1 Einleitung
Die archaische und klassische Zeit Griechenlands stellt mit ihren zahlreichen politischen und geistigen Innovationen ein faszinierendes Kapitel abendländischer Geschichte dar. Einen Höhepunkt bildet im 5. Jh. v. Chr. die athenische Demokratie, deren kulturelle Errungenschaften schon in der Antike als beispielhaft erachtet wurden und in vielen Bereichen bis heute nachwirken. Die erreichte politische Freiheit und Autonomie darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Epoche des Glanzes auch von gesellschaftlichen Konflikten und permanenten kriegerischen Auseinandersetzungen begleitet wurde, die immer wieder zu Leid und Elend führten. Gleichzeitig ergab sich daraus eine vertiefte, wegweisende Beschäftigung mit der menschlichen Existenz und ihrem Schicksal.
Dieses Überblickswerk zeichnet die wichtigsten historischen Etappen vom Zeitalter Homers bis zur Niederlage der Griechen gegen die Makedonen nach (ca. 750–338 v. Chr.). Dabei werden grundlegende Prozesse verfolgt, wie etwa die Entstehung der Polis (»Stadtstaat«) und des politischen Denkens, welche die freie Gestaltung des Gemeinwesens durch die Bürgerschaft überhaupt erst ermöglicht haben. Dort, wo die politische Entwicklung in Athen ihren Höhepunkt erreicht, vermittelt das Buch in einem Zwischenteil auch einige Grundzüge der griechischen Kultur und Religion. Dabei werden Leistungen auf den Gebieten der Geschichtsschreibung, Naturwissenschaft, Philosophie und Medizin erläutert, welche für die späteren Epochen der abendländischen Geschichte prägend geblieben sind.
Im Zentrum des Buches stehen das 6. und 5. Jh. v. Chr. mit den beiden mächtigsten Poleis Athen und Sparta, über die wir aus schriftlichen und materiellen Quellen am prominentesten informiert sind. Weniger Berücksichtigung findet daher die Schilderung des griechischen Lebens in Unteritalien und Sizilien, auf den Inseln der Ägäis sowie auf Kreta und Zypern. Wenn neben den politischen und sozialen Entwicklungen auch kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Charakteristika zur Sprache kommen, kann dabei keine Vollständigkeit geltend gemacht werden. Beabsichtigt ist vielmehr, sowohl wesentliche Errungenschaften als auch problematische Phänomene zur Sprache zu bringen, um die Grundlagen für eine weiterführende, kritische Auseinandersetzung mit diesen Epochen zu schaffen.
Epocheneinteilung
Wenn von einem »archaischen«, »klassischen« und »hellenistischen« Griechenland die Rede ist, so werden damit nicht nur archäologische Stilepochen, sondern auch historische Zeitalter bezeichnet. Nach einer gängigen Sichtweise eröffnet Homer um 700 v. Chr. mit seinen Epen über den Kampf um Troja und die Heimkehr des Odysseus zugleich den Blick auf die archaische Epoche. Diese schließt an die schlechter dokumentierten, sogenannten Dunklen Jahrhunderte bzw. »Dark Ages« an, in denen nach dem Niedergang der Burgen (Mykene, Tiryns, Pylos, Troja) um 1200 v. Chr. vielerorts reduzierte, teilweise aber auch schon neue Formen des gesellschaftlichen Lebens Einzug gehalten hatten. Im 8. Jh. v. Chr. nimmt die griechische Poliswelt ihren Aufschwung und leitet ein Zeitalter weitreichender Entdeckungen ein. Um 700 v. Chr. setzt auch für die Kunstgeschichte bzw. Klassische Archäologie die »Archaik« bzw. der »archaische Stil« ein, der bis um 500 v. Chr. kennzeichnend ist und in der Vasenmalerei auf »schwarzfigurigen« Gefäßen zur Darstellung kommt.
Die künstlerische Entwicklung basierte in der archaischen Zeit insgesamt noch auf einfachen Formgebungen und überschaubaren Motiven, welche aber die voraufgehende »geometrische Kunst« mit ihren abstrakten Vasenmustern (900–700 v. Chr.) weiterentwickelte und neben orientalisierenden Tierfriesen zunehmend Menschen und mythische Szenen zur Darstellung brachte. Diese Entwicklung wird auch bei der archaischen Jünglingsstatue (kouros = Jüngling) sinnfällig, die ab 600 v. Chr. zum ersten Mal als freistehende Monumentalskulptur geschaffen wurde.
