Betagte Eltern - behinderte Kinder
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Betagte Eltern - behinderte Kinder

Die Zukunft rechtzeitig gestalten

  1. 112 Seiten
  2. German
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Betagte Eltern - behinderte Kinder

Die Zukunft rechtzeitig gestalten

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Über dieses Buch

Eltern behinderter Kinder sind mit vielen, sich im Laufe des Lebens verändernden Herausforderungen konfrontiert, für die sie Lösungen finden müssen. Das gilt besonders, wenn die Eltern betagt und die Kinder mit Behinderung erwachsen geworden sind. Das Buch wirft einen Blick auf die schwierige Balance zwischen der lebenslangen Fürsorglichkeit der Eltern und dem Streben des erwachsenen Kindes nach Selbstbestimmung. Dem Wunsch der Eltern, ihr Kind auch im Alter gut versorgt zu wissen, nämlich dann, wenn sie nicht mehr sind, stehen knappe Wohnheimplätze, Personalmangel und Sparzwänge entgegen. Was können Angehörige behinderter Menschen, aber auch Fachkräfte tun, um die Situation zu entschärfen? Eingegangen wird in diesem Buch u.a. auf die immer wieder auftauchenden Schuldgefühle der Eltern, auf die schwierigen Beziehungskonstellationen innerhalb der Familie, aber auch auf die Probleme in der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachkräften. Es zeichnet ein realistisches Bild der Herausforderungen und Lösungsansätze für Eltern, Fachpersonal und Sozialpolitiker.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783170293960

