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Kurze Skizze zu den historischen Grundlagen der geschlechter-getrennten Bildung
Eine weit verbreitete Ansicht ĂŒber das GeschlechterverhĂ€ltnis lautet, dieses sei âimmer schonâ auf dieselbe Weise ungleich gewesen, Frauen hĂ€tten sich âimmer schonâ als SchwĂ€chere in einer unterlegenen gesellschaftlichen Position befunden, festgelegt auf das HĂ€usliche, die EmotionalitĂ€t und die Sorge fĂŒr Andere, und MĂ€nner seien âimmer schonâ rational und beherrschend gewesen. Auf diesem Hintergrund werden dann im Umkehrschluss geschlechtstypische Verteilungen in Staat, Gesellschaft und Bildungswesen gewissermaĂen als Ausdruck historischer ZwangslĂ€ufigkeiten verstanden. Doch so einfach ist das nicht. TatsĂ€chlich haben alle uns bekannten Gesellschaften zwischen den Positionen von MĂ€nnern und Frauen unterschieden und es sind in den meisten uns bekannten Gesellschaften Ansehen, Macht, Rechte und ökonomische Ressourcen â also Besitz und Erwerbsmöglichkeiten â nicht gleich, sondern ungleichgewichtig zugunsten der MĂ€nner verteilt. Doch erstens gibt es dabei groĂe graduelle und strukturelle Unterschiede in der Logik der Aufteilung, und zweitens variieren die BegrĂŒndungen fĂŒr diese Ungleichverteilung ganz erheblich. FĂŒr unsere Region und Fragestellung sind dabei insbesondere die Entwicklungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts auĂerordentlich wichtig und aussagekrĂ€ftig. In dieser Zeit kamen die Auffassungen ĂŒber Geschlechter und ihre Eignungen durch AufklĂ€rung, Revolution und die Entfaltung der Wissenschaften in Bewegung, die gesellschaftlichen Aufgaben von Frauen und MĂ€nnern wurden neu bestimmt und dabei vor allem âvereindeutigtâ.
Das 18. Jahrhundert war â dies nur in aller KĂŒrze â eine Zeit des enormen politischen, ökonomischen und sozialen Wandels, da mit den Ideen der AufklĂ€rung die bestehenden VerhĂ€ltnisse einer grundlegenden Revision unterzogen wurden und sich eine neue gesellschaftliche Schicht herausbildete: das BĂŒrgertum. In Abgrenzung einerseits vom Adel mit seinem MĂŒĂiggang, seiner Verschwendungssucht und seinem feudalen Leben von der Arbeit anderer, und von den Bauern, den armen Leuten, ihren ZwĂ€ngen und BeschrĂ€nkungen andererseits, kultivierte das BĂŒrgertum (genauer: die bĂŒrgerliche Oberschicht) ein ausgeprĂ€gtes Brauchbarkeits- und NĂŒtzlichkeitsdenken, aufklĂ€rerisch, aber der Revolution abgeneigt und eher darauf aus, den Staat fĂŒr seine Interessen nutzbar zu machen.
Von nachhaltiger Wirkung auf die VerĂ€nderungen der gesellschaftlichen Ordnung waren natĂŒrlich die wirtschaftliche und technologische Entwicklung und die dazu gehörenden Theorien. Mit der Ausbreitung des Handels, der VerĂ€nderung der Produktionsweisen und des Hauswesens wurde im 18. Jahrhundert die politische Ăkonomie bzw. Nationalökonomie die Leitwissenschaft zur ErklĂ€rung des Kreislaufs der GĂŒter und des Werts der Arbeit. Die ausschlieĂliche Konzentration auf den Markt, den Gebrauchs- und Tauschwert der GĂŒter, fĂŒhrte dazu, dass die Arbeiten, die der Sicherung der Existenz und der Ausgestaltung der Sozialbeziehungen dienten, dem Essen, Trinken, Schlafen, Erziehen, dem Wohlergehen und dem sozialen Miteinander der Menschen, in dieser Rechnung (der âArbeitswerttheorieâ) nicht als âWertâ auftauchten. Das Haus, das in der alten Ăkonomie des 17. und frĂŒhen 18. Jahrhunderts der gemeinsame Lebens- und Arbeitsort aller Familienmitglieder gewesen war, wo alle Arbeiten als Beitrag zum Gelingen des Ganzen angesehen wurden, wird von nun an zur StĂ€tte des Konsums und des Sozialen â die dort verrichtete Arbeit erscheint nicht mehr als wertschöpfende TĂ€tigkeit, sondern wird zur Konsumtion und Reproduktion degradiert.