Abb. 1: Kourosstatuen (Kleobis und Biton), um 600 v. Chr., Museum Delphi
Der nackte Kouros tritt dem Betrachter jeweils in frontaler Schrittstellung gegenüber und kennzeichnet sich durch schematisierte Proportionsformen und sein sprichwörtliches archaisches Lächeln. Er stellt ein Abbild der »adligen« Führungsschicht dar, welche damals die Gesellschaft dominierte und ihre Ideale als geistig und körperlich gut geschulte Bürger zum Ausdruck brachte.1
Das archaische Zeitalter endete spätestens mit den Perserkriegen, genauer dem Einfall der Perser nach Griechenland in den Jahren 490 und 480/79 v. Chr. Die Abwehr der Perser läutete zugleich den Aufstieg Athens zur stärksten Macht des Mittelmeerraumes ein – den Sieg der neu entstandenen athenischen Demokratie mit ihren Spitzenleistungen auf den Gebieten der Kunst, der Architektur, des Theaters, der Rhetorik und der Philosophie. Als Höhepunkt der Entwicklung wird in der Regel die »Parthenonzeit« (um 450–430 v. Chr.) betrachtet, die auch mit der Zeit des athenischen Staatsmannes Perikles gleichgesetzt wird, auch wenn dieser nur als einer unter vielen Entscheidungsträgern gelten kann.2
Abb. 2: Agora von Athen mit Südstoa und Mittelstoa am Fuße der Akropolis
Aus den Jahren um 450/40 v. Chr. stammt auch der sogenannte Doryphoros (= Speerträger) des Bildhauers Polyklet, der die Stilmerkmale der klassischen Zeit – verbunden mit idealen Maßen und Proportionen – besonders gut zum Ausdruck bringt. Als klassisch gilt grundsätzlich das »Harmonische«, das in sich »Geschlossene«, das in der ausgewogenen Gewichtung der einzelnen Glieder fassbar wird (sogenannte Ponderation). Diese wird durch das am Boden verhaftete Standbein und das mit angehobener Ferse leicht nach vorne gebeugte Spielbein bewirkt (sogenannter Kontrapost).3 In diesem Ausgleich der Kräfte wurde bisweilen ein Abbild des Gleichgewichts innerhalb der athenischen Vollbürger gesehen – einer Errungenschaft der ersten abendländischen Demokratie.
Auch die attischen Tragödien sind in dieser Zeit auf der Suche nach Balance, nämlich einem Ausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft, eigener und kollektiver Entscheidung, Rationalität und Irrationalität. Die »Antigone« des Sophokles (442 v. Chr.) steht vor der folgenreichen Entscheidung zwischen göttlichem und weltlichem Recht, da sie ihren »verräterischen« Bruder trotz des Verbotes des Königs begraben will. Sie gerät dabei mit der politischen Macht in Konflikt, die sich jedoch ebenfalls
Abb. 3: Doryphoros des Polyklet, römische Kopie nach einem Bronzeoriginal um 450/40 v. Chr., Archäologisches Nationalmuseum Neapel
als tragisch erweist. Die entsprechende Kunstform der Tragödie wurde zusammen mit der Komödie, die der freien Bürgerschaft den Spiegel vorhält, für die nachfolgenden Epochen wegweisend.
Dieses als »klassisch« bezeichnete Zeitalter wurde durch den sogenannten Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) zwischen Athen und Sparta mit ihren jeweiligen Bundesgenossen erschüttert und erlebte im 4. Jh. v. Chr. weitere Auseinandersetzungen um die Hegemonie in Griechenland, aber auch eine Bestätigung der athenischen Demokratie. Die Welt der freien Poleis ging spätestens mit dem Einmarsch des Makedonenkönigs Philipp II. ins südliche Griechenland im Jahre 338 v. Chr. zu Ende, dem der Eroberungszug seines Sohnes Alexander d. Gr. durch den Vorderen Orient bis an den Indus folgte. Der Einfall der Makedonen bereitete den zuvor unabhängigen Städten der griechischen Poliswelt einen herben Rückschlag, auch wenn die angestammten politischen Institutionen danach weiterexistierten. In Alexanders Nachfolge bestimmten forthin hellenistische Könige mit ihren Großreichen die Geschicke der griechischen Städte und eröffneten damit das Zeitalter des Hellenismus, in dem es zu einer neuen Ausbreitung der griechischen Kultur in der Alten Welt kam.
