Frühförderung
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Frühförderung

Ein Hilfesystem im Wandel

  1. 303 Seiten
  2. German
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Frühförderung

Ein Hilfesystem im Wandel

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Über dieses Buch

Von über 1.000 Frühfördereinrichtungen in Deutschland werden Familien, bei deren Kindern ein Entwicklungsrisiko oder eine Behinderung vermutet oder festgestellt wird, umfassende Hilfen angeboten - traditionell überwiegend als heilpädagogische ''Hausfrühförderung''. Inzwischen hat sich die Frühförderung zu einem eigenen interdisziplinären System entwickelt. Das Buch analysiert zum einen die sich verändernden Bedarfe von Kindern und Familien an Frühförderung und vergleicht diese mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Zum anderen arbeitet es die Umsetzung der fachlichen und rechtlichen Ansprüche durch die deutschen Rehabilitationsträger auf. Am Ende steht ein eindringlicher Appell für verbesserte Hilfen für Familien, deren Aufgaben immer komplizierter und anspruchsvoller werden. Dabei werden in zahlreichen Beispielen die bestehenden Hilfestrukturen und ihre Verbesserungsmöglichkeiten illustriert. Gleichzeitig entsteht die kritische Bilanz eines deutschen Hilfesystems, das in Folge starrer administrativer Strukturen trotz hoher finanzieller Aufwendungen in den meisten Regionen weit hinter ihren fachlichen Ansprüchen zurück bleibt.

