Die Folgen für das einzelne Kind sind teilweise bestürzend. Es ist kaum zu glauben und nicht nachvollziehbar, aber bei einem Wohnortwechsel in ein anderes Bundesland können sich dramatische Änderungen für die Bildungskarriere eines Kindes ergeben und zwar bereits allein durch die dort vorhandenen oder nicht vorhandenen schulischen Institutionen. In einem Bundesland werden Kinder mit sprachlichen Auffälligkeiten oder Behinderungen in einer Schule für Sprachbehinderte gefördert, in anderen Bundesländern existieren solche Sonderschulformen nicht. Diese Unterschiede unterliegen in aller Regel parteipolitischen Meinungsbildungen6 und sind selten auf wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt, eine Diagnose, die leider für viele Bereiche unseres Bildungssystems zutrifft.7
Weiter besteht innerhalb und zwischen den meisten Bundesländern nach wie vor kein Konsens darüber, ob die Bestimmung des Leistungsstands der Kinder flächendeckend − etwa gekoppelt an die Einschulungsuntersuchung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes zur Ermittlung der Schulfähig...