1

Wir würden so gern loslassen

»Ich bemühe mich, gar nicht darüber nachzudenken. Nur nachts geht’s mir im Kopf herum: Wer kümmert sich um meine Tochter, wenn ich ein Pflegefall oder tot bin? Dann kann ich einfach nicht mehr einschlafen. Das macht mich ganz kaputt.« (Petra H., 75)
»Wir planen, recht bald ins Altersheim zu ziehen. Da nehmen wir ihn mit. Wenn wir sterben, kann er da weiter wohnen bleiben – obwohl er mit jetzt 45 dafür eigentlich viel zu jung ist.« (Jutta und Ulrich K., 72 und 75 Jahre alt)
»Wir beide gehen auf die 80 Jahre zu, unsere Tochter ist 55. Seit Jahren haben wir unser klappriges Wohnmobil nur noch für kleine Reisen übers Wochenende genutzt. Das richten wir jetzt wieder her und gehen damit zu dritt auf unsere letzte große Reise. Die Normandie mit dem Mont Saint Michel ist unser Traumziel. Wir wissen, wir begeben uns mit so einer langen Fahrt in Gottes Hand. Vielleicht kehren wir nicht zurück. Das ist dann die Lösung, die wir so nicht finden können.« (Caroline und Gisbert R.)
»Ich habe es noch nie ausgesprochen, aber jetzt sage ich es einmal: Tief im Inneren wünsche ich mir, dass er vor mir stirbt.« (Elisabeth A., 79)
Aussagen wie diese hört man nur in sehr vertraulichen Gesprächen mit Eltern, deren behinderte Töchter und Söhne nun auch allmählich ins Seniorenalter kommen. Denn wir geben es nur ungern zu: Viele von uns älter gewordenen Müttern und Vätern sind mürbe geworden. In einer Zeit, in der uns das eigene Alter zu schaffen macht, werden die Sorgen um die Versorgung unserer Kinder im Alter immer größer. (Ja, wir reden von »Kindern«, auch wenn sie auf die 50 zugehen, denn sie bleiben unsere Kinder unser Leben lang.)
Wir erleben hautnah, wie unsere Töchter und Söhne in den Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe oft nur unzulänglich betreut werden. Vor allem mangelt es an Personal. Wer geht mit dem behinderten Mann zum Arzt, wenn er krank ist? Kein Betreuer, denn der fehlt dann im Tagdienst der Einrichtung. Die Eltern werden angerufen und übernehmen den Gang. Wer unternimmt etwas mit ihnen am Wochenende? Kein Betreuer, denn er ist allein in der Gruppe und nicht alle BewohnerInnen zeigen Interesse an einem Ausflug, also müssen alle in der Einrichtung bleiben. »Sie wollen eben ihre Ruhe haben«, sagt der Betreuer, statt sich ein für alle attraktives Angebot auszudenken. So sitzen zum Schluss alle vor dem Fernseher oder hocken in ihren Zimmern – wenn´s schlecht läuft von Freitag Nachmittag bis Sonntag Abend. »Am Wochenende holen wir ihn nach Hause«, sagen Eltern, »im Wohnheim ist ihm langweilig«.
Bei den SozialpädagogInnen, HeilerziehungspflegerInnen, PsychotherapeutInnen, hier kurz »Profis« genannt, haben wir Eltern einen schlechten Ruf. Wir sind die alten, betulichen, überbehütenden Eltern, die ihre behinderten Kinder einfach nicht loslassen können. Das mag in vielen Fällen zutreffen. Aber oft hatten die Eltern gute Gründe, ihr Kind nicht in ein Wohnheim oder eine Wohngruppe ziehen zu lassen. Sie fanden keine ihrer Meinung nach passende Einrichtung. Denn eins ist allen klar und wird von den Profis auch bestätigt: So individuell, liebevoll und rund um die Uhr wie zuhause kann ein Mensch auch in der allerbesten Einrichtung nicht versorgt werden1.
Mit dieser Erkenntnis taten sich viele schwer, die optimale »zweite Heimat« für ihr Kind zu finden. Andere Familien brauchten das Pflegegeld, um haushaltstechnisch über die Runden zu kommen. Und dann wurde ein unerwartetes Phänomen deutlich: Im Laufe der Zeit kehrte sich in vielen Fällen die Unterstützungsfunktion um: Die behinderten Menschen halfen ihren Eltern beim Einkaufen, beim Tragen, beim Staubsaugen. Eine Symbiose zur Zufriedenheit aller, so schien es eine Weile. Da ging alles gut. Doch mit zunehmendem Alter und Hinfälligkeit der Eltern war klar:
»Wenn wir mal nicht mehr sind, verliert unser Kind Mutter und Vater, dann sein Elternhaus, also seine Heimat, eventuell seine Arbeit in der WfbM2, weil es nur in einer weiter entfernten Wohneinrichtung einen Platz für ihn gibt und er dann auch die Werkstatt wechseln muss.«
Knapp die Hälfte aller Menschen, die in einer WfbM (Werkstatt für behinderte Menschen) arbeiten, lebt noch zu Hause. Die Zahlen schwanken. Bei der Lebenshilfe Ingolstadt sind es 80 Prozent, die noch bei den Eltern leben, bei der Lebenshilfe München 60 Prozent. Auch unter ihnen gibt es jetzt viele Alte. Fühlen sich ihre Eltern am Ende ihrer Kräfte und suchen händeringend nach einen Wohnheimplatz, hören sie: »Sie hätten sich früher melden müssen.« Stimmt, doch »früher« ging es aus Sicht der Eltern eben nicht. Was soll nun werden?
Es verzweifeln aber auch Eltern, die früh genug für ihr Kind einen Umzug organisiert haben. Sie glaubten, ihr Kind sei lebenslang gut untergebracht. Doch nun zeigt sich, behinderte Menschen, die 30 und mehr Jahre in ihrer Wohngruppe gelebt haben, müssen ausziehen, sobald sie pflegebedürftig werden, weil der Personalschlüssel im Wohnheim für eine angemessene Pflege nicht ausreicht.
Wohin sollen sie umziehen? Pflegeeinrichtungen speziell für Senioren sind erst im Entstehen. Das ist ein Skandal! Zwar wurden schon vor rund 20 Jahren in den oberen Etagen der Behindertenverbände Klausurtagungen gehalten zum Thema »Seniorenwohnen«, aber deren Ergebnisse nicht in die Tat umgesetzt. Man dachte, man habe ja noch Zeit. Lange gab es infolge der abscheulichen Nazi-Verbrechen keine über 60-jährigen behinderten Menschen. Jetzt sind sie – auf einmal? – da; und niemand scheint so recht zu wissen, wohin mit ihnen.
Auch Eltern, deren Kinder schon lange in Einrichtungen leben, bekommen nun also zu hören, sie sollten sich doch keine Sorgen machen, sie müssten ihr Kind halt »loslassen«, dann würde sich alles finden. Wie gern würden wir unsere Tochter, unseren Sohn loslassen! Aber das können wir nur, wenn wir sie – möglichst über unseren eigenen Tod hinaus – gut versorgt wissen. Aber ganz gleich, ob unser Kind noch zu Hause lebt oder in einer Wohneinrichtung – alles, was wir täglich hören und erleben, reimt sich auf Sparzwang, Personalmangel und Pflegenotstand. Und da zeigt sich nirgendwo ein Silberstreifen am Horizont. Gespart werden muss jetzt erst recht und drastisch, da so viele Flüchtlinge nicht nur auf unsere Solidarität, sondern auch auf Hilfe durch den Sozialstaat angewiesen sind.

