Teil A: Die juristische Fallbearbeitung im Gutachtenstil
Einleitung
Studierende der Betriebswirtschaft fürchten sich oft vor der Anwendung des Gutachtenstils bei der juristischen Fallbearbeitung. Diese Furcht ist jedoch erfahrungsgemäß völlig unbegründet, denn der Gutachtenstil spiegelt nur den üblichen Denkvorgang wider, der bekanntlich auch nicht mit dem Ergebnis beginnt (das wäre der Urteilsstil), sondern an den Anfang eine Frage in konjunktivischem Stil stellt, diese dann systematisch-strukturiert prüft (Subsumtion), um am Ende zu einem Ergebnis zu gelangen (das ist der Gutachtenstil!).
Beispiel für die Darstellung im Gutachtenstil: »Anspruch V gegen K auf Zahlung von EUR …. aus § 433 II BGB: V könnte gegen K einen Anspruch auf Zahlung von EUR … aus § 433 II BGB haben. Dies setzt einen Kaufvertrag voraus, der wiederum aus Angebot und Annahme (zwei Willenserklärungen, die miteinander korrespondieren müssen) besteht. Fraglich ist hier, ob…Somit liegt hier ein/kein Kaufvertrag vor. …. Ergebnis: V hat einen/keinen Anspruch gegen K auf Zahlung von…« Dies wäre eine Falllösung im Gutachtenstil. Falsch, weil eine Darstellung im Urteilsstil, wäre es dagegen wie folgt zu beginnen: »V hat keinen Anspruch gegen K, weil kein Kaufvertrag geschlossen wurde…. Ein Kaufvertrag wurde nicht geschlossen, weil…« Ebenfalls unrichtig wäre eine bloße Nacherzählung des Sachverhalts (dieser ist dem Leser bereits bekannt!) ohne juristische Würdigung oder – der umgekehrte Fehler – eine rein abstrakte rechtliche Darstellung ohne Berücksichtigung der Fakten: Entscheidend ist ja gerade die Verknüpfung des Sachverhalts mit dem Recht.
Praxishinweis: Der Gutachtenstil ist fester Bestandteil der deutschen Juristenausbildung, wird aber selbst von Juristen in der Praxis nicht wirklich eingesetzt und ist in anderen Jurisdiktionen, soweit ersichtlich, wenig verbreitet. Im Wirtschaftsprüferexamen wird auch in den Wirtschaftsrechtsklausuren kein Gutachtenstil verlangt. Der Urteilsstil wird, wie der Name bereits nahelegt, von Gerichten verwendet: Gerichte verkünden zunächst »Im Namen des Volkes« die Entscheidung (den sog. Tenor) und begründen diese Entscheidung anschließend.
Vielleicht hilft es auch, wenn man sich vor Augen führt, dass eine juristische Fallbearbeitung eher einer Mathematikaufgabe in Worten als einem Deutschaufsatz ähnelt, allerdings mit dem Unterschied, dass in der Jurisprudenz anders als in der Mathematik normative Entscheidungen vorzunehmen sind, daher gibt es (jedenfalls bislang) auch kein Computerprogramm, welches juristische Fälle wirklich lösen könnte. Sie werden schnell feststellen, dass eine Eingabe eines Falles auf Google Ihnen nicht die perfekte Musterlösung präsentieren wird (mögen auch die abstrakten rechtlichen Ausführungen etwa auf Wikipedia meist ein erstaunlich hohes Niveau haben).
Merke: In der juristischen Fallbearbeitung zählt die Qualität der Ausführungen und nicht die Quantität!
