I Theoriearsenale der Didaktik
Reformpädagogik
Dieses Kapitel arbeitet die Entwicklung der Didaktik in ihrer historischen Dimension auf. Wichtige Ideenlieferanten in der Zeit der Reformpädagogik (etwa von 1900–1933) werden in ihren Grundauffassungen in Kurzform vorgestellt. Darauf folgt die Darstellung des „Mainstreams“ der Didaktikentwicklung. Sie verfolgt im ersten Teil die Zeit von 1945–1965 und im zweiten Teil die Zeit von 1966–1989. Hier werden die am häufigsten diskutierten Ansätze vorgestellt, die entsprechend oft Eingang in die verschiedenen Publikationen gefunden haben. In diesem Buch geht es um ihre kurze Beschreibung, der Schwerpunkt liegt aber auf der Darstellung von Entwicklungen.
Interessant dabei ist, dass eine ganze Reihe weiterer Ansätze ebenso häufig vernachlässigt worden ist. Da dies im Grunde nicht zu rechtfertigen ist, werden sie im Unterkapitel 4 unter der Überschrift „Die vernachlässigten Didaktiken“ beschrieben. Für den Leser/die Leserin wird ein Leseresümee sein, dass die Vielfalt außerordentlich ist und dass die fortwährende Einengung auf einige wenige Konzepte eigentlich nicht zu rechtfertigen ist.
Mit diesem Kapitel ist dann die Grundlage gelegt, um den aktuellen Diskussionsstand pointiert zu beschreiben. Im Mittelpunkt stehen dabei eine neu zu entdeckende Vermittlungsdidaktik, Handlungsorientierung, Autodidaktik und der ganz neue Ansatz der Subjektiven Didaktik.
1 Ideengeber der Reformpädagogik
Berthold Otto (1859–1933) – Zentrales Statement
Gesamtunterrricht
„Meiner Meinung nach bringen historische Veränderungen einen ständigen Wandel der Bildung mit sich. Kinder und Jugendliche haben eigene Formen des Weltverständnisses und des Sprechens miteinander, die wir als Lehrer in der Schule unbedingt beachten müssen. Ich möchte sogar so weit gehen, die spontanen Fragen von Kindern und Jugendlichen als Basis für den Schulunterricht zu bezeichnen. In meiner Schule in Lichterfelde habe ich daher den Gesamtunterricht eingeführt: Mehrere Wochenstunden werden zusammengefasst, in denen sich die ganze Schule versammelt und die Schüler sich gegenseitig befragen können, wobei der Lehrer sozusagen nur als Moderator agiert. Unter der weiterführenden und beratenden Betreuung des Lehrers bilden sich die Schüler in diesem Gesamtunterricht weiter.“
Hugo Gaudig (1860–1923) – Zentrales Statement
Freie geistige Tätigkeit
„Ich bin fest davon überzeugt, dass die größte Gefahr für die Bildung durch zu fest gefügtes Wissen entsteht, welches nur reproduziert werden kann. Freie Entfaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft und vor allem auch im einzelnen Menschen werden dadurch behindert. Daher halte ich die freie geistige Tätigkeit bereits im Schulbereich für erforderlich, denn diese führt automatisch zu einer Persönlichkeitsbildung auf dem Fundament der Selbstentfaltung. Diese geistige Tätigkeit und Mobilität ist aber nur zu erreichen, wenn man Kinder und Jugendliche sich selbst betätigen lässt. Für mich heißt die Konsequenz daraus, dass der Unterricht statt vom Lehrer besser vom Schüler geplant werden sollte. Neue Horizonte können nur durch neue Arbeitsformen und ständig praktizierte Selbsttätigkeit eröffnet werden.“
Hermann Lietz (1868–1919) – Zentrales Statement
Selbstständiges Handeln
„Das öffentliche Bildungswesen schien mir nicht mehr korrigierbar zu sein: Das ganze Auswendiglernen und Wiedervergessen, diese intellektuelle Einsicht konnte ich nicht mehr ertragen. Mein pädagogischer Ansatz beruht auf der Idee, eine neue Erziehung aufzubauen, die fernab der sittenlosen Welt der Erwachsenen liegen sollte. Der Wahlspruch meiner neu gegründeten Landeserziehungsheime war ‚Licht – Liebe – Leben‘; hier sollten die Schüler selbstständiges Handeln lernen. In den Heimen arbeiteten die Jugendlichen körperlich: Zum Beispiel stellten sie Möbel her, gestalteten ihren eigenen Wohnraum, halfen beim Ausbau der Heime und waren verantwortlich für die Planung und Durchführung großer Fahrten. Mein Ziel war es, den Schülern das Leben als Ganzes begreifbar zu machen und es in ihre Hand zu legen, ihre Freizeit selbst zu gestalten.“
Peter Petersen (1884–1952) – Zentrales Statement
Gemeinschaft
„Für mich stellt die Schule ein Gefüge unterschiedlicher Betätigungsformen und -felder dar: Spiel und Fest, straffe Kurse des Wissenserwerbs, Individualarbeit, Gruppenarbeit in kleinen und großen Gruppen und all das gehören für mich zum Leben in der Schule dazu. Alle Aktivitäten führen zusammen in eine notwendige Solidarität der Gemeinschaft. Im Schulplan von Jena wurden einige meiner Ideen aufgenommen. Besonderes Gewicht bekam dabei mein Vorschlag, dass mehrere Schüler und Lehrer gemeinsam eine Aufgabe entwerfen und dies nach eigens gesetzten Richtlinien bearbeiten. Dadurch lernt ein Schüler nicht nur, sich mit seinen Mitschülern auseinander zu setzen, sondern erfährt Schule auch als Ort, wo man sich mit den Dingen des Alltags, die jeden Schüler angehen, auseinander setzt.“
Georg Kerschensteiner (1854–1932) – Zentrales Statement
Konstruktive Betätigung
„Konstruktive Betätigung ist das, was Jugendliche brauchen. Sie sollen vor allem manuell tätig werden und lernen, ihr eigenes Handwerk zu gebrauchen, um der Sache gerecht zu werden. Für wichtig halte ich hierbei besonders eine zielvolle Aufgabenerfüllung und ebenso Material- und Funktionsgerechtigkeit. Mein Ansatz fiel überwiegend in Berufsschulen auf fruchtbaren Boden. Ein sehr berühmtes Beispiel für meine Methode ist die Planung und Herstellung eines Starenkastens.“
Fritz Karsen (1885–1951) – Zentrales Statement
Projekt
„In meinem Ansatz taucht ein Begriff auf, den ich bei meinen Vorgängern und Zeitgenossen noch nicht finden konnte, nämlich der des ‚Projekts‘. Das zentrale Projekt sehe ich darin, die Gesellschaft selber auf eine menschlich höhere Stufe der Kultur zu heben. Schule ist für mich eine ‚soziale Arbeitsschule‘, vergleichbar mit einer ‚modernen Werkstatt‘. Sie sollte genossenschaftlich organisiert werden, d. h. dass ihre Ziele nicht von außen festgelegt, sondern von den Mitgliedern bestimmt werden. Der erste Schritt für die Projektarbeit in der Schule sollte darin bestehen, ein Komitee aus Lehrern und Schülern zu bilden, welches zu Anfang eines Schuljahres einen Projektplan für die ganze Schule entwickelt. Als Nächstes sollten einzelne Klassen überlegen, welche Projekte sie im Rahmen dieses Planes durchführen wollen. Hinter diesem Ansatz steckt das Ziel, dass Schüler Schularbeit als sinnvoll erfahren lernen. Außerdem können sie erkennen, dass Probleme durch Zusammenarbeit und Aufgabenteilung bewältigt werden können. Meiner Ansicht nach liegt der Höhepunkt von Projekten in der Anfertigung ‚vorweisbarer Produkte‘, die am Ende des Schuljahres in einer Ausstellung vereinigt und kritisch gewürdigt werden sollten.“
Otto Haase (1893–1961) – Zentrales Statement
Vorhaben
„Der Unterricht in der Grundschule sollte durch drei methodische Grundformen gestaltet werden: Zentraler Aspekt ist das Vorhaben, daneben steht das Training der Kulturtechniken und der Gesamtunterricht, womit ich eine Idee von Berthold Otto aufgreife. Vorhaben sollen von den ursprünglichen Bedürfnissen und dem Willen der Kinder ausgehen und unmittelbar aus dem gelebten Leben erwachsen. Unter Vorhaben verstehe ich, dass die Schüler ‚zupacken‘, ‚ein Werk schaffen‘, ‚eine Arbeit vollenden‘. Die Schule sollte Ernstsituationen hereinholen und keine Arbeit an künstlichen Objekten durchführen. Die Aufgabe des Lehrers besteht im Wesentlichen darin, den Schülern angemessene Aufgaben zu verteilen. Ein Vorhaben muss allerdings nicht unbedingt mit Planung beginnen, ein Lehrer kann auch spontan ‚Vorhaben‘ von Kindern erlauben. Ein Vorhaben kann beispielsweise das Vorbereiten eines Schulfestes, das Erstellen einer Schülerzeitung oder die Organisation und Durchführung von Kinderspielen sein.“
Adolf Reichwein (1898–1944) – Zentrales Statement
Vollendung eines Werkes
„Ich verstehe unter Vorhaben die Verwirklichung einer ‚selbsttätigen Erziehungsgemeinschaft...