1 Gesellschaftliche Aspekte
Die Häufigkeit von Erkrankungen ist u. a. abhängig von demografischen und sozioökonomischen Faktoren. Daher haben gesellschaftliche Entwicklungen erhebliche Auswirkungen auf das Gesundheitswesen.
1.1 Demografische Entwicklung
In Deutschland steigt die mittlere Lebenserwartung seit über 100 Jahren (mit kurzen Unterbrechungen durch die beiden Weltkriege) ständig (destatis.de1). Das mittlere Sterbealter betrug 2016 83,2 Jahre für Frauen und 78,3 Jahre für Männer (destatis.de2). Durch diesen Anstieg und durch die geringe Geburtenrate ist in den letzten Jahrzehnten das mittlere Lebensalter in Deutschland ständig gestiegen. Es lag 2015 bei Männern bei 42,8 und bei Frauen bei 45,6 Jahren (bib). Für das Gesundheitswesen ist besonders der deutlich angewachsene Anteil der Hochbetagten an der Bevölkerung von großer Bedeutung. Der Anteil der über 60-Jährigen an der Bevölkerung hat sich von 1950: 14,6 % auf 2016: 27,6 % fast verdoppelt und der der über 80-Jährigen in demselben Zeitraum von 1,0 % auf 6,0 % vervielfacht (destatis.de3).
Diese Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung haben u. a. gravierende Folgen für die Renten- und Pflegeversicherungen, denn das Verhältnis zwischen der Anzahl der Beitragszahler und der Anzahl derjenigen, die Leistungen aus diesen Kassen beanspruchen, wird immer kleiner. Da vornehmlich (sehr) alte Menschen pflegebedürftig werden, ist diese Entwicklung besonders problematisch für den Pflegebereich (
Kap. 9).
1.2 Sozioökomonische Entwicklung
In den letzten Jahrzehnten haben sich die Arbeitsbedingungen in Deutschland erheblich gewandelt. So hat sich der Anteil der in der Landwirtschaft und im produzierenden Gewerbe Tätigen kontinuierlich verringert (von 1991: 39,4 % auf 2016: 28,2 %), während der Anteil der im Dienstleistungsbereich Beschäftigten entsprechend gestiegen ist (von 1991: 60,6 % auf 2016: 71,8 %) (destatis.de4), d. h. der Anteil der Menschen in Deutschland, die einer (schweren) körperlichen Arbeit nachgehen, ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken. Dagegen haben die Arbeitsplätze mit vorwiegend sitzender Tätigkeit, v. a. am Computer-Bildschirm, zugenommen.
1.3 Auswirkungen auf das Gesundheitswesen
Die demografische Entwicklung in Deutschland hat enorme Auswirkungen auf die Sozialsysteme (v. a. die Rentenkassen) und für das Gesundheitswesen (Kranken- und Pflegekassen). Die Zunahme der Lebenserwartung ist u. a. durch die besseren Behandlungsmöglichkeiten von einer Vielzahl von Erkrankungen bedingt. Diese Fortschritte in der Medizin haben dazu geführt, dass jetzt andere Problemfelder mehr in den Fokus der klinisch tätigen Mediziner und auch der Gesundheits- und Sozialpolitik rücken:
• alterstypische Erkrankungen (
Kap. 1.3.1)
• (neuro)psychiatrische Erkrankungen (
Kap. 1.3.2 und
Kap. 6)
• »Lifestyle« bedingte Gesundheitsrisiken (
Kap. 1.3.3 und
Kap. 4)
Diesen ist gemeinsam, dass sie meist chronisch verlaufen bzw. langfristig behandelt werden müssen. Dadurch werden hohe Kosten für die Sozialkassen verursacht. Chronische Erkrankungen stellen die an der Krankenversorgung Beteiligten (Ärzte, Krankenhäuser, Pflegedienste etc.) vor große Herausforderungen, denn die Versorgungsstrukturen sind entsprechend anzupassen bzw. zu entwickeln (
Kap. 9).
1.3.1 Zunahme alterstypischer Erkrankungen
Die demografische Entwicklung bedeutet für die medizinische Versorgung der Bevölkerung eine große Herausforderung, denn es ist davon auszugehen, dass die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit ab dem 65. Lebensjahr mit dem Alter abnimmt (Baltes, 1997; Fuchs et al., 2013a). So steigt die Zahl der Personen, die an körperlichen oder geistigen Erkrankungen leiden, mit zunehmender Lebenserwartung deutlich an. Eine Reihe von Erkrankungen zeigt eine deutliche Altersabhängigkeit, d. h. sie treten mit steigendem Lebensalter immer häufiger auf. Diese Erkrankungen werden als alterstypische Erkrankungen oder Alterserkrankungen (
Kap. 5 und
Kap. 6) bezeichnet. Bei den meisten der alterstypischen Erkrankungen ist eine Heilung oder wesentliche Besserung der Symptomatik nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht
mehr möglich, so dass sie chronisch verlaufen. Aufgrund der Chronizität kommt es in sehr vielen Fällen dazu, dass die Betreffenden nicht nur an einer, sondern mehreren Erkrankungen gleichzeitig leiden. Dieser Zustand wird meist mit dem Begriff Multimorbidität bezeichnet, obwohl eine allgemein akzeptierte Definition fehlt (
Kap. 3).
1.3.2 Neuropsychiatrische Erkrankungen
Viele neuropsychiatrische Erkrankungen weisen eine