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Information

Jahr
2010
ISBN
9783170277366
Auflage
1
Thema
Bildung

1 Die Entstehung der Frühförderung

1.1 Historische Ausgangslage

Deutschland zeichnet sich heute durch ein System an Frühfördereinrichtungen aus, die ein weitgehend flächendeckendes Angebot gewährleisten mit dem Anspruch, familienorientierte Hilfen für entwicklungsgefährdete Kinder und ihr soziales Umfeld anbieten zu können. Der Gesetzgeber unterscheidet hierbei zwei unterschiedliche Systeme: Interdisziplinäre Frühförderstellen (IFF) und Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) (SGB IX, § 30 Abs. 1 und 2 SGB IX, § 1 der FrühV).
Zu einem systematischen Aufbau von Ansätzen der Frühförderung kam es in Deutschland zu Beginn der 1970er Jahre. Der sozialpädiatrische Zweig der Frühförderung entstand eng verbunden mit den Namen Hellbrügge und Pechstein, unter deren Leitung 1968 und 1971 die ersten Sozialpädiatrischen Zentren in München und Mainz eröffnet wurden. In diesen überregionalen Zentren arbeiten interdisziplinäre Teams aus Ärzten, Psychologen, Pädagogen und Therapeuten, sie sind hierarchisch aufgebaut: Die Leitung geht immer von Ärzten aus. Eine rechtliche Absicherung erfolgte erst Ende der 1980er Jahre, eingebettet in das Sozialgesetzbuch (SGB) V, welches die Leistungen der Krankenversicherungen regelt. Inzwischen gibt es in Deutschland ca. 130 Sozialpädiatrische Zentren.
Erste Frühförderstellen entstanden seit 1970 (vgl. Sohns 2000a, 30), zunächst in Trägerschaft der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. als eine der treibenden Kräfte für die pädagogische Frühförderung. Im Gegensatz zu den SPZ erhielten sie für ihre pädagogischen Leistungen bereits 1974 eine gesetzliche Grundlage, auf der sich in ganz Deutschland ein flächendeckendes System von inzwischen etwa 10002 Einrichtungen etablierte (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2005), in dem vorwiegend pädagogisch ausgebildete Fachpersonen Familien mit einem entwicklungsauffälligen oder behinderten Kind alltagsorientierte Beratung und eine gezielte (heilpädagogische) Förderung des Kindes anbieten können.
Auch „Frühförderung“ als fachlicher Begriff schaut auf eine nicht einmal vierzigjährige Tradition zurück. Es war in der Bundesrepublik Deutschland eine Zeit der Umbrüche – Anfang der 1970er Jahre –, als Politik und die Fachwelt sich von alten als überholt erkannten Wertvorstellungen lösten und damit auch erstmals den Mut hatten, sich den Kindern im Vorschulalter (und ihren Familien) zuzuwenden und beide zum Gegenstand fachlicher Aufmerksamkeit und Hilfen machten.
Bis dato war die Jugendhilfe von der herrschenden Ideologie bestimmt, ein kleines Kind gehöre in die Familie. „Es gehörte zum öffentlichen Ansehen für eine Bürgerfamilie des 19. und 20. Jahrhunderts, dass der Mann als ‚Ernährer‘ der Familie fungierte, während die Frau für Haushalt und Kindererziehung Sorge trug. Entsprechend hatte sich der Staat aus der binnenfamiliären Erziehung heraus zu halten. Das Idealbild der Mutter, die für ihre Kinder und ihren Mann da zu sein hat, prägte das weibliche Rollenbild“ (Sohns 2009 a, 97). Nur die Familie – namentlich die Mutter – weiß am besten, was für ihr Kind gut und richtig ist. Die Gesellschaft der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre war geprägt von diesem bürgerlichen Bild der Rollenteilung, vom Mann als Ernährer der Familie und der Frau als treu sorgende Hausfrau und Mutter, die den familiären Binnenbereich sauber und ordentlich hält und sich liebevoll um Haushalt, Ehemann und Kinder kümmert. Die primäre Aufgabe der Jugendhilfe lag – in konsequenter Fortführung des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1922 – auch nach deren Reform 1961 in der kontrollierenden Überprüfung dieser Ordnung und einer Intervention, wenn Familien diesem gesellschaftlichen Leitbild nicht entsprachen und Kinder hierdurch in ihrer Integration in die gesellschaftliche Ordnung gefährdet waren.
Zwar feiern die deutsche Pädagogik und Politik Kindergärten heute als deutsche „Erfindung“, die selbst in den amerikanischen Sprachgebrauch als eines der wenigen deutschen Fremdwörter Eingang gefunden hat, und den Erfinder Friedrich Fröbel (1782–1852) als einen der zentralen Reformpädagogen, der mit den Kindergärten die pädagogische Infrastruktur in Deutschland und darüber hinaus maßgeblich verändert hat. Dies blendet jedoch zumeist aus, wie schwer sich gerade die deutsche Politik und die gesellschaftlichen Erziehungsideale mit eben jenem Fröbel taten:
„Fröbels Kindergärten rüttelten an diesem Weltbild. Insofern waren sie ein Politikum, und es verwundert nicht, dass der preußische Staat 1851 – ein Jahr vor Fröbels Tod und drei Jahre nach den Unruhen von 1848 – alle Kindergärten gesetzlich verbot. Es ist Bertha von Marenholtz-Bülow (1810–1891) zu verdanken, dass seine ‚Erfindung‘ Kindergarten nicht gänzlich in Vergessenheit geriet, sondern zunächst im Ausland (Niederlande, England, USA, Japan) eine weitere Verbreitung fand“ (Sohns 2009a, 97).