Das fÀrbt logischerweise auf die Personen ab, deren TÀtigkeitsfeld sich zunehmend auf Binnenraum der Familie konzentriert: die Frauen.
Die Frau der AufklĂ€rungszeit und des BĂŒrgertums hatte keine vollen, den MĂ€nnern entsprechenden bĂŒrgerlichen Rechte â sie konnte niemals einen Status von selbstbestimmter UnabhĂ€ngigkeit erlangen, sondern sie blieb der âvĂ€terlichen Erziehungsgewaltâ unterworfen, bis diese auf den Ehemann oder einen Nachfolger des Vaters ĂŒberging. Von hier aus begrĂŒndet sich auch die (teilweise noch bis heute weiterwirkende) Sitte, dass Söhne eine Ausbildung und Töchter statt dessen eine âAussteuerâ erhalten â eine Abfindung in Form von Hausrat, die damals zugleich die Tochter von ErbansprĂŒchen an die Herkunftsfamilie ausschloss (Heinemann 1990: 260).
Das Fernhalten der Frauen von der höheren Bildung, die ja auf das Leben und Arbeiten in einem öffentlichen gesellschaftlichen Raum abzielte, verstĂ€rkte und betonte also die Tatsache, dass die Frauen nicht an dieser Ăffentlichkeit teilhaben durften, ihren weitgehenden Ausschluss aus den politischen und wirtschaftlichen Bereichen der Gesellschaft und ihre Konzentration auf den engen Raum des Hauses: âFrauen besaĂen kein eigenes Geld, konnten ĂŒber ihr Vermögen nicht selber verfĂŒgen und hingen deshalb in all ihren WĂŒnschen und BedĂŒrfnissen von ihren EhemĂ€nnern abâ (Frevert 1986: 46).
Innerhalb der Familie hatten die Frauen des spĂ€ten 18. Jahrhunderts aber durchaus eine definierte Erziehungsaufgabe: die Bildung der âjungen Kinderseelenâ (so ein Text von J. H. Campe), die Grundlegung von Erziehung bei den kleinen Kindern, die auch das Lesenlernen und das erste Rechnen mit einschloss.
Um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert erschienen eine ganze Reihe von Erziehungsratgebern und Anleitungen fĂŒr MĂŒtter, wie sie ihre Kinder das Lesen lehren sollten. Diese waren recht eigentlich âdoppelteâ Fibeln, denn sie nahmen die MĂŒtter â also diejenigen, die die Basis des Bildungsprozesses und die Grundlagen der Kulturalisation zu legen hatten â vor allem als BelehrungsbedĂŒrftige in den Blick (vgl. auch Kap. 3.2, 4.1). Damit wurden Frauen genau wie ihre Kinder zu Lernenden im Haus â ihr Lernen wurde aber an den familialen, privaten Kontext gebunden und blieb so von der âeigentlichenâ Bildung auĂer Haus abgeschnitten.
Was das öffentliche Schulwesen angeht, so wurden zwar schon im 18. Jahrhundert in den deutschen LĂ€ndern die ersten Edikte zu einer allgemeinen Schulpflicht erlassen, die an MĂ€dchen und Jungen gleichermaĂen adressiert waren â doch hier stand nicht der Erwerb von Wissen im Vordergrund, sondern vor allem die sittliche und religiös-moralische Erziehung: Der Schulbesuch mĂŒsse fĂŒr alle Kinder verbindlich sein â denn âwenn ich baue und verbessere das Land und mache keine Christen, so hilft mir das alles nichtâ, schrieb König Friedrich Wilhelm I. zu seiner 1717 erlassenen Verordnung zum Schulbesuch (nachzulesen in der PreuĂenchronik des RBB: www.preussen-chronik.de).
