1 Einleitung
Bisher ist es nach wie vor nur eine Minderheit der Kommunen in Deutschland, welche die Gestaltung der demografischen Alterung als eine zentrale Aufgabe begreifen (Naegele, 2014). Die Stadt Gelsenkirchen gehört zu jenen Kommunen, die Demografiekonzepte in Form von Masterplänen entwickelt haben und auch entsprechend handeln. Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Lebensqualität Älterer im Wohnquartier (LiW)“ konnte an diese Aktivitäten der Stadt Gelsenkirchen anknüpfen. Unsere Studie, die wir mit diesem Buch vorlegen, versteht sich auch als ein Beitrag oder besser als Impuls zur Entwicklung und Realisierung von kommunalen Demografiekonzepten zur Gestaltung alternder Stadtgesellschaften.
Bezüglich der Wohnwünsche älterer Menschen sprechen die empirischen Ergebnisse eine deutliche Sprache: Die überwiegende Mehrheit möchte selbstbestimmt älter werden und solange wie möglich in der eigenen Wohnung bzw. in vertrauter Umgebung leben (Kremer-Preiß & Stolarz, 2003, S. 8). Insbesondere im Alter kommt daher dem Quartier, wie immer es im Einzelnen begrifflich gefasst wird, eine herausragende Bedeutung zu. Als lebensweltlicher Nahraum ist das Wohnquartier ein zentraler Umweltbereich des Alter(n)s. Öffentliche Räume bzw. halböffentliche Übergangsräume (z. B. Hausflure, Gartenwege, Kirchplätze etc.) sind stets sozial produzierte und historisch gewachsene Orte. Im Sinne der Interdependenz von Person-Umwelt-Beziehungen beeinflusst das Wohnumfeld einerseits das Alter(n) bzw. die Lebensqualität im Alter; andererseits kann es als sozial produzierter Sozialraum auch (um)gestaltet werden (z. B. barrierearm). Die Studie zeigt, dass ältere Menschen hierbei durch Partizipation eine gewichtige Rolle einnehmen können, sind sie doch die Expertinnen und Experten ihrer alltäglichen Lebenswelt bzw. -umwelt.
Durchgeführt wurde das LiW-Projekt von der Forschungsgruppe ‚Alternde (Stadt-)Gesellschaften‘ an der Fachhochschule Dortmund in den Jahren von 2010 bis 2013; gefördert wurde es vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der SILQUA-Förderlinie („Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter“). Das Projekt war von Beginn an eingebettet in die von der Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen (Praxispartner) auf den Weg gebrachte Neustrukturierung der Seniorenpolitik.1 Aufmerksam geworden auf diesen Reformprozess konnte die Forschungsgruppe der FH rasch eine Zusammenarbeit mit der Stadt vereinbaren, das Projekt beantragen und erfolgreich abschließen. Basis des seniorenpolitischen Reformprozesses der Stadt ist der „Masterplan Seniorinnen und Senioren in Gelsenkirchen“, den der Rat der Stadt am 27.10.2005 einstimmig beschlossen hatte. Leitbild ist eine generationensolidarische und barrierefreie Stadt. Die zentrale handlungsleitende Konzeption hierfür ist das Partizipationsparadigma. Die Reformpolitik richtet sich primär auf die Schaffung wohnortnaher Ermöglichungs- und entsprechender quartiersbezogener Angebots- und Netzwerkstrukturen (Stadt Gelsenkirchen, 2010). Es geht im LiW-Projekt um den Prozess des Alter(n)s in städtischen Sozialräumen – empirisch steht das Ruhrgebiet im Mittelpunkt. Mit Sicht auf diesen großstädtischen Agglomerationsraum (Stichwort: Metropole Ruhr), der sich schon seit Jahren im soziökonomischen Strukturwandel befindend, zeigt sich auch der demografische Wandel in ausgeprägter Weise. Insbesondere der relativ rasch voranschreitende demografische Schrumpfungs- und Alterungsprozess ist charakteristisch für diese Region, ein Prozess, der für andere Regionen erst in fünf bis zehn Jahren zutreffen wird (Naegele & Reichert, 2005). Dies gilt vor allem für ehemals klassische Industriearbeiterstädte wie z. B.: Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen, Duisburg (Naegele, 2010, S. 38).