Die juristische Fallbearbeitung vollzieht sich im Wesentlichen in folgenden vier Schritten, die daher auch die Gliederung für die folgenden Seiten bildet:
Prüfungsschritte bei der Fallbearbeitung
1. Klare Erfassung von Sachverhalt und Aufgabenstellung.
2. Umsetzung der Aufgabenstellung mit Hilfe der Formel »Wer will was von wem woraus (woraus = Anspruchsgrundlage)?«
3. Prüfung der identifizierten möglichen Anspruchsgrundlagen (Subsumtion) sowie etwaiger Einwendungen und Einreden.
4. Feststellung des Ergebnisses.
Vertiefender Hinweis: Auch wenn Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler in ihrer Berufstätigkeit keine juristischen Fälle bearbeiten und lösen werden, so dient eine Beschäftigung mit der juristischen Fallbearbeitung durchaus der Vorbereitung auf die Berufspraxis eines Betriebswirtes, denn im Grunde geht es dabei wie bei einer Case Study in einem MBA-Programm darum, ein Problem zu erfassen, zu analysieren, zu einer vertretbaren Schlussfolgerung zu kommen sowie alles gut geordnet und möglichst klar darzustellen. Wer diese Schlüsselkompetenz beherrscht, ist gut auf eine qualifizierte berufliche Tätigkeit vorbereitet.
1. Erfassung von Sachverhalt und Aufgabenstellung
So trivial es klingen mag, das richtige Erfassen des Sachverhalts und der Aufgabenstellung ist bereits die erste Hürde der Fallbearbeitung, bei der nicht wenige Bearbeiter straucheln. Dies gilt sowohl für die Klausurbearbeitung wie für die Praxis der Fallbearbeitung.
Die Faustformel lautet daher den Sachverhalt »mindestens 2x genau lesen«. Es empfiehlt sich dabei den Sachverhalt am Anfang einmal komplett zu lesen und nicht etwa nach dem zweiten Satz wieder an den Anfang zurückzukehren, weil z. B. nicht alles sofort erfasst wurde: Erst wenn man einmal den gesamten Sachverhalt gelesen hat, weiß man, worauf beim zweiten (und ggf. dritten) Lesen besonders zu achten ist. Das zutreffende Erfassen des Sachverhalts ist Teil der Klausur und keineswegs Zeitverschwendung.
Es empfiehlt sich nicht, zuerst – aus Neugier – die Aufgabenstellung (den Bearbeitervermerk) zu lesen, vielmehr sollte nach dem ersten Lesen nur des Sachverhalts ganz kurz eigenständig überlegt werden, mit welcher Aufgabenstellung wohl zu rechnen ist. Dies hat den Vorteil, dass man hier bereits die erste Selbstkontrolle hat: Stimmt die Aufgabenstellung mit der eigenen Erwartung nach dem ersten Lesen des Sachverhalts überein, scheint man auf dem richtigen Weg zu sein, wenn es hier dagegen signifikante Abweichungen gibt, erklären sich diese oft beim zweiten Lesen und wenn nicht, wird man dies zum Anlass nehmen müssen, noch einmal besonders gründlich nachzudenken.
Bei allem Zeitdruck in der Klausur: Panisches Losrennen in irgendeine Richtung führt regelmäßig ins Verderben. Hier gilt die Regel, die auch auf allen Notfallhinweisen zuerst steht: Ruhe bewahren! Dabei ist zu bedenken, dass – wie bereits erwähnt – in der Jurisprudenz Qualität wichtiger als Quantität ist und es besser ist, eine zumindest halbwegs vertretbare Falllösung wegen der knappen Zeit nur noch kurz zu Papier zu bringen, als sich durch langatmige und bestenfalls irrelevante oder schlimmstenfalls unzutreffende Aussagen um »Kopf und Kragen« zu schreiben.
Schon beim ersten Lesen sollte man im Text erste Unterstreichungen und Markierungen vornehmen, dies dient der intensiveren Auseinandersetzung mit dem Text (und kann überdies in der Klausur auch beruhigend wirken). Ideen zur Falllösung, die einem beim Lesen spontan kommen, sollte man sofort kurz stichwortartig an den Rand schreiben, damit man diese später nicht wieder vergisst (der erste Gedanke ist ja bekanntlich im Leben oft der richtige Gedanke).
