1 Einleitung
Die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen epileptischen Anfallserkrankungen und psychischen Besonderheiten ist fast so alt wie die Medizingeschichte. Schon in der Schule von Hippokrates von Kos wurde diese Thematik intensiv diskutiert. Klinisch war Hippokrates der Meinung, dass epileptische Anfallserkrankungen mit depressiv-melancholischen Zuständen vergesellschaftet sind. Beide Auffälligkeiten wurden auf ein Ungleichgewicht der vier Körpersäfte (schwarze Galle, gelbe Galle, Blut und Schleim) zurückgeführt, wobei die melancholisch-depressive Seinsweise und die Anfälligkeit für epileptische Anfallserkrankungen mit einer unguten Dominanz der schwarzen Galle erklärt wurde.
Auch wenn die sogenannte 4-Säfte-Lehre oder Humuralpathologie im ursächlichen Denken der Moderne und Post-Moderne keine Rolle mehr spielt, so ist aus heutiger Perspektive doch interessant, dass es sich bei diesem Verständnis von psychischen Funktionen um ein ausgesprochen organisches Erklärungsmodell handelte. Die Humuralpathologie hat über Jahrhunderte bis ins Mittelalter und die frühe Neuzeit hinein das medizinische Denken der Menschen geprägt. Eine wesentliche Modifikation erfuhr dieses Modell durch die dualistische Theorie Descartes. Dieser unterschied aus ontologischer Sicht eine physikalisch-dingliche Welt (res extensa) von einer nicht-materiellen und weniger physikalisch gedachten, geistigen Welt (res cogitans).
Der phänomenologische Bereich des Psychischen wurde in diesem Denken der nicht-materiellen Welt, der res cogitans, zugeschrieben. Descartes glaubte, dass über die Zirbeldrüse die geistige Sphäre Einfluss auf die materielle Welt des physikalischen Körpers nehmen würde.
Das cartesianische, dualistische Denken war in der Folgezeit vor allem im Alltagsdenken der Menschen sehr einflussreich. Noch heute reden und denken viele Menschen so, als sei die psychische Sphäre eine von den physiologischen Funktionen des Körpers weitgehend unabhängige Dimension. Dazu mag auch die Psychoanalyse beigetragen haben. Diese behauptet zwar im Kern vor allem die erlebnisreaktive Genese von psychischen Symptomen und macht damit logisch analysiert nicht unbedingt Aussagen darüber, ob diese körperlich verfasst sind oder nicht (da Erlebnisreaktivität ja auch als körperlicher Prozess verstanden werden kann). Dennoch ging praktisch gesehen die Annahme erlebnisreaktiver Ursachen implizit oft mit dem Verständnis einher, dass die Dimension des Körperlichen für das Psychische zumindest keine wesentliche Rolle spielt.
Dieses dualistische Denkmodell zur Organisation des Psychischen ist – nebenbei bemerkt – auch die Grundlage für die Trennung der Fächer Neurologie und Psychiatrie und Psychotherapie im späten 20. Jahrhundert. Als neurologische Erkrankungen wurden diejenigen angesehen, bei denen das Organ Gehirn eine wesentliche Rolle bei der Verursachung von Symptomen spielt. Zu solchen Symptomen wurden klassischerweise Sensibilitätsstörungen, Lähmungen, Koordinationsstörungen, Sprachstörungen (Aphasien), Störungen der Organisation motorischer Abläufe (ideomotorische Apraxien) und sogar so abstrakte Phänomene, wie Störungen der ideellen Konzeption von motorischen Abläufen (ideatorische Apraxien), gezählt.
Dagegen wurden Störungen der Organisation des abstrakten Denkens (formale Denkstörungen), der Emotions- und Affektregulation, des bewussten Selbsterlebens (Ich-Störungen), der Wahrnehmung (Halluzinationen) des psychomotorischen Antriebs und des inhaltlichen Denkens (Wahn) nicht dieser neurologisch hirnorganischen Dimension zugeschrieben. Vielmehr wurden solche Symptome im Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie konzeptualisiert. Basierend auf fehlenden relevanten positiven Befunden in der körperlich hirnorganischen Abklärung wurden sie durch erlebnisreaktive Erklärungsmodelle gedeutet. Praktisch basierte diese Einteilung auf einem mehr oder weniger expliziten dualistischen Denken wie oben skizziert.
Dieses dualistische Denken fand auch seinen Niederschlag in der Epileptologie. Hier gehört die Frage, ob psychische Auffälligkeiten etwa auf einen epileptischen Anfall zurückzuführen sind oder nicht zum diagnostischen Kerngeschäft. Nach wie vor gilt als diesbezüglicher Goldstandard die videotelemetische Abklärung. Dabei wird bei einem Patienten ein EEG dauerhaft über mehrere Tage oder Wochen abgeleitet und gleichzeitig in einer stationären Umgebung das Verhalten gefilmt. Kommt es zu episodischen Verhaltensauffälligkeiten, zeigt das EEG entweder eine typische Anfallsaktivität oder nicht. Im ersten Fall wird von einer Epilepsie gesprochen, im anderen Fall von nicht-epileptischen Anfällen.