Noch die Mütter der 1960er Jahre – und mit regionalen Unterschieden auch danach – mussten sich in der Bundesrepublik Deutschland häufig dafür rechtfertigen, wenn sie ihre Kinder nicht zu Hause betreuten, sondern in Kindergärten „abschoben“ und ihre „Mütterpflichten“ vernachlässigten, um selbst berufstätig zu werden und damit offensichtlich ihre egoistisch-materiellen Interessen über das Wohl ihrer Kinder zu stellen oder ihre Ehemänner in dem Monopol der Erfüllung ihrer gesellschaftlich zugeordneten Aufgaben und damit in ihrem Ansehen zu gefährden.
Ganz anders in der DDR. Auch hier war die Emanzipation der Frauen offensichtlich nicht darauf ausgerichtet, die Entscheidungen treffenden staatlichen Gremien wie das Politbüro zu dominieren. Auch hier hatte die Berufstätigkeit von Frauen nicht zur Folge, dass die Männer in der Gesellschaft vermehrt Verantwortung für die Erziehung und Alltagsbetreuung der Kinder übernahmen. Aber es wurde in der DDR ein umfassendes flächendeckendes System der Kinderbetreuung aufgebaut, das bis heute nachwirkt und auf deren quantitative Ausgestaltung die westdeutsche Politik mitunter neidvoll herüber blickt.
Als Gründe für den Aufbau eines solch flächendeckenden Systems stehen drei Aspekte im Vordergrund: Erstens die wirtschaftliche Situation der DDR, die insbesondere bis zum Mauerbau 1961 gekennzeichnet war von einer enormen Abwanderung qualifizierter und ambitionierter Arbeitskräfte und einen großen Arbeitskräftemangel. Frauen mussten arbeiten, um die wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren – gerade in der Wiederaufbauzeit nach dem 2. Weltkrieg. Zweitens grenzt sich die sozialistische Ideologie von der bürgerlichen signifikant dadurch ab, dass kollektive Lebens- und Erziehungsansätze eine höhere Bedeutung haben. Die Konzepte von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen als Lern- und Lebensgemeinschaften entsprachen diesem Bedarf eher als das Ideal einer privatisierten bürgerlichen Familie als Lebensfeld für Kinder. Und drittens ermöglichte eine weitgehend öffentliche Erziehung dem Staat im real existierenden Sozialismus von Anfang an eine ganz andere Kontrolle über die Erziehungsinhalte. Es waren staatliche Erzieherinnen für die Betreuung zuständig, es kamen Fachpersonen der staatlichen Gesundheitsämter und überprüften in einem durchstrukturierten Kontrollsystem regelmäßig die Entwicklung der Kinder.
Die Krippen nahmen die Kinder in der Regel bereits im ersten Lebensjahr auf, die Horte gewährleisteten auch während der Schulzeit eine Ganztagsbetreuung. Die Kindertagesstätten (Krippen, Kindergärten, Horte) wurden zur primären Sozialisationsinstanz für die Kinder, die Familien wurden eher Rückzugsräume für eine ausgleichende Privatsphäre, die von zahlreichen Alltagsproblemen entlastet war und in denen familiäre Bindungen sich als Gegenpol zu den gesellschaftlichen Reglements entwickelten und von Generationenkonflikten der Bundesrepublik unbelasteter blieben.
Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wurden alle gesetzlichen Grundlagen der alten Bundesländer auf die neuen übertragen, es bestand die heikle Notwendigkeit, grundsätzlich unterschiedlich gewachsene Strukturen und Praktiken möglichst reibungslos zu überführen. Bei den Kindertagesstätten gab es keine mit Rechtsansprüchen verbundene finanzielle Absicherung mehr, die Zuständigkeit wechselte zu den einzelnen Kommunen, gleichzeitig ließen eine plötzliche hohe Arbeitslosigkeit und ein historisch außergewöhnlicher Einbruch der Geburtenzahlen den Druck auf das Angebot an vorschulische Betreuungseinrichtungen sinken. Es kam zu einer umfangreichen „Abwicklung“ von Kindertagesstätten im Osten, dem in den 1990er Jahren kein äquivalenter Druck zum Aufbau von Kindertagesstätten aus dem Westen gegenüber stand.
Es ist bezeichnend für die historisch-juristische Entwicklung von Kindertagesstätten in Deutschland, dass die erstmalige Einführung eines flächendeckenden Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz (beginnend mit dem 3. Lebensjahr, lediglich drei ostdeutsche Bundesländer bieten weitergehende Rechtsansprüche) 1995 zwar im Zuge der Harmonisierung von Rechtsgrundlagen der beiden deutschen Staaten erfolgte, jedoch keineswegs im Bereich der Jugendhilfe oder einer expliziten Novellierung von familienpolitischen Grundlagen. Vielmehr war es die Reformierung des deutschen Abtreibungsrechts 1995, das in der politischen Auseinandersetzung breiten Raum einnahm und in deren Zuge im Rahmen der „historischen Stunde der Frauen im deutschen Bundestag“ der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz quasi als Folge daraus entstand, dass trotz eines liberalisierten Abtreibungsrechts den Frauen in Deutschland mehr Anreize gegeben werden sollten, sich für die Geburt und das Erziehen eines Kindes zu entscheiden.
Die Diskussion um diesen Rechtsanspruch beherrschte dann auch weitgehend die Fachdiskussion der kommenden Jahre, während andere im Rahmen der gleichen Neuregelungen beschlossene Hilfeangebote weitgehend untergingen. So ist bis heute selbst den meisten Frühfördereinrichtungen nicht bekannt, dass damals auch erstmalig der Begriff „Frühförderung“ als Terminus in ein deutsches Gesetz gefunden hat: Im Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) mit einem Rechtsanspruch auf Beratung im Rahmen der Schwangerenkonfliktberatung durch „Fachkräfte mit besonderer Erfahrung in der Frühförderung“ (§ 2 Abs. 2 Punkt 5) – damit quasi ebenfalls als Folge eines veränderten Abtreibungsrechts (vgl. Sohns 2000a, 136, vgl. Kap. 2.5).