Faktisch waren diese Edikte wohl eher âwohlgemeinte AbsichtserklĂ€rungenâ (Herrlitz et al. 1998: 52), der Schulbesuch war im 18. Jahrhundert keineswegs selbstverstĂ€ndlich â und wegen des zu zahlenden Schulgeldes war er fĂŒr die meisten Ă€rmeren Eltern ohnehin unerschwinglich. Es sollte noch ĂŒber hundert Jahre dauern, bis die allgemeine Schulpflicht annĂ€hernd durchgesetzt wurde (ebd.). Doch macht uns dieser âBlick zurĂŒckâ darauf aufmerksam, dass die heftigen und streitigen Diskussionen, die im 19. Jahrhundert um die Beschulung von MĂ€dchen gefĂŒhrt wurden, sich weniger auf die Volksschule bezogen, sondern vor allem auf das weiterfĂŒhrende Schulwesen. Die Grundbildung, die nur die einfachsten Kulturtechniken umfasste, galt also als eine â in erster Linie von den Eltern (der Mutter) vermittelte, von der Volksschule eher halbherzig unterstĂŒtzte â, jedem Kind zustehende âGrundlage des menschlichen Daseinsâ (Heinemann 1990: 256). Doch die weiterfĂŒhrende Bildung zielte auf FĂ€higkeiten, die fĂŒr öffentliche Aufgaben nötig und brauchbar waren: fĂŒr die AusĂŒbung eines Berufs, das Studium an einer UniversitĂ€t und die Wahrnehmung von BĂŒrgerpflichten â und von diesen waren Frauen ja ausgeschlossen.
FĂŒr das BĂŒrgertum als gesellschaftliche Schicht jedoch waren Bildung und Schulbildung die entscheidenden Erfolg versprechenden Bereiche der Investition â das Lesen wurde zu einer hochgeschĂ€tzten BetĂ€tigung und Teil bĂŒrgerlicher Ăffentlichkeit. Ăberall entstanden Leihbibliotheken, Lesezirkel und Lesegesellschaften, ganz ĂŒberwiegend den MĂ€nnern vorbehalten (Frevert 1986: 35; Jonach 1997: 46). Die wenigen Salons von Frauen, die ein gemischtes Publikum anzogen, waren die absolute Ausnahme. Und da die neue bĂŒrgerliche Schicht, vom NĂŒtzlichkeitsdenken geleitet, auf die gemeinsam betriebene wirtschaftliche Weiterentwicklung orientiert war, wobei Bildung ihr wichtigstes Mittel zur Selbstdefinition und Selbstformung wurde, sollte nun auch diese Bildung nicht mehr nur als individuelle Veranstaltung zwischen dem einzelnen Hauslehrer und seinem Zögling stattfinden, sondern als institutionell organisierter Prozess betrieben werden.
Die erste Gruppe von BildungsbĂŒrgern, die sich mit organisierter Schulbildung befassten, waren die Philanthropen (die âMenschenfreundeâ, meist PĂ€dagogen und Theologen), unter denen Basedow, Campe, Trapp und Salzmann wohl die bekanntesten sind. In Modellschulen, den Philanthropinen, wurden neue Bildungs- und Erziehungswege ausprobiert â ĂŒberwiegend nur fĂŒr Jungen (wie in Dessau), teilweise aber auch unter Beteiligung von MĂ€dchen oder in getrennten Einrichtungen (so gab es auch Philanthropine fĂŒr MĂ€dchen, etwa in Frankenthal). An den philanthropischen Schriften lĂ€sst sich dann auch gut ablesen, welches die zentrale Orientierung fĂŒr die Bildung von MĂ€dchen des gehobenen BĂŒrgertums im 19. Jahrhundert war: die weibliche Bestimmung zur Hausfrau, Gattin und Mutter (NĂ€heres zur BegrĂŒndung und zur Argumentation einzelner Autoren siehe Kap. 2).
