Geschichte des globalen Christentums
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The way in which the world's religions are intertwined in the dynamics of global development has become obvious in the twenty-first century. This also applies to Christianity. In view of the fact that its historiography is still predominantly regional or national, however, little is known about Christianity's historical process of development to become a religion that is globally active and plurally differentiated.The second volume presents a comprehensive, interdenominational and interdisciplinary history of global Christianity in the nineteenth century, for the first time in the German-speaking countries. Renowned theologians, (church) historians and historians trace the numerous upheavals associated with the "long nineteenth century" that brought Christianity into the modern age.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783170315044

Die Revolutionen und die Kirche: Die neue Ära der Moderne

Hugh McLeod
Wie können wir die Geschichte des Christentums im Europa des 19. Jahrhunderts erzählen? Eine Möglichkeit könnte es sein, mit dem englischen Dichter Matthew Arnold (1822–1888) zu beginnen: Sein atmosphärisch eindrucksvolles Gedicht Dover Beach aus dem Jahr 1867 verglich das Abebben des Meers mit dem „melancholischen, langen, verklingenden Tosen“ des „Meers des Glaubens“. Im Kontrast dazu schrieb der Journalist und Historiker Robert C. K. Ensor (1877–1958), geboren zehn Jahre nachdem Arnold sein Gedicht geschrieben hatte, dass „keiner das viktorianische England je verstehen wird, der sich nicht im Klaren darüber ist, dass diese Gesellschaft unter den hochzivilisierten – im Gegensatz zu den primitiveren – Gesellschaften eine der religiösesten war, die es je gegeben hat“. Und er meinte, dass diese Religion den Gipfelpunkt ihres Einflusses ungefähr um 1870 erreicht hatte.1
Historiker, die von der Warte des späten 20. oder frühen 21. Jahrhunderts aus schrieben, kamen ebenso zu recht unterschiedlichen Urteilen. Der angesehene marxistische Autor Eric Hobsbawm glaubte, in seiner Geschichte Europas von 1848 bis 1875 das Thema Religion auf sieben Seiten erledigen zu können. Wie er zu Beginn des entsprechenden Unterkapitels schrieb, seien „die religiösen Anschauungen jener Epoche von verhältnismäßig eingeschränktem Interesse“. In einem seiner früheren Bücher hatte er schon gesagt, die Religion sei trotz ihrer bleibenden Bedeutung in den Jahren 1789–1848, „um einen Ausdruck aus der Biologie zu gebrauchen, nicht mehr dominant, sondern rezessiv“2. In diesen Worten kommt eines der einflussreichsten Narrative, das das 19. Jahrhundert als „Ära der Säkularisierung“ beschreibt, lediglich besonders unverblümt zum Ausdruck. Natürlich wurde diese Säkularisierung auf vielerlei Art und Weise erklärt, teils wegen unterschiedlicher Konzepte von Religion, teils wegen unterschiedlicher Vorstellungen vom geschichtlichen Wandel. So wird in der populären Geschichtsschreibung die Säkularisierung vor allem mit dem zunehmenden Einfluss der Wissenschaft – in erster Linie des Darwinismus – gleichgesetzt, also mit dem „Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft“ (History of the Conflict between Religion and Science), um den Titel eines einflussreichen Buchs zu zitieren, das 1874 in New York erschien. Der bedeutendste Autor innerhalb dieser Traditionslinie ist der englische Kirchenhistoriker Owen Chadwick, der gewichtige (und sehr viel differenziertere) Argumente dafür ins Feld führt, dass die intellektuellen Entwicklungen bei der Beschreibung und Erklärung der Säkularisierung eine entscheidende Rolle spielen müssen. Dazu gehören für ihn die Neuerungen in der Philosophie und im Geschichtsverständnis sowie in den Naturwissenschaften. Er weist aber auch der sozialen und politischen Geschichte