Sinkende Bevölkerungszahlen und die „dreifache Alterung“ (Naegele, 2006) der Gesellschaft (Zunahme der Hochaltrigkeit, absoluter Anstieg der Anzahl älterer Menschen sowie das überproportionale Anwachsen Älterer bezogen auf das Verhältnis von jüngeren und älteren Menschen) gelten als Hauptkennzeichen des vieldiskutierten demografischen Wandels. Unmittelbar zeigen sich diese Veränderungen auf kommunaler Ebene. Hier korrespondieren sie noch mit sozioökonomischen Veränderungen (Strukturwandel, Prozesse sozialer und ethnischer Segregation, Pluralisierung privater Beziehungsformen, Entgrenzung von Arbeit und Leben etc.) und altersstrukturellen Wandlungsvorgängen (wie z. B. Feminisierung, Singularisierung, Heterogenisierung des Alters). Das demografische Altern ist auch sozialräumlich differenziert (Beetz, Müller, Beckmann & Hüttl, 2009, S. 28ff.). Regionen in Ostdeutschland und vor allem die vom Strukturwandel betroffenen altindustriellen Gebiete, wie Teile des Saarlands und nicht zuletzt das Ruhrgebiet, sind vergleichsweise ‚alte‘ Regionen (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, 2014). Auch innerhalb der Städte sind die Alterungsprozesse unterschiedlich verortet. Ebenso ist der allgemeine Trend zu sinkenden Bevölkerungszahlen nicht durchgängig. Sowohl innerhalb einer Region als auch innerstädtisch geht dieser häufig mit einem Bevölkerungsanstieg einher. Städte schrumpfen und wachsen gleichzeitig (Müller & Siedentop, 2004). Unter kritischer Beachtung der „Demographisierung des Gesellschaftlichen“ (Barlösius, 2007) haben demografische Prozesse nur eine begrenzte Erklärungskraft; denn häufig sind es Prozesse des sozialen und ökonomischen Wandels, die zur Erklärung gesellschaftlicher Veränderungen mit herangezogen werden müssen. Zudem sollten neben den ‚Risiken‘ des demografischen Wandels mehr die ‚Chancen‘ in den Blick geraten.
Es sind nicht wenige Studien, die vor diesem Wandlungshintergrund auf einen „Bedeutungsgewinn der Stadt“ (Läpple, Mückenberger & Oßenbrügge, 2010, S. 9) aufmerksam machen. Ob aber im Allgemeinen davon ausgegangen werden kann, „dass die Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland aufgrund des spezifischen Infrastrukturbedarfs einzelner Bevölkerungsgruppen eine Rückkehr in die Stadt bewirken wird“ (Brühl, Echter, Frölich von Bodelschwingh & Jekel, 2005, S. 40), ist allerdings eine offene Frage. Aufgrund der Distanzempfindlichkeit des Alters wächst aber die Zahl der Menschen, „die auf spezifische, nahräumlich gebündelte Angebote angewiesen sind“ (Walther, 1998, S. 36). Und hierfür bietet die Stadt mit ihrer Dienstleistungs- bzw. Versorgungsdichte gute Voraussetzungen. So wächst der Wunsch, insbesondere bei ‚jungen Alten‘, „das oft eintönige Einfamilienhaus in Suburbia gegen ein lebendiges Wohnumfeld mit attraktiven Freizeitangeboten um die Ecke einzutauschen. Später ist eine intakte Infrastruktur in fußläufiger Entfernung mit Geschäften, Gastronomie und medizinischen Einrichtungen eine wichtige Voraussetzung, um möglichst lange in den eigenen vier Wänden leben zu können“ (Osterhage, 2007, S. 77f.). Zudem lassen sich in urbanen Sozialräumen eher neue Wohnformen (gemeinschaftliches Wohnen, Seniorenwohngemeinschaften, Mehrgenerationenwohnen, betreutes Wohnen etc.) realisieren, „die das Bedürfnis älterer Menschen nach Kommunikation, Unterstützung und Selbstständigkeit aufgreifen“ (ebd., S. 78). Walther hat schließlich darauf hingewiesen, dass die urbane Lebensweise, die ja eher durch Unpersönlichkeit, Gleichgültigkeit und Distanz (Simmel, 1995) gekennzeichnet ist, dem urbanen Altern in der heutigen Zeit nicht entgegensteht. Die professionellen (ambulanten) Hilfsdienste für Ältere in den Städten „haben längst funktionale Äquivalente für solidarisch erbrachte Unterstützung aus