Erwachsene mit geistiger Behinderung haben keine Lobby

Selbst wenn wir wollten, könnten wir uns dagegen nicht wehren. Erwachsene mit geistiger Behinderung haben keine Lobby, alte Erwachsene mit geistiger Behinderung schon gleich gar nicht. Für behinderte Kinder wird zu Spenden aufgerufen und es wird gespendet. Für alte behinderte Menschen leider nicht.
Der Geschäftsführer einer großen Behinderteneinrichtung verschickte zu Weihnachten Briefe an Mitglieder, Freunde und Firmen mit der Bitte um Spenden. Er bat nicht – wie sonst – um Spenden generell, sondern listete auf, wofür das Geld dringend gebraucht wurde: für die Frühförderung, für Kindergarten und Schule, für die Renovierung und Sanierung der Wohnheime, in denen behinderte Erwachsene leben, für die längst überfällige Einrichtung dringend benötigter Tagesstätten für behinderte Senioren. Jeder Spender sollte gezielt wählen können, zu welchem Projekt er sein Scherflein beisteuerte. Das sollte die Spender motivieren und die Spendenbereitschaft erhöhen. Das war die Idee.
Sie funktionierte, doch anders als erwartet. Es kam immerhin eine mittelgroße Summe zusammen, allerdings fast ausschließlich für die Projekte zur Förderung der Kinder. Kaum etwas für die Wohnheim-Restaurierungen und überhaupt nichts für die Senioren. Dabei brauchen gerade Senioren jetzt Hilfe. Es gibt immer mehr von ihnen. 60- und auch 70-Jährige sind keine Seltenheit in den Wohnheimen. Eltern, die sich zumindest an den Wochenenden mal um sie kümmern und nach dem Rechten schauen, haben sie nicht mehr.
Mit zunehmendem Alter verringern sich ihre familiären Bindungen, weil die Eltern hinfällig werden und weitere Angehörige, wie z. B. Geschwister, ebenfalls altern, nicht mehr so beweglich sind und sich deshalb weniger oder gar nicht mehr kümmern können. Dazu kommt, Menschen mit lebenslanger Behinderung haben meistens keine eigenen Kinder und auch keine Enkel, wodurch ein hochwichtiges persönliches soziales Netzwerk entfällt, auf das viele »normale« Menschen zurückgreifen können. Es droht ihnen eine akute Gefahr der sozialen Isolation im Alter.
Besonders Eltern von Kindern mit Down-Syndrom machen sich stark für ihre Kinder. Wie liebenswert sie sind, wie kreativ, wie bildungsfähig. Und sie haben Recht! Sie kämpfen, wenn es nicht anders geht, um den Platz in einer normalen Schule, um einen Ausbildungsplatz außerhalb der WfbM. Meine dringende Bitte, an alle, nicht nur an die Eltern von Down-Kindern: Denkt weiter! Fordert und fördert bereits jetzt entsprechend ausgerüstete Heime für eure Kinder, wenn sie mit 50 allmählich auf die Demenz zugehen! Sie sitzen sonst, wenn ihre Eltern sie nicht mehr jedes Wochenende abholen können, antriebsarm und apathisch in ihrer Wohngruppe, in der es aus Personalmangel kein attraktives Freizeitangebot gibt.