Die in dieser Zeit speziell fĂŒr MĂ€dchen gegrĂŒndeten öffentlichen Schulen unterschieden ihrerseits in ihren BildungsplĂ€nen deutlich zwischen den verschiedenen StĂ€nden. Die âIndustrieschulenâ fĂŒr MĂ€dchen aus den niederen StĂ€nden sollten vor allem auf die frauentypischen Erwerbsarbeiten (und die Arbeit als Dienstbotinnen) vorbereiten â im âIndustrieunterrichtâ lernten sie vor allem NĂ€hen, Spinnen, Stricken und die Gewöhnung an âArbeitsamkeitâ (vgl. Mayer 1996), wĂ€hrend in den höheren MĂ€dchenschulen die auch fĂŒr die Knabenschulen ĂŒblichen FĂ€cher unterrichtet wurden â allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie keinerlei Abschlusszeugnisse oder Berechtigungen vergeben durften (Herrlitz et al. 1998: 93).
An dieser Stelle setzte nun gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Frauenbewegung mit ihren Forderungen an. Wie sollen denn die MĂŒtter, so argumentierten die WortfĂŒhrerinnen, ihre Aufgabe der grundlegenden Bildung erfĂŒllen, wenn sie selber so schlecht gebildet sind? Und wie sollten sie besser gebildet werden, wenn nicht Frauen als Lehrerinnen in den Schulen unterrichten durften? Das war die Strategie des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins (ADLV), der 1890 gegrĂŒndet wurde und ĂŒberaus groĂe politische Wirkung erlangte. Aus einer heutigen politischen Perspektive gesehen war die Position des ADLV problematisch, da sie von einer naturgegebenen Verschiedenheit der Geschlechter ausging und die Frauen dadurch mit dem Etikett einer natĂŒrlichen Eignung aller Frauen zum Erziehen, der âgeistigen MĂŒtterlichkeitâ, auf einen begrenzten intellektuellen und gesellschaftlichen Raum festlegte â doch andererseits war es möglicherweise gerade diese BeschrĂ€nkung, die in der damaligen Gesellschaft und von den MĂ€nnern einigermaĂen akzeptiert werden konnte, die letztlich zum Erfolg fĂŒhrte: zu der 1908 erlassenen âBestimmung ĂŒber die Neuordnung des höheren MĂ€dchenschulwesensâ, das Frauen die Zulassung zum UniversitĂ€tsstudium ermöglichte. Zwar war auch hier noch das MĂ€dchen-Lyzeum als Regelform höherer MĂ€dchenschulbildung festgelegt, doch war der Grundstein fĂŒr eine breitere Bildung von MĂ€dchen gelegt. 1923 wurde das MĂ€dchenlyzeum den Realschulen des Knabenschulwesens gleichgestellt und 1932 waren bereits fast ein Drittel der Abiturienten junge Frauen. Von diesen nahmen jedoch bis ins spĂ€te 20. Jahrhundert insgesamt immer deutlich weniger nach dem Abitur tatsĂ€chlich ein Studium auf, als es bei den MĂ€nnern der Fall war, so dass die jungen Frauen also (bis heute, wie sich zeigen wird) ihre durch Schulbildung gewonnenen Chancen und Vorteile nicht in ihr Erwachsenenleben mit hinĂŒber nehmen konnten.
Halten wir also fest: Gesellschaftliche GeschlechterverhĂ€ltnisse sind immer gefĂ€rbt durch die jeweilige politische Ordnung und durch die Denkgewohnheiten der Gesellschaft, durch ihre Produktionsweise, ihre Religion(en) und Konventionen. Welche Bildungsmöglichkeiten eine Gesellschaft fĂŒr ihre Jugend bereitstellt, und ob und wie sie dabei zwischen Jungen und MĂ€dchen unterscheidet, ist ebenfalls ein Ergebnis dieses Zusammenspiels zwischen verschiedenen Faktoren: der Erwartungen der Erwachsenen an die Jugend, dem fĂŒr die Weiterentwicklung der ProduktivkrĂ€fte notwendigen Wissen und der historisch gewachsenen Auffassung ĂŒber die angemessenen PlĂ€tze von MĂ€nnern und Frauen in Staat und Familie und ihren jeweiligen Beitrag zum Ganzen der Gesellschaft.
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Historische Theorien und ErklÀrungsansÀtze
2.1 BegrĂŒndungen fĂŒr ungleiche Positionen von Frauen und MĂ€nnern in der Geschichte
Auch was die Geschichte der Frauen(bildung) und MĂ€nner(bildung) angeht (und das Denken darĂŒber), dĂŒrfen wir uns nicht von der Vorstellung leiten lassen, es gĂ€be eine kontinuierlich voranschreitende Entwicklung, von finsteren altmodischen Vorstellungen zur Natur des Weibes ĂŒber das Licht der AufklĂ€rung bis zur Emanzipation der Frau in heutiger Zeit.