eine wesentliche Rolle zu, obwohl diese Felder nicht zu seinen Hauptinteressen zählen.3 Demgegenüber interpretieren viele Historiker und Soziologen insbesondere in Deutschland die Säkularisierung vorrangig mithilfe soziologischer Begriffe. In dieser Perspektive geht die Säkularisierung in erster Linie aus eher unpersönlichen Prozessen des gesellschaftlichen Wandels hervor, vor allem aus Prozessen der funktionalen Differenzierung, wonach der Staat, die Wirtschaft, das Rechtssystem und andere wichtige gesellschaftliche Sphären seit der frühen Moderne einen beträchtlichen Grad an Autonomie entwickelt haben, während die Religion nicht mehr in der Lage war, ihre Bindungskraft ins Spiel zu bringen und verbindliche Regeln für alle Bereiche der Gesellschaft festzulegen.4 Schließlich gibt es noch vornehmlich politische Narrative wie jenes von Rémond. Für ihn war das beherrschende Thema der europäischen Religionsgeschichte von den 1790er- zu den 1890er Jahren der Wandel vom konfessionellen zum religiös neutralen Staat, wobei er, was das 19. Jahrhundert anbelangt, die liberalen Ideen und politischen Bewegungen als die bestimmenden Kräfte ansieht.5
Dagegen haben andere Historiker die hegemoniale Kraft der Glaubensüberzeugungen und -institutionen im 19. Jahrhundert herausgestellt und entweder die Kontinuitäten zur Frühmoderne aufgezeigt oder das Jahrhundert als Zeit der religiösen Wiederbelebung nach einem zuvor stattgefundenen Niedergang betrachtet. So nannte beispielsweise Olaf Blaschke, eine führende Autorität in Fragen des deutschen Katholizismus, das 19. Jahrhundert „ein zweites konfessionelles Zeitalter“, in welchem katholische und protestantische Identitäten sowie konfessionelle Konflikte starken Einfluss auf die meisten Lebensbereiche hatten – eine Ära, die er erst um 1960 enden sieht.6 Callum Brown, einer der einflussreichsten Historiker der Säkularisierung, bezeichnete Großbritannien im frühen 20. Jahrhundert als eine „Gesellschaft des Glaubens“. Und auch er hält die 1960er-Jahre für den wirklichen Wendepunkt.7 Dabei kam er zu diesem Schluss auf einem gänzlich anderen Weg, denn sein Hauptinteresse gilt den Kirchen als Vertretern der moralischen Disziplin und als Ausgestaltern von Geschlechterrollen, wobei er betont, wie nahe die verschiedenen Konfessionen einander in diesen Fragen sind.
Einen dritten Weg bei der Neubewertung der Geschichte des Christentums im 19. Jahrhundert gehen jene Historiker, die in verschiedenen Gegenden Frankreichs intensive Lokalstudien betrieben und eine Revitalisierung des Glaubens vorgefunden haben. In einer gelungenen Zusammenfassung der drei wichtigsten Schulen der französischen Katholizismus-Geschichtsschreibung erwähnt Langlois als erstes eine im Wesentlichen politische Geschichte (oft aus einer liberalen katholischen Perspektive), sodann eine „pessimistische“ Sozialgeschichte mit dem Hauptaugenmerk auf der Entchristianisierung und schließlich einen neueren historiografischen Ansatz, der „die Tatsache berücksichtigt, dass der Katholizismus in der Mehrheit war“. Dieser versucht, „die Dynamik eines Katholizismus sichtbar zu machen, der seine Fähigkeit zur Selbsterneuerung nicht verloren hat“. In dieser Perspektive erscheint der Ultramontanismus als „eine Gelegenheit, die die Kirche zu ergreifen wusste“, um „selbst näher an Rom und gleichzeitig näher an die Menschen heranzukommen“8. In der Religionsgeschichtsschreibung anderer Länder können wir dazu Parallelen finden – zum Beispiel in den unterschiedlichen „pessimistischen“ und „optimistischen“ Darstellungen der Religion im viktorianischen Großbritannien. (Diese scheinen einen Zyklus zu durchlaufen: vom „Optimismus“ Ensors in den 1930er Jahren, der dem vorherrschenden „Pessimismus“ in den 1960er und 1970er Jahren weichen musste, bis hin zum Aufkommen eines neuen „Optimismus“ in den 1980ern.)