Die Umbrüche in der traditionellen Poliswelt machten sich in der Kunst wiederum durch eine neue Formgebung bemerkbar. Gemäß Werner Fuchs wird die klassische »Daseinsform« im Hellenismus durch die »Wirkungsform« ersetzt, bei der es um »das Erscheinungsbild, die Darstellung von Pathos und Leidenschaft, von Kraft und Anmut« geht.4 Dabei werden in Gruppenkompositionen gerne Schicksalsschläge dargestellt, wie etwa beim »Laokoon« in den Vatikanischen Museen zum Ausdruck kommt. Dieser wird zusammen mit seinen beiden Söhnen von zwei Schlangen umwunden und muss für seine Warnung vor dem Trojanischen Pferd die göttliche Strafe hinnehmen, da das Schicksal der Stadt von den höheren Mächten besiegelt war und auch von einem Priester nicht aufgehalten werden konnte.
Abb. 4: Laokoon mit seinen Söhnen im Todeskampf gegen die Schlangen, Kopie (?) eines hellenistischen Originals, Vatikanische Museen Rom
Wenn wir heute von einem Zeitalter des Hellenismus sprechen, ist das auf Johann Gustav Droysen (»Geschichte des Hellenismus«, 3 Bde., 2. Aufl. 1877/78) zurückzuführen, der darin eine große Synthese von Abend- und Morgenland formulierte, eine Verschmelzung von Ost und West, welche die Grundlage für die Offenbarung des Evangeliums und die Ausbreitung des Christentums gelegt habe.5 Auf dieser Vorlage konnten im späteren 19. Jh. auch die Vorstellungen von einem »archaischen« und »klassischen« Zeitalter Form annehmen, wie im Folgenden zu zeigen ist.
Begriffs- und Forschungsgeschichte
Der Begriff »archaisch« ist abgeleitet vom griechischen Wort archaios und bedeutet soviel wie »ursprünglich, alt«. In der Antike bezeichnete das Wort einen minderwertigen »Grad der technischen Kunstfertigkeit«, also stilistisch einfache, einer früheren Zeit entstammende Werke.6 Gegen Ende des 5. Jh. v. Chr. musste die athenische Demokratie ihre ersten großen Erschütterungen in Kauf nehmen, also rund 100 Jahre nachdem Kleisthenes durch seine Reformen den Weg zu diesem System geebnet hatte. Die athenischen Niederlagen im Peloponnesischen Krieg führten vorübergehend zu zwei oligarchischen Umstürzen (411/10 und 404/3 v. Chr.). Damit wurden die früheren Jahrzehnte des 5. Jhs. v. Chr., die auf den athenischen Sieg über die Perser bei Marathon von 490 v. Chr. folgten, als Epoche des Glanzes stilisiert. Ihr gegenüber verblasste die »vormarathonische« Zeit als primitivere, unvollkommene Phase, die hinter der anschließend einsetzenden »Vervollkommnung« zurücktrat;7 damit entstand eine Zäsur, die auch in späterer (»hellenistischer«) Zeit weitertradiert wurde.
Bereits im Hellenismus galten die kulturellen Errungenschaften der voraufgehenden Epoche des 5. und 4. Jh. v. Chr. als vorbildlich. Die Stücke der großen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides wurden schon am Ende des 5. Jh. v. Chr. als unerreichbar angesehen (Aristoph. Ran. 71 f. 96 f.) und im Jahre 386 v. Chr. zur Wiederaufführung zugelassen; ab dem Jahre 338 v. Chr. wurden sie in offiziellen Abschriften im Staatsarchiv von Athen aufbewahrt und gelangten später auch ins Mouseion von Alexandria.8 Implizit hatte also schon die Antike eine Epochengrenze gezogen, durch die ein Zeitalter der Blüte festgelegt war.
Der Begriff »klassisch« wurde allerdings erst von den Römern vorbereitet. Er leitet sich vom lateinischen classicus her, was so viel wie Bürger der ersten Vermögensklasse bedeutet und somit eine Spitzenposition in der Bürgerschaft markiert. Der Terminus wurde bereits bei Cicero (ac. 2,73), dann auch bei Cornelius Fronto (Gell. 19,8,15) auf herausragende Autoren und Verfasser von beispielhafter Literatur angewandt. Im Bemühen um poetische und rhetorische Qualität war die attische Literatur der Blütezeit seit der Mitte des 1. Jh. v. Chr. zum Vorbild der Römer geworden, was zugleich die Vorstellung von einer mustergültigen Epoche förderte.9
Die Renaissance ging davon aus, dass die eigene Zeit durch das Mittelalter (medium aevum) von der griechisch-römischen Welt abgetrennt war und versuchte, auf neue Weise an die Antike anzuknüpfen. Die »Goldene Latinität« (Vergil, Horaz, Ovid) wurde zum Vorbild erhoben und durch weitere kulturelle Höhepunkte des antiken Griechenland und Rom ergänzt. Dadurch bahnte sich die Vorstellung vom klassischen griechisch-römischen Altertum an, ohne d...