Behinderte Senioren gehören (noch) nicht in »normale« Altenheime

Alten- und Pflegeheime für Nichtbehinderte gibt es flächendeckend, aber sie nehmen Menschen mit geistiger Behinderung gar nicht oder nur widerstrebend auf. Beobachtungen zeigen: Inklusion klappt – wie in vielen Bereichen – auch in der Altenpflege nicht. Die Nichtbehinderten bleiben auch bei ausgewiesenen Gemeinschaftsunternehmungen wie Basteln, Malen oder Erzählen unter sich; die Menschen mit Behinderung tun das auch, also: ein Tagesraum, zwei Parteien, rechts sitzen die »Normalen«, links die Behinderten. Oder umgekehrt.
Dazu kommt, manche Alten- und Pflegeheime fürchten um das Prestige ihrer Senioren-Residenz, wenn bekannt wird, dass dort auch Behinderte, geistig behinderte noch dazu, Aufnahme finden. Wirklich beklagenswert ist das nicht, denn die Altenpflege unterscheidet sich sehr deutlich von der Behindertenhilfe, was Ausbildung und Anspruch betrifft. Es wäre falsch, davon auszugehen, dass Alte eben Alte sind, ihre kognitiven Fähigkeiten ohnehin schwinden und man sie deshalb eh alle zusammen tun könnte…

Wer trägt die Fackel weiter?

Für die Ruheständler, die nun nicht mehr in den Werkstätten arbeiten, müssen überall Einrichtungen geschaffen werden mit Angeboten für den Alltag, sogenannte tagesstrukturierende Maßnahmen, damit die Alten nicht im Wohnheim (mit chronisch dünner Personaldecke) ihren Tag verschlafen oder einfach nur herumsitzen. Es müssen Möglichkeiten gefunden werden, pflegebedürfte Menschen so zu betreuen, dass ihre eingeschränkten Fähigkeiten nicht verkümmern, sondern möglichst lange erhalten bleiben.
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe wurde 1958 in Marburg von engagierten Eltern gegründet. 1961 gab es die ersten »Sonderklassen für praktisch Bildbare«. Das war damals die Bezeichnung für Kinder mit einer geistigen Behinderung, die bis dahin von der allgemeinen Schulpflicht »befreit« waren. Die Elterngeneration der heute über 80-Jährigen hat wahre Pionierarbeit geleistet für die behinderten Kinder damals – wie zum Teil auch heute noch. Die jungen Eltern, die um die 30-Jährigen, nehmen die Leistungen, die ihnen und ihren Kindern heute zur Verfügung stehen, gern an: Frühförderung, integrative Kindergärten, Ergotherapie, Logopädie. Sie nehmen sie wahr als Dienstleistung, die ihnen selbstverständlich zusteht. Oft sind sie noch nicht einmal Mitglied in dem Trägerverein, dessen Hilfsangebote sie nutzen.
Dieses Buch soll keine Anklageschrift sein. Es soll Gefahren aufzeigen, aufmerksam machen und – vielleicht – zu einem Richtungswechsel anregen. Denn versprochen wird uns und unseren Kindern von allen Seiten seit Langem viel, auch in Gesetzesform. Allerdings, die Schere zwischen dem, was versprochen und angekündigt ist, und dem, was wirklich passiert, geht immer weiter auseinander. Dazu gehören: Inklusion, Gleichberechtigung, Teilhabe, Selbstbestimmung. Inklusion kommt für unsere Töchter und Söhne zu spät, und Selbstbestimmung haben sie auch nie wirklich erfahren können, aber Teilhabe am öffentlichen Leben – die wünschen sie sich. Und wir wünschen sie ihnen. Und ein gutes Alter. Dann müssten wir uns auch nicht mehr so sorgen, und Gedanken wie die eingangs genannten könnten uns nicht mehr belasten.
Sie finden im ersten Teil dieses kleinen Buches eine – zugegeben: sehr subjektive – Bestandsaufnahme. Im zweiten Teil geht es um den...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. 1 Wir würden so gern loslassen
  6. Fallen, die wir uns selber stellen
  7. Was jetzt auf uns zukommt
  8. Sparzwänge contra Wunschdenken
  9. So kann man vorsorgen