Mein Hauptaugenmerk wird im Folgenden auf dem komplexen und widersprüchlichen Wesen der Geschichte dieses Zeitraums liegen. Das Europa des 19. Jahrhunderts war ein Ort und eine Zeit der heftigen religiösen Konkurrenz und nicht selten des Konflikts. Konservative und liberale Christinnen und Christen, Katholiken und Protestanten, etablierte Kirchen und freie Gemeinschaften, neue Glaubensformen und verschiedene Arten des Säkularismus und Humanismus wetteiferten um die Gewinnung von Anhängern, um Einfluss auf die öffentliche Meinung und um die Kontrolle wichtiger Institutionen. Das Ausmaß an Religionsfreiheit war von Land zu Land sehr unterschiedlich, und auch in anderen religiösen Fragen schlugen die Länder von West-und Mitteleuropa im 19. und frühen 20. Jahrhundert verschiedene Wege ein. Darum wird dieser Beitrag einerseits allgemeine Tendenzen festhalten, andererseits aber auch die großen und oft noch wachsenden Unterschiede nicht nur zwischen, sondern häufig auch in den europäischen Ländern thematisieren. Die Ancien-Régime-Gesellschaften waren stark hierarchisch organisiert und reglementiert. Die Staaten arbeiteten eng mit den Staatskirchen zusammen, um dem Lebenswandel ihrer Bürger einen disziplinarischen Rahmen von Privilegien und Unterordnung zu geben und jene Minderheiten zu diskriminieren, die sich nicht bereitwillig in diesen Rahmen einfügten. Davon unterscheiden sich die Gesellschaften, die sich seit den 1960er-Jahren entwickelt haben, in beinahe unvorstellbarer Weise. Für sie sind individuelle Freiheit und die Rechte der Einzelnen die höchsten Werte (wenn auch im Kontext großer Ungleichheit hinsichtlich Wohlstand und Macht), und viele Menschen erheben den Anspruch, auch in Fragen des Glaubens und der Moral ihre eigenen Wege beschreiten zu können. Doch zwischen dem Ancien Régime und der Gegenwart liegt die Ära der kollektiven Emanzipation, in welcher untergeordnete soziale, ethnische, nationale und religiöse Gruppen ihre Rechte geltend machten und jene Aspekte der alten Ordnung in Frage stellten, die sie als minderwertig brandmarkten. Die Religion war mit diesen Prozessen aufs engste verknüpft. Manchmal sprachen Emanzipationsbewegungen in der Sprache der Staatskirche und forderten deren Unterstützung ein. Häufiger aber verbündeten sie sich mit religiösen Abweichlern oder entwickelten eine Weltanschauung, die säkular oder zumindest gegen alle existierenden Kirchen eingestellt war. Der Säkularismus trat also im 19. Jahrhundert oft als Begleitaspekt von Emanzipationsbewegungen auf. Zudem wurde er von neuen intellektuellen Entwicklungen untermauert, insbesondere vom Darwinismus und von der kritischen Bibelwissenschaft. Trotzdem sollte man nicht übersehen, dass die Verbreitung dieser Ideen stark von ihrem politischen und religiösen Kontext beeinflusst wurde. Die wesentlichen Unterschiede in der Religionsgeschichte der verschiedenen europäischen Länder zwischen 1789 und 1914 werden am besten verstanden, wenn man die unterschiedlichen Rollen der Religion und des Säkularismus in diesen kollektiven Emanzipationsprozessen in den Blick nimmt.
Im Europa des 19. Jahrhunderts waren Religion und Politik aufs engste miteinander verbunden. Die entstehenden politischen Parteien konnte man in der Regel am besten nach ihrem Verhältnis zur Kirche einordnen. So waren die Konservativen vor allen Dingen die Verteidiger der Staatskirche ihres Landes, und konservative Politik war dementsprechend gefärbt: beispielsweise vom Katholizismus in Belgien, vom Anglikanismus in England oder vom Luthertum in vielen Teilen Deutschlands und Skandinaviens. Die Freiheit, die die Liberalen forderten, bezog sich auf die Religion ebenso wie auf die Wirtschaft oder die Politik; folglich wollten sie die Macht der Staatskirchen beschneiden und waren oft antiklerikal – wenn auch nicht notwendigerweise areligiös. In vielen überwiegend katholischen Ländern wurde der Liberalismus zum Ende des 19. Jahrhunderts hin immer säkularer, doch anderswo, vor allem in Großbritannien, waren viele Liberale zugleich gläubige Christen. Die sozialistischen Parteien, die seit den 1860er-Jahren in Deutschland und bis zu den 1880ern in anderen Teilen Europas entstanden, riefen wegen des militanten Antiklerikalismus und oft Atheismus vieler ihrer Parteiaktivisten nicht nur bei den Reichen, sondern in allen Klassen starke Abwehr hervor. Wiederum mit Ausnahme Großbritanniens hatten die sozialistischen Parteien über lange Zeit Schwierigkeiten dabei, Wähler in Gegenden anzusprechen, wo viele Menschen aus der Arbeiterklasse auch Kirchgänger waren. Umgekehrt hatten auch die meisten religiösen Bewegungen eine politische Dimension, wie den Zeitgenossen sehr wohl bewusst war.
Politische Ereignisse bildeten den Rahmen, in dem sich der Wettstreit zwischen den rivalisierenden Christentümern oder zwischen Religion und Säkularismus entspann. Deshalb sollen diese Ereignisse auch den Rahmen der folgenden Darstellung abgeben, wobei natürlich auch zahlreiche andere Aspekte des Christentums im 19. Jahrhundert eine Rolle spielen werden. In diesem Zeitraum fanden zudem dramatische soziale Veränderungen statt, vor allem solche im Zusammenhang mit der Industrialisierung und Verstädterung. Aber auch der Wandel in den Wissenschaften und in der kritischen Bibelforschung darf nicht übersehen werden. Dabei gilt es, jeglichen Anschein von Determinismus zu vermeiden. Nicht nur die neuen Ideen, sondern auch die Industrialisierung und Urbanisierung wirkten sich – je nach politischem und religiösem Kontext, in dem sie stattfanden – unterschiedlich aus. Vor allem die Rollen, die die Kirchen und die säkularistischen Bewegungen in den Emanzipationsprozessen unterprivilegierter sozialer Gruppen spielten, fielen von Land zu Land äußerst unterschiedlich aus. Seit ungefähr 1960 geht der Trend in Europa in Richtung der religiösen Konvergenz, d. h. die Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen sowie zwischen den stärker und weniger stark säkularisierten Gesellschaften nehmen erheblich ab. Im 19. Jahrhundert dagegen nahmen die religiösen Unterschiede zwischen den europäischen Ländern zu.
Ein sehr bekanntes Muster ist jenes, das man in polarisierten Gesellschaften wie Frankreich findet, wo eine dominante katholische Kirche mit einem meist sehr militanten antiklerikalen Liberalismus im Streit lag. Trotz etlicher nationaler Unterschiede fand sich dieses Muster auch in Ländern wie Spanien, Portugal, Italien und Belgien. Ganz anders war die Situation in Großbritannien, das weitgehend protestantisch war, weshalb die wichtigste Schlacht im 19. Jahrhundert zwischen den Staatskirchen und ihren protestantischen Rivalen, den Nonkonformisten oder Dissenters („Abweichler“), geschlagen wurde. In Schweden wurde es erst 1860 erlaubt, die Lutherische Kirche zu verlassen, doch blieb die Situation vom späten 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert ähnlich. Ganz anders war es wiederum in Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz. Dort standen sich eine protestantische Mehrheit und eine starke katholische Minderheit gegenüber, aber gleichermaßen bedeutsam waren die Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen innerhalb der protestantischen Kirchen. Auch in Dänemark und Norwegen standen die Streitigkeiten innerhalb der Lutherischen Kirche im Vordergrund; allerdings blieben die Pietisten dort in der Staatskirche, wo sie mit einer starken liberalen Gegnerschaft konfrontiert waren. In einigen Teilen Mittel- und Osteuropas war die tiefste Trennung indessen diejenige zwischen Christen und Juden, unabhängig davon, ob „christlich“ nun wie in Österreich oder Polen, in erster Linie „katholisch“ bedeutete oder ob die Situation wie in Ungarn durch das Vorhandensein mehrerer großer christlicher Konfessionen kompliziert wurde. Und schließlich gab es noch die vielen Regionen Europas, in denen populäre Nationalbewegungen aufkamen, um die Vielvölkerstaaten, die große Teile des Kontinents beherrschten, herauszufordern. Sie verlangten Autonomie oder gar Unabhängigkeit für ihre eigenen „Nationen“. In solchen Konstellationen hatte der Anteil der Religion an der nationalen Identität besonders große Auswirkungen auf die gesellschaftliche Position der Kirche. In Irland, Polen und Litauen verbanden sich die Nationalbewegungen aufs engste mit dem Katholizismus; der tschechische Nationalismus nahm dagegen weitgehend säkulare, oft säkularistische Züge an, da die Katholische Kirche allzu eng mit der österreichischen Herrschaft und der Dynastie der Habsburger im Bunde war.
Das Verhältnis der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen zu den Kirchen gestaltete sich in jedem Land anders. Und auch die Möglichkeiten der religiösen und säkularen Kräfte, auf Schlüsselinstitutionen wie Schulen, Universitäten, Gesundheitswesen und Wohlfahrt, Armee, Presse oder politische Parteien Einfluss zu nehmen, war sehr unterschiedlich ausgeprägt. Um eine Parallele zum Sport zu bemühen, könnte man sagen, dass der Wettstreit zwischen Religion und Säkularismus oder zwischen staatskirchlicher und freikirchlicher Religion mehr einem Schachspiel als einem Fußball- oder Rugby-Match glich. Beim Fußball oder Rugby mag das Spiel überwiegend in einer der beiden Hälften des Spielfelds stattfinden, doch nur der Torestand sagt klar, welche Mannschaft gewinnt. Beim Schach ist es dagegen wahrscheinlich, dass jeder Spieler ein paar wichtige Bereiche des Bretts kontrolliert, andere aber nicht. So hat jeder Spieler starke und schwache Figuren; der Vorteil für den König von Weiß kann durch den Vorteil für die Dame von Schwarz ausgeglichen werden, und es kann bis zum Ende des Spiels offen bleiben, ob die Bedrohung des gegnerischen Königs durch Weiß mehr bedeutet als der Freibauer von Schwarz.
Ähnliche Auseinandersetzungen gab es überall in der christlichen Welt des 19. Jahrhunderts – im überwiegend protestantischen Nordamerika ebenso wie in den mehrheitlich katholischen Ländern von Süd- und Mittelamerika oder in der orthodoxen Welt Russlands, der Ukraine und des Balkans. Im Folgenden aber steht ein bestimmter Teil der Christenheit im Mittelpunkt, nämlich die traditionell katholischen und protestantischen Länder Europas, von Polen und den baltischen Staaten im Osten bis Irland im Westen, vom lutherischen Norden zum katholischen Süden.

1. Eine neue Ära?

In den 1780er und 1790er Jahren schien sich eine neue Ära der Religionsfreiheit anzubahnen. Selbst in den katholischen Monarchien Österreichs und Frankreichs ließen die Toleranzedikte von 1781 und 1787 bei den bedrängten Gemeinschaften der Protestanten Hoffnung aufkommen. In Englands protestantischer Monarchie tauchten die Katholiken aus zweihundertjähriger Verfolgung auf und erhielten 1791 das Recht, öffentliche Gottesdienste abzuhalten (nur auf das Recht, im Parlament zu...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Impressum
  3. Vorwort
  4. Einführung in Band II (Hugh McLeod)
  5. Die Revolutionen und die Kirche: Die neue Ära der Moderne (Hugh McLeod)
  6. Katholizismus, Europäischer Ultramontanismus und das Erste Vatikanische Konzil (Andreas Holzem)
  7. Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert (vom späten 18. Jahrhundert bis 1914) (Kevin Ward)
  8. Das Christentum in Russland 1700–1917 (Christian Gottlieb)
  9. Das Christentum im Nahen Osten zwischen 1799 und 1917 (Mitri Raheb)
  10. Das Christentum in Nordamerika im 19. Jahrhundert (Margaret Bendroth)
  11. Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Klaus Koschorke)
  12. Das Christentum in Afrika vom späten 18. Jahrhundert bis 1914 (Kevin Ward)
  13. Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert (Martin N. Dreher)
  14. Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen: Interreligiöse Dynamiken und Entwicklungen im 19. Jahrhundert (Ulrike Schröder & Frieder Ludwig)
  15. Reflexion und Ausblick (Hugh McLeod)
  16. Kurzbiographien der beteiligten Personen in alphabetischer Reihenfolge
  17. Ortsregister
  18. Personenregister
  19. Abbildungsverzeichnis