Nein, die Sache ist viel komplizierter. Es hat nĂ€mlich zu allen Zeiten WidersprĂŒche gegeben, zu gleicher Zeit einander grundsĂ€tzlich widersprechende Auffassungen, kontrovers argumentierende Autoren und Denkerinnen, und die Argumente, die heute die Besonderheiten der Geschlechter erklĂ€ren sollen, unterscheiden sich manchmal nicht grundsĂ€tzlich von denen, die vor zweitausend Jahren diskutiert wurden. Denn eine âWahrheitâ der Geschlechterunterschiede oder der âBedeutungâ von Geschlechterdifferenzen gibt es nicht â es gibt nur mehr oder weniger ĂŒberzeugende InterpretationsansĂ€tze.
Hier könnte auch das Wort âTheorienâ stehen â aber selbst damit muss man zurĂŒckhaltend sein. Denn eine âTheorieâ setzt sich immer zusammen aus empirischer Gewissheit (darĂŒber, wie die Dinge beschaffen sind), die aus systematischer Betrachtung gewonnen wird, und ihrer Systematisierung, ihrer Ordnung, die in plausible ErklĂ€rungen mĂŒndet. Weil aber in diese Ordnung und ErklĂ€rung immer Elemente von Interpretation einflieĂen, weil manche Erkenntnisse stĂ€rker, andere weniger in das ErklĂ€rungsmodell eingehen, und weil sich EinflĂŒsse von Vorwissen oder Interessen auf den ErklĂ€rungsprozess nicht ausschlieĂen lassen, ist die GĂŒltigkeit von Theorien immer begrenzt und der Prozess der wissenschaftlichen Entwicklung ist stets damit befasst, Theorien zu widerlegen (zu falsifizieren) und die Grenzen ihres ErklĂ€rungspotentials zu ĂŒberprĂŒfen.
Die Theorien ĂŒber Geschlecht sind nun aus zwei GrĂŒnden besonders anfĂ€llig fĂŒr Interpretationsfehler: Erstens sind hier besonders viele und widerstreitende Interessen beteiligt, und zweitens ist die empirische Basis des zu erforschenden Gegenstandes (âGeschlechtâ) unklar: Handelt es sich um ein biologisches Thema? Oder ein juristisches, ein soziologisches, ein philosophisches oder ein theologisches? Was âistâ ĂŒberhaupt Geschlecht und warum hat es so weitreichende Wirkungen? Da aber die Wissenschaftler/innen nicht alle diese beteiligten Disziplinen ĂŒberblicken, bleiben schon von hier aus ihre Ergebnisse immer und notwendigerweise begrenzt.
Interpretationen von Geschlechterunterschieden sind folglich ErklĂ€rungsversuche fĂŒr vermeintliche Differenzen, wobei die Wahrnehmung dieser Differenzen (und die Frage, ob sie ĂŒberhaupt als erklĂ€rungsbedĂŒrftig angesehen werden) von der jeweiligen Zeit und ihrem Denken beeinflusst ist.
Es empfiehlt sich also nicht unbedingt, die Geschichte des Denkens ĂŒber Geschlecht und GeschlechterverhĂ€ltnisse und die daraus folgenden Bildungskonzepte nur chronologisch zu betrachten. Um nicht allzu viel Verwirrung zu stiften, wird im Folgenden beides unternommen â es wird ein Blick in bestimmte historische Zeitfenster geworfen und auĂerdem versucht, Argumente und Positionen zu sortieren, um AnsĂ€tze einer Ordnung des Denkens ĂŒber Geschlecht zu gewinnen. Zentrale Autoren der pĂ€dagogischen Theoriegeschichte werden anschlieĂend mit ihren Positionen kurz vorgestellt.
Doch zunĂ€chst einige grundsĂ€tzliche Ăberlegungen zur Ordnung unserer Gedanken.
Ordnungen: âWer nicht fĂŒr mich ist, ist gegen michâ
Um Dinge voneinander zu unterscheiden, zu gruppieren und zu ordnen, benötigen wir MaĂstĂ€be, an denen wir diese Einteilungen vornehmen. Wir verwenden dafĂŒr meistens einander ausschlieĂende, zweiwertige Begriffspaare oder Oppositionen, wie etwa groĂ â klein, tot â lebendig, kalt â heiĂ usw., weil diese den Vorgang der Unterscheidung scheinbar besonders leicht machen. Und je autoritĂ€rer strukturiert, je unsicherer ĂŒber sich selbst jemand ist, desto sicherer, fester wĂŒnscht er sich die Grenzen dieser Orientierung, desto klarer formuliert er die Kategorien und desto strenger wird er die Grenzen dieser Zuordnungen verteidigen. Doch der Nachteil dieses gewohnheitsmĂ€Ăigen Verfahrens ist es, dass wir gezwungen sind, alles in zwei Kategorien zu teilen, also jedes Ding (oder jede Verhaltens- und Erscheinungsweise) so weit zu vereindeutigen, dass es auf die eine oder andere Seite passt. Auch wenn wir diese Zuordnungen durch ein âmehr oder wenigerâ abschwĂ€chen, bleibt die Zuweisung zu einer bestimmten Kategorie dabei doch erhalten â so kann beispielsweise jemand im umfassenden Sinne âschuldigâ oder auch âein bisschen mitschuldigâ sein, ist aber deutlich erkennbar nicht âunschuldigâ; eine Frau kann âsehr weiblichâ oder sogar âunweiblichâ sein, bewegt sich dabei aber noch im Bedeutungsfeld von âweiblichâ, welches von âmĂ€nnlichâ erkennbar unterschieden ist, usw.
Aber diese Art der Ordnungsstiftung ist keineswegs zwingend â das lĂ€sst sich leicht verdeutlichen anhand anderer Ordnungssysteme, die zu ihrer Zeit und in ihrem Kontext ebenso plausibel und ĂŒberzeugend schienen wie unsere Systeme uns heute erscheinen. Besonders beredte Beispiele dafĂŒr, wie viele unterschiedliche Modelle von Ordnung es geben kann, zeigen die Erfinder von Universalsprachen, die alle GegenstĂ€nde, TĂ€tigkeiten und Beschaffenheiten in logische Klassen ordnen mĂŒssen, um die Sprachstruktur zu entwickeln. Letztlich versuchen sie also, eine Klassifikation des Universums vorzunehmen, und scheitern regelmĂ€Ăig daran, da sich die Welt in ihrer widersprĂŒchlichen KomplexitĂ€t eben nicht in einem starren Kategoriensystem abbilden lĂ€sst. Jorge Luis Borges zitiert in diesem Zusammenhang eine alte chinesische EnzyklopĂ€die, den âHimmlischen Wortschatz wohltĂ€tiger Erkenntnisseâ. Auf ihren weit zurĂŒck liegenden BlĂ€ttern steht geschrieben, dass die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezĂ€hmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebĂ€rden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehenâ (Borges 1966/vgl. Foucault 1974). Und ganz einfach gemacht lehrt man ja schon die kleinen Kinder, dass man eine Menge von unterschiedlichen GegenstĂ€nden nach verschiedenen Ordnungskriterien sortieren kann: nach Farben oder Formen, nach essbar oder nicht-essbar, oder eben: ob die Sache âfĂŒr Jungenâ oder âfĂŒr MĂ€dchenâ geeignet sei â und damit ist dann eine Unterscheidung als relevante gesetzt.
Unsere Denkgewohnheiten sind also kulturell, religiös und durch Gewohnheit geformt, wir bemĂŒhen uns, GegenstĂ€nde (und Menschen) jeweils in solche Kontexte einzuordnen, in denen sie nach der Ordnung unseres Denkens einen Sinn ergeben, und dieser âSinnâ, also unsere Art, sie zu sehen, ist nicht die âWahrheitâ der Dinge selbst, sondern unsere Interpretation â der Sinn, den wir ihnen geben.
Der Wissenschaftshistoriker Ludwik Fleck hat fĂŒr diesen Zusammenhang den Begriff âDenkkollektivâ eingefĂŒhrt â wir sollten uns diese âKollektiveâ als Gruppen vorstellen, in denen ei...