1.2 Der Rechtsanspruch auf (pädagogische) Frühförderung

In dem historischen Kontext der Bundesrepublik wirkte der erstmalige Wechsel der führenden Regierungspartei 1969 wie eine Zäsur. Bereits zuvor gab es einige Angebote der Frühförderung im weitesten Sinn, v.a. für Kinder mit sinnesspezifischen Behinderungen (Sohns 2000 a, 30). Als 1968 in München das erste Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) eröffnet wurde, hatte es wie die übrigen Angebote der Frühförderung noch keine klare rechtliche und damit allgemein verbindliche finanzielle Grundlage. Die neue Bundesregierung initiierte nun neben zahlreichen Neuerungen im sozial- und bildungspolitischen Feld auch gutachterliche Anstöße, von dem die Soziale Arbeit neben der Psychiatrie-Enquête (1975) am nachhaltigsten von dem Bericht des Deutschen Bildungsrates (1973) beeinflusst wurde.
Innerhalb des Gesamtberichtes des Deutschen Bildungsrats erfolgten von einer Expertengruppe die „Empfehlungen zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“, die einen eigenen Abschnitt (Kapitel 4) dem Bereich „Früherkennung und Frühförderung“ widmen. Ausgehend von einer umfangreichen Analyse der damaligen Ausgangssituation (Deutscher Bildungsrat 1973, 44ff) wird die flächendeckende Etablierung von „Zentren für pädagogische Frühförderung“ empfohlen (ebd., 56). Von ihnen sollen die Aufgaben Früherkennung, Diagnose, Beratung und Förderung (ebd., 52) gewährleistet werden, wobei interdisziplinäre Zusammenarbeit unerlässlich sei (ebd., 49). Insgesamt wird ein Frühfördersystem gefordert, „das medizinische, pädagogische und soziale Aktivitäten einschließt“ (ebd., 47). Besonderer Wert wird auf das Angebot der mobilen „Hausfrüherziehung“, alternativ zur ambulanten Förderung, gelegt (ebd., 54, vgl. auch Sohns 2000a, 31ff).
„Die Gesamtintention dieser Empfehlungen zielte darauf ab, mehr Möglichkeiten eines gemeinsamen Lernens behinderter und nicht behinderter Kinder im Sinne einer schulischen und außerschulischen Integration zu schaffen, und darüber hinaus bereits im Vorfeld der frühen Entwicklung die nötigen Hilfen bereitzustellen, um in dieser so wichtigen Phase einer Ausprägung von Behinderungen und damit möglicherweise einer schulischen Besonderung vorzubeugen. Frühförderung wurde demnach bereits im Ansatz als ein integrativer Dienst verstanden“ (Speck 1996, 16).
Diese Empfehlungen trugen wesentlich dazu bei, dass mit dem 3. Änderungsgesetz zum Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 1974 im § 40 Abs. 1 unter die „Maßnahmen der Eingliederungshilfe“ unter Nr. 2 a ein kleiner Passus neu aufgenommen wurde: „[...] heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind“.
Mit diesem Einschub entstand 1974 eine Rechtsgrundlage auf „heilpädagogische Maßnahmen“, die gegenüber den kommunalen Sozialhilfeträgern (Kreise und kreisfreie Städte) geltend gemacht werden konnte. Dies war die Grundlage dafür, dass flächendeckend in Deutschland Frühförderstellen entstehen konnten.
Dies war jedoch gleichzeitig eine gesetzliche Regelung, die das Fundament und damit auch Finanzierungsansprüche auf (heil-) pädagogische Maßnahmen begrenzte. Insofern wurde entgegen dem interdisziplinären Ansatz der Expertengruppe Frühförderung zunächst überwiegend mit pädagogischer Frühförderung gleich gesetzt. Und insofern hatten die Frühförderstellen, die in der Folge entstanden, sowohl bezüglich der personellen Besetzung als auch der inhaltlichen Ausrichtung überwiegend einen pädagogischen Fokus. Dies blieb nicht ohne Ressentiments durch andere Berufsgruppen.

1.3 Pädagogisch-Medizinische Auseinandersetzungen

Bei diesen Ressentiments standen die fachlichen Ansprüche an die Hilfen für Kinder mit Behinderungen während der Entstehungsphase der Frühfördereinrichtungen in den 1970er Jahren noch nicht im Vordergrund. Auch die (heil-) pädagogischen Hilfen hatten damals noch einen stark kurativen Charakter und waren „geprägt von dem Glauben an die Möglichkeiten therapeutischer Übungsbehandlungen mit dem Kind, zunächst in isolierter Durchführung durch Fachleute“ (Sohns 2000 a, 43). Vielmehr waren es „standespolitische Auseinandersetzungen“ (vgl. ebd., 34ff), die um die Frage geführt wurden, welche Disziplin bei der Ausgestaltung dieses neuen Hilfesystems die Federführung inne hatte: die medizinische Disziplin, die daran gewöhnt war, über den ärztlichen Rezeptblock oder die Leitungsfunktion in medizinischen Einrichtungen in hierarchischer Struktur die Arbeit des Hilfesystems zu überwachen, oder die pädagogische Disziplin, die im Zuge der Emanzipationsbewegungen seit Ende der 1960er Jahre auch in der außerschulischen Pädagogik eine eigene Identität und Selbstbewusstsein entwickelte und sich soeben an deutschen Hochschulen zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin ausgebaut hatte.
Bereits das Votum innerhalb der Expertengruppe des Deutschen Bildungsrates war nicht einheitlich. Konnten ihre Mitglieder über wesentliche grundsätzliche Inhalte (Etablierung von Frühförderzentren, interdisziplinäre Arbeitsweise) noch Einvernehmen erzielen, kam es zu einer Spaltung an der Frage, ob solche Frühfördereinrichtungen primär pädagogische oder pädiatrisch geleitete Einrichtungen sein sollen. Dem (Mehrheits-) Bericht der Expertengruppe unter der Leitung von Otto Speck, Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik an der Universität München, der Zentren für pädagogische Frühförderung mit dem Schwerpunkt einer mobilen Hausfrüherziehung forderte, wurde ein (Minderheiten-) Gutachten durch Johannes Pechstein gegenüber gestellt, in dem „die Auffassung vertreten (wurde), daß nur medizinisch-klinische Dienste Frühförderung effektiv betreiben könnten“ (Speck 1993, 128f). Hierzu wurde ein Ausbau von Sozialpädiatrischen Zentren vorgeschlagen.
Hintergrund dieser Auseinandersetzung waren die sich bereits abzeichnenden unterschiedlichen Systeme der Frühförderung: Zum einen das System der pädagogisch orientierten Frühförderstellen, die dezentral in allen Regionen wohnortnahe und mobile Angebote für Familien vorhielten. Dieses von Speck favorisierte System fand auch Unterstützung bei den Behindertenverbänden, vornehmlich bei der Bundesvereinigung der Lebenshilfe, unter deren Trägerschaft 1970 in Bonn die erste deutsche Frühförderstelle gegründet wurde. Zum anderen das „familienzentrierte, sozialpädiatrische Arbeitsmodell“ (Pechstein 1981, 97), umgesetzt in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ). Dieses Konzept sieht einen zentraleren Charakter mit einem größeren Einzugsgebiet vor, dafür jedoch interdisziplinär besetzte Teams aus Psychologen, medizinischen Therapeuten und Heilpädagogen, die jedoch alle obligatorisch unter gesamtärztlicher Leitung stehen.
Ausgehend von dem Bruch in der Expertengruppe des Deutschen Bildungsrates 1973 kam es in der Folge zu konkurrierenden Auseinandersetzungen zwischen den beiden Systemen und ihren Vertretern, die auch auf politischer Ebene bis hinein in das damalige Bundeskabinett ausgetragen wurden. Wurde in Folge des Expertenberichtes mit dem 3. ÄndG des BSHG eine Rechts- und Finanzierungsgrundlage für „heilpädagogische Leistungen“ und damit für pädagogische Frühförderstellen geschaffen, so fehlte eine Rechtsgrundlage für SPZ noch bis 1989. Diese Ungleichheit provozierte Widerstand und führte zu Auseinandersetzungen, die bis weit in die (sonder-) pädagogischen und medizinischen Berufsverbände reichten. Höhepunkt war eine Resolution des Deutschen Ärztetages 1976, in der die Existenz der entstehenden Frühförderstellen abgelehnt wurde:
„Der Deutsche Ärztetag bittet die Bundesländer, die durch die Vorsorgeprogramme für Säuglinge und Kinder eingeleitete Früherkennung und Frühförderung behinderter oder von Behinderung bedrohter Kinder weiter auszubauen. Im Gegensatz zu der vom Deutschen Bildungsrat empfohlenen Errichtung neuer Zentren mit päd...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einführung
  6. 1 Die Entstehung der Frühförderung
  7. 2 Die rechtlichen Grundlagen der Frühförderung
  8. 3 Theorie und Forschungsergebnisse
  9. 4 Die Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung in den einzelnen Bundesländern
  10. 5 Konzepte der Frühförderung
  11. 6 Beispiele für innovative Ansätze der Frühförderung („Best Practice“)
  12. 7 Perspektive: Ein Gesamtsystem Frühförderung
  13. Literatur
  14. Stichwortverzeichnis