Die Frage, wie die Pathophysiologie solcher nicht-epileptischer behavioraler Anfallserkrankungen aus neurobiologischer Perspektive zu verstehen ist, stellt dabei einen zentralen inhaltlichen Schwerpunkt dieses Buches dar. Im klinischen Alltag werden nicht-epileptische Anfallserkrankungen meist als psychogene Anfälle angesprochen. Dabei steht dann oft ein psychogen-erlebnisreagitives Problemverständnis im Vordergrund. Die Vorstellung, dass sich hinter solchen Verhaltensparoxysmen ein nicht-iktualer, aber ähnlich organischer Pathomechanismus im Sinne einer neuronalen Netzwerkinstabilität verbergen könnte wie bei Epilepsien, wird dagegen von den meisten Experten abgelehnt.
Genau diese Vorstellung soll in diesem Buch aber anhand von Einzelfällen entwickelt werden. Eine der Grundpositionen dieses Buches ist, dass es neben den klassisch-iktualen epileptischen Pathomechanismen noch andere epilepsieassoziierte organische, aber dennoch nicht-iktuale Pathomechanismen gibt. Diese könnten in vielen Einzelfällen von wesentlicher Bedeutung für die Genese von psychischen Syndromen sein.
Die Frage nach der Häufigkeit solcher Pathomechanismen, kann mangels empirischer Daten aktuell noch nicht beantwortet werden. Aber angesichts der Schwere und der weitreichenden psychosozialen Bedeutung der klinisch-psychiatrischen Syndrome, die so verursacht sein können, wäre auch eine sehr geringe klinische Häufigkeit (Prävalenz) diagnostisch von hoher klinischer Relevanz. Denn selbst wenn nur 1 von 100 Patienten mit einer klinischen Schizophrenie, einer schweren Depression oder Borderline-Persönlichkeitsstörung kausal an einem paraepileptischen Pathomechanismus leiden würde, so wäre es angesichts der therapeutischen Folgen von großer Bedeutung, solche Patienten zu identifizieren und möglichst kausal zu behandeln.
Thema dieses Buches sind also organische psychische Störungen im Umkreis der Epilepsien oder anderer verwandter Gehirnerkrankungen, die mit neuronaler Netzwerkinstabilität einhergehen.
Das einleitende erste Kapitel geht daher der Frage nach, welche Evidenz überhaupt dafür spricht, dass Epilepsien oder EEG-Auffälligkeiten eine relevante Rolle für die Psychiatrie und Psychotherapie spielen sollten. Es wird sich zeigen, dass die Evidenz dafür tatsächlich sehr stark ist.
Um das Thema systematisch zu entwickeln, werden im nächsten Kapitel die wichtigsten Anfallserkrankungen vorgestellt. Detaillierte Schilderungen jeder Krankheit würden natürlich den Rahmen dieses Buches sprengen. Dennoch sollen die wichtigsten Informationen zu den verschiedenen Krankheitsbildern kurz, knapp und anschaulich vorgetragen werden.
Im dritten Kapitel geht es um die klassischen psychischen Störungen bei etablierten Epilepsien. Dieses Thema gehörte zu den neuropsychiatrischen Klassikern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In der Nachkriegszeit geriet es zunehmend in Vergessenheit, bevor es dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts von einflussreichen Autoren wie Michael. R. Trimble, Norman Geschwind, Dieter Janz, Peter Wolf und Dietrich Blumer – um nur einige zu nennen – wieder popularisiert wurde.
Im folgenden Kapitel werden epileptische Phänomene und epilepsieartige Präsentationen in der Primärpsychiatrie systematisch vorgestellt. Dieses Thema stellt nach wie vor ein wichtiges Nischenthema im großen klinischen Fach der Psychiatrie und Psychotherapie dar. Die Bedeutung der EEG-Forschung hat im Zuge der aufkommenden bildgebenden Methoden leider in den letzten Dekaden deutlich nachgelassen. Nach Auffassung der Autoren hat sie dagegen durchaus das Potenzial, die klinische Diagnostik und Therapie der Psychiatrie und Psychotherapie in den nächsten Dekaden wesentlich zu beeinflussen. Dies soll unter anderem anhand eindrücklicher Kasuistiken illustriert werden.
Anschließend wird die theoretisch, aber auch praktisch wichtige Frage der Krankheitsmodelle thematisiert. Wie denken wir über psychische Probleme im Kontext epileptiformer Störungen? Wie erklären wir uns die manchmal schwer zu verstehenden psychopathologischen Phänomene und ihre Zusammenhänge zu EEG-Auffälligkeiten oder anderen neurobiologischen Befunden? Was unterscheidet epileptische von nicht-epileptischen Phänomenen? Und gibt es neben den klassischen Epilepsien noch andere »organische« Pathomechanismen (paraepileptische Pathomechanismen), die uns die hohe Häufigkeit und Bedeutung von EEG-Pathologien bei nicht-epileptischen Anfallserkrankungen, aber auch schizophreniformen, depressiven oder emotional-instabilen Syndromen erklären können?
Die abschließenden Kapitel widmen sich dann den antikonvulsiven Medikamenten und der Therapie psychischer Störungen im Kontext etablierter und diagnostizierter Epilepsien sowie der Therapie psychiatrischer Störungsbilder wie etwa schizophreniformer, depressiver oder Borderline-Störungen im Kontext auffälliger EEG-Befunde.
Das Buch richtet sich in erster Linie an Neurologen, Epileptologen, Neuropsychiater, Psychiater und Psychotherapeuten aus den klassischen klinisch neurowissenschaftlichen Bereichen, aber auch an interessierte Laien, Betroffene und Angehörige. Es soll anregen, epileptische und andere Mechanismen neuronaler Netzwerkinstabilität, nicht nur bei klassischen epileptischen klinischen Syndromen, sondern auch bei psychiatrischen klinischen Bildern zu erwägen.
Das Buch informiert über den Stand des Wissens und der Fachdiskussion in diesem spannenden Grenzgebiet zwischen Neurologie, Epileptologie und Psychiatrie. Darüber hinaus zeigt es konzeptuelle Wege auf, wie im diagnostischen und therapeutischen Arbeiten klassische dualistische Denkmodelle zwischen den Polen organisch-neurologischer und psychoreaktiv-psychiatrisch/psychotherapeutischer Konzepte aufgebrochen und damit die Grenzen zwischen den genannten klinisch neurowissenschaftlichen Fächern geöffnet werden können.
2 EEG-Pathologien bei Patienten mit Epilepsie, psychischen Störungen und Gesunden
Um die Frage zu verdeutlichen, wie wichtig EEG-Pathologien im Einzelfall im Rahmen der Diagnose und Therapie psychiatrischer Krankheitsbilder sein können, wird zunächst eine Kasuistik vorgestellt. Im Anschluss wird der Frage nach Häufigkeit und Bedeutung von EEG-Pathologien in der Psychiatrie und bei psychiatrisch und neurologisch gesunden Menschen systematisch nachgegangen.
Kasuistik:
Fall 1. Ein junger Mann mit schizophreniformer Störung und Spike-Wave-Komplexen im EEG (Tebartz van Elst et al. 2011):
Der bei der Vorstellung 17-jährige junge Mann und seine sehr besorgten Eltern berichteten, dass er sich in der Schule nicht mehr wohl fühle. Er habe das Gefühl, alle seien gegen ihn, würden in auslachen und über ihn sprechen. Bei offenem Fenster wolle er nicht reden, weil er sich dann nicht sicher fühle und die Gespräche mitgehört würden. Er könne quer über den Schulhof hören, wie andere über ihn sprächen und ihn verspotteten. Die Symptomatik habe sich im Anschluss an eine Theateraufführung entwickelt, bei der er die Rolle eines »schrägen Vogels« sehr überzeugend gespielt habe. Sie war begleitet von einem zunehmenden sozialen Rückzug und einem deutlichen Leistungsknick des bis dato exzellenten und sehr ehrgeizigen Schülers. In kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungskontexten war die Verdachtsdiagnose einer schizophreniformen Störung gestellt worden. Weil es vor einigen Jahren im Rahmen eines Autounfalls zu einer subduralen und rechts frontalen Kontusionsblutung gekommen war, hatte der niedergelassene Facharzt ihn nun zur weiteren neuropsychiatrischen Diagnostik vorgestellt.
Die Kontusionsblutung sei nach dem Unfall ohne neurologische oder psychiatrische Folgen und mit unauffälligem Kontroll-MRT des Gehirns ausgeheilt.
Eine zwischenzeitlich begonnene antipsychotische Therapie mit 250 mg Quetiapine habe den Jugendlichen zwar etwas beruhigt, aber an den Denk- und Wahrnehmungsstörungen nichts Grundsätzliches geändert.
Im Rahmen einer klinischen Routine-EEG-Untersuchung zeigten sich seltene 3-Hz-Spike-Wave-Komplexe (► Abb. 1). Eine daraufhin veranlasste videotelemetrische Untersuchung konnte diese mit einer durchschnittlichen Frequenz von 8/Stunde und einer Dauer von 200–3500 msec bestätigen, ohne dass sich klinisch oder behavioral irgendwelche Anfallsäquivalente gezeigt hätten (► Abb. 1). Offensichtlich litt der Patient also nicht an einer Epilepsie.
Unter der Annahme, dass diese EEG-Pathologie eine Rolle in der Genese des paranoid-halluzinatorischen Syndroms spielen könnte, wurde die Medikation auf Valproat umgestellt. Daraufhin kam es zu einer deutlichen Besserung der Frequenz und Dauer der Spike-Wave-Komplexe und klinisch zu einer Vollremission der psychischen Symp...