Verwandten- und Bekanntenkreis hergestellt“ (Walther, 2007, S. 282). Hinzu kommt: „Bei schrumpfender Bevölkerung werden die Kosten des Umlandwohnens zunehmend bewusster als Kostenfaktor wahrgenommen und so wird z. B. das Zweitauto den höheren Wohnkosten in der Stadt gegenübergestellt“ (Brühl et al., 2005, S. 12). Wohnstandortsfragen unter Mobilitätsaspekten zu bedenken, dürfte ebenfalls für die anwachsende Gruppe der älteren Menschen relevant sein. Diese „könnten mit einer Rückwanderung in die Städte reagieren, weil hier der Lebensalltag bei eingeschränkten Mobilitätsbedingungen einfacher zu organisieren ist“ (Müller & Siedentop, 2004, S. 23). Mit anderen Worten: Die Nahräumlichkeit des Alters ‚profitiert‘ von der Dichte der Stadt, wegen ihrer kurzen Wege. Alles in allem kann daher angenommen werden, dass die Stadt als Wohnort gute Voraussetzungen bietet „für einen aktiven und selbstbestimmten Lebensabend“ (Osterhage, 2007, S. 77). Auch wenn die Plausibilität einer Wiederentdeckung der Stadt als Wohn- und Lebensort (auch) für ältere Menschen nicht von der Hand zu weisen ist, ist zu konstatieren, dass der Prozess der Reurbanisierung „nicht linear verläuft und zudem in lokal unterschiedlicher Weise“ (Brühl et al., 2005, S. 66). Ungeachtet der möglicherweise steigenden Bedeutung des städtischen Sozialraums für das Alter(n): Neuere Studien unterstreichen, dass die Reurbanisierung das bislang dominante Raummuster der Suburbanisierung, auch in schrumpfenden Stadtgesellschaften, „weitestgehend ablöst“ (Herfert & Osterhage, 2012, S. 107).
Die gesellschaftlichen und demografischen Wandlungsprozesse haben in den Städten auch Auswirkungen auf die kommunale Daseinsvorsorge. Zum einen kommt es zu einer Verlagerung der Wohlfahrtsproduktion auf nicht-staatliche Akteure und damit auch zu einer strukturellen Veränderung der Daseinsvorsorge. Neben öffentlichen bzw. kommunalen Instanzen und den in Deutschland traditionell Daseinsvorsorgeleistungen erbringenden Wohlfahrtsverbänden, werden heute auch gewinnorientierte Unternehmen (z. B. public-private Partnerships, stationäre/ambulante Pflegedienste) sowie Akteure der Zivilgesellschaft (z. B. im Stadtteil bürgerschaftlich Engagierte) in die soziale Daseinsvorsorge aktivierend mit einbezogen. Zum anderen ergibt sich aufgrund der krisenhaften gesellschaftlichen Umbrüche, mit denen die Stadtgesellschaften konfrontiert sind, eine Lastenverschiebung innerhalb der Daseinsvorsorge. „Von den Kommunen selbst oder anteilig zu finanzierende Pflichtleistungen binden in der Regel einen Großteil des kommunalen Sozialbudgets“ (Diakonie Deutschland, 2012, S. 9). Für Kann-Leistungen, mit denen die Kommunen auf spezifische Problemkonstellationen und Bedarfslagen reagieren könn(t)en, „bleibt dann häufig wenig Spielraum“ (ebd.). Diese Entwicklung verstärkt sowohl die soziale wie die sozialräumliche Ungleichheit (soziale Segregation) in den Städten als auch die Kluft zwischen reichen und armen Stadtgesellschaften (ungleiche Lebensverhältnisse). Für nicht wenige Stadtgesellschaften gerät daher vor allem die Gestaltung des sozialen und demografischen Wandels zu einem (finanziellen) Problem. Kommunalpolitische Entscheidungen „betreffen zunehmend den Rückbau der kommunalen Daseinsvorsorge“ (Wurtzbacher, 2014, S. 107). Dies gilt ganz besonders für schrumpfende Städte. Es kommt zu Rückgängen bei den Steuereinnahmen (z. B. des Einkommenssteueranteils) und den Länder-Finanzzuweisungen. Dagegen sinken die Pro-Kopf-Ausgaben nicht unbedingt in entsprechender Weise; infolge der Unterauslastung notwendiger kommunaler Infrastrukturangebote (Ausgabenremanenz) steigen sie tendenziell sogar (Bogumil, Heinze, Lehner & Strohmeier, 2013, S. 260f.). Demzufolge haben viele Städte und Kommunen vielschichtige Herausforderungen zu bewältigen.
Mit Sicht auf das Alter(n) geht es zum einen um den Ausbau von Unterstützungs- und Hilfesystemen im Wohlfahrtsmix vor allem infolge der zunehmenden Ausdünnung familialer Netzwerke (niedrige Geburtenraten, Kinderlosigkeit, Erwerbstätigkeit beider Geschlechter, Alleinlebende, Alleinerziehende, relativ hohe Scheidungsquoten etc.). Insbesondere ist der wachsende Pflegebedarf sicherzustellen, der mit der Zunahme der Hochaltrigkeit einhergeht, wenn auch keineswegs linear mit dieser. Zum anderen geht es im Wesentlichen darum, die Ressourcen und Potenziale des Alters zu erkennen und diese partizipativ mit einzubeziehen. Hierfür müss(t)en in den Kommunen Ermöglichungsstrukturen entwickelt und vor Ort, in den Quartieren, implementiert werden. Handlungsleitend ist ein Denken, das die vielfältigen Kompetenzen älterer Menschen sowie ihre Selbständigkeit und Selbstbestimmung beachtet bzw. anerkennt. Ohne die Risiken des (hohen) Alters aus den Augen zu verlieren: Ein solches Altersbild begreift das Alter(n) nicht in erster Linie als Belastung, sondern auch als Chance, die Zukunft mit zu gestalten und demokratisch mit zu bestimmen.
Ganz in diesem Sinne steht die partizipative Quartiersentwicklung im Fokus des LiW-Projekts, das sich in den Bereich der Kritischen (Sozial)Gerontologie mit Bezügen zu den (Angewandten) Sozialwissenschaften verorten lässt. Es geht v. a. darum, dass im Rahmen einer sozialen Intervention (moderierte Quartierskonferenzen) ortsansässige Ältere im Dialog mit verantwortlichen Akteuren aus Kommunalverwaltung und -politik, Zivilgesellschaft, Verbänden und Wirtschaft Maßnahmen entwickeln, die geeignet sind, die Lebensqualität heterogener Bevölkerungsgruppen Älterer und anderer Generationen im Quartier zu verbessern. Ältere Bürgerinnen und Bürger bestimmten die für sie relevanten Handlungsfelder und bearbeiten diese in mehreren Arbeitsgruppen, die in kontinuierlichen Zeitabständen zusammenkommen. Ältere avancieren so zu entscheidenden Mitgestaltern (Ko-Produzenten) ihrer alltäglichen sozialräumlichen Lebenswelt.
Die Lebensqualität älterer Menschen in ruhrgebietstypischen Sozialräumen steht somit im Fokus der folgenden Ausführungen, die derart gegliedert dargeboten werden: Im zweiten Kapitel werden Fragestellungen und Ausgangslage der Untersuchung expliziert. Die dem Forschungs- und Entwicklungsprozess zugrundeliegenden theoretischen Leitkonzepte (Heuristik) werden im dritten Kapitel vorgestellt. Daraufhin wird der Blick im vierten Kapitel auf den methodologischen Rahmen gerichtet und auf das Methodendesign, das sich auf die verschiedenen empirischen Phasen, die das Projekt durchlaufen hat, bezieht. Im fünften und im sechsten Kapitel rückt der Untersuchungsraum (Ruhrgebiet) bzw. das Referenzgebiet (Gelsenkirchen Schalke) ins Zentrum der Betrachtung. Die sich auf das Referenzgebiet beziehenden quantitativen und qualitativen Untersuchungen bilden den Hintergrund der partizipativen Quartiersentwicklung, die vom Projekt initiiert und evaluiert wurde. Die Prozessbeschreibung, die Darstellung der Ergebnisse der sozialen Intervention, die insbesondere auf den Zusammenhang von Partizipation und Lebensqualität aufmerksam machen, sowie die Explikation des transferfähigen Handlungsrahmens, der sich aus den Projekterkenntnissen zusammenstellen lässt, finden sich in Kapitel sieben. Kapitel acht diskutiert daraufhin in zusammenfassender Weise die wesentlichsten Projektergebnisse und ordnet diese in den (wissenschafts-)theoretischen Kontext ein. Das Buch endet mit einem Ausblick in Kapitel neun, der auf die vielfältigen, dem Projekt zuzurechnenden nachhaltigen Übertragungsformen hinweist.
2 Ausgangslage und Fragestellungen
Zur Darstellung der Ausgangslage der vorliegenden Untersuchung beginnen wir mit einer Erläuterung des Begriffs Alter(n), skizzieren ein neues Vergesellschaftungsmodell für das Leben in der nachberuflichen Phase, heben ab auf die Bedeutung des Wohnquartiers, des Partizipationsparadigmas und von Urban Governance für ein ‚gutes‘ Leben im Alter. Vor diesem Hintergrund kommen wir dann zur Entwicklung unserer Fragestellungen und – daran anschließend – zur wissenschaftstheoretischen Einordung unseres Forschungs- und Entwicklungsprojekts.
Zunächst ist zu unterscheiden zwischen Alter und Altern (Kruse, 2007). Altern ist der gesamte unumkehrbare Prozess der biologischen, psychischen und sozialen Entwicklung eines Menschen, der aufgrund verschiedener (ungleicher) Lebensbedingungen individuell unterschiedlich verläuft. Alter ist eine Lebensphase2, die sozial und gesellschaftlich bestimmt ist (Backes & Clemens, 2013; Kolland & Wanka, 2014). Sie ist ein zentrales Merkmal sozialer Differenzierungen: Es ist auch eine Frage des Lebensalters, welche Möglichkeiten jemandem offen stehen. Es gibt drei Dimensionen des Alter(n)s, die mit Verlusten und Gewinnen verbunden sind: In der biologischen Perspektive ist mehr die Verringerung der organischen Leistungsfähigkeit festzustellen. In der psychologischen Sichtweise ist z. B. das Erfahrungswissen als Gewinn zu nennen, das sich über die erfolgreiche Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in früheren Lebensabschnitten aufgebaut hat. In der sozialen Dimension ist mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben oft die Erfahrung verbunden, keine verantwortungsvollen bzw. sinnstiftenden Aufgaben mehr wahrzunehmen, was nicht selten als Entwertung des Alters wahrgenommen wird (Köster, Schramek & Dorn, 2008, S. 161).
Besonders aus soziologischer wie sozialgerontologischer Perspektive betrachtet ist Alter(n) eine soziale Konstruktion. Der Verlauf des Alterns ist stark von der Lebenslage bestimmt: Einkommen, Bildungsstatus, Beruf, Geschlecht u. a. wirken auf den Alterungsprozess ein. Sie beeinflussen Gesundheit, soziale Netzwerke, Bildung, Engagement und Mobilität im Alter. Diese objektiven Gegebenheiten werden zudem durch die jeweilige subjektive Bewertung geprägt. aus denen sich das gesamte Bild der Lebenssituation älterer Menschen ergibt (Baumgartner, Kolland & Wanka, 2013, S. 19). Die Gruppe der älteren Menschen ist durch eine hohe Heterogenität gekennzeichnet. Altern ist ein differenzieller Prozess. Die Rede ist von einem jungen und einem alten Alter, von einem negativen und einem positiven Alter, von Risiken und Potenzialen des Alters. Auch interkulturell hat das Alter verschiedene (‚bunte‘) ‚Gesichter‘. Die Differenzierung des Alters führt auch zu neuen Altersbildern. Alter wird immer weniger als eine Lebensphase begriffen, die primär durch Leistungsabbau, Verfall und Hilfebedürftigkeit zu beschreiben ist. Vielmehr stehen Kompetenzen älterer Menschen im Vordergrund, die nach neuen Aufgabenbereichen bzw. Verantwortungsrollen suchen und dadurch auch in der letzten Lebensphase ein gelingendes und sinnerfülltes Leben anstreben.
Die Betonung der Potenziale des Alters bleibt aber nicht ohne Kritik. Erstens ist das Recht auf Muße und Rückzug im Alter eine Errungenschaft, die nicht durch eine Überbetonung des „Aktivierungsparadigmas“ verloren gehen darf. Zweitens gibt es besonders im hohen Alter auch Beeinträchtigungen, die einer pauschalen Aktivierung Grenzen setzen. Schließlich betont drittens die kritische Gerontologie (Köster, 2012), dass die Politik der Aktivierung (Lessenich, 2009) auch die Gefahr der instrumentellen (Wieder-)Indienstnahme alter Menschen beinhaltet. Als Teil des Konzeptes des aktivierenden Sozialstaats wird die Verantwortung für ein funktionierende...