Tauchen im Sachverhalt juristische Erklärungen wie etwa »daraufhin ficht A den Vertrag an« oder »B erklärt den Rücktritt« auf, dann sind diese sofort zu markieren und im Gutachten ist immer auf diese juristischen Aussagen einzugehen. Auch ein Richter muss und wird in seiner Urteilsbegründung immer auf derartige Erklärungen eingehen, egal wie abwegig und irrelevant sie im konkreten Fall sein mögen (und auch ein Richter wird in der Akte derartige Erklärungen sofort hervorheben). Besonders markieren sollte man auch juristische Angaben im Sachverhalt wie etwa »X handelte dabei grob fahrlässig«.
Bei komplizierteren Sachverhalten ist die Erstellung einer Skizze oder – wenn Daten offenbar eine Rolle spielen – die Erstellung einer Zeittafel notwendig. Da diese Arbeit Teil der Aufgabe ist, ist dies keine Verschwendung kostbarer Klausurzeit (ein Fehler bei der Sachverhaltserfassung ist im Laufe der Klausur kaum noch zu korrigieren und führt dazu, dass der Bearbeiter nur noch darauf hoffen kann, dass der Korrektor Gnade vor Recht ergehen lässt und die Arbeit als gerade noch bestanden bewertet). Bei sehr umfangreichen Sachverhalten mag es – im Gegensatz zu der obigen Regel – ausnahmsweise sinnvoll sein, zuerst den Bearbeitervermerk zu lesen, um bereits beim ersten Lesen zu wissen, worauf im Detail zu achten ist.
Praxishinweis: Übrigens wird man auch in der Praxis genauso verfahren (und wozu in der Lebenswirklichkeit ein Fehlverständnis beim Sachverhalt führt, bedarf sicher keiner näheren Erläuterung). Im Berufsleben mag es etwa bei der Übernahme von laufenden Projektakten sinnvoll sein, sich zunächst mit Hilfe des letzten Schrift- und E-Mailverkehrs Klarheit darüber zu verschaffen, worum es überhaupt (noch) geht (in einer Akte beginnt man mit dem Lesen also immer bei dem letzten Schriftsatz).
Ein Augenmerk sollte auch immer auf die Anfangsbuchstaben der handelnden Personen geworfen werden, oft enthalten diese bereits wertvolle Hinweise für die Falllösung: Ist dort von K (wie Käufer) und V (wie Verkäufer) die Rede, spricht dies für einen Kaufvertrag, steht dort U (wie Unternehmer) und B (wie Besteller) könnte dies einen Hinweis auf einen Werkvertrag enthalten. Häufig sind die Namen der handelnden Personen auch ein Anhaltspunkt für ihr Verhalten: »Anwalt Fuchs« schießt in den juristischen Fällen mit Vorliebe die »größten Böcke«. Nun gut, man muss diesen speziellen Juristenhumor ja nicht mögen, sollte ihn aber in der Klausur erkennen.
Vertiefender Hinweis: Man sollte dem Aufgabensteller nicht unterstellen, dass er gezielt eine bösartige Falle durch Verwendung irreführender Namen oder Abkürzungen einbaut. Die Jurisprudenz selbst ist bereits ein Minenfeld, so dass es für den Aufgabensteller gar nicht notwendig ist, künstlich zusätzlich Fallen in die Klausur zu installieren. Nun gut, ob dieser Hinweis zur allgemeinen Beruhigung beiträgt, sei dahin gestellt.
Der Sachverhalt sollte lebensnah interpretiert werden. Selbstverständlichkeiten werden in der Regel im Aufgabentext nicht erwähnt und können unterstellt werden, abwegige Verläufe des Sachverhalts sollten keinesfalls unterstellt werden. In juristischen Klausuren ist es – anders als im wahren Leben – eher unüblich, dass nicht relevante Tatsachen im Sachverhalt mitgeteilt werden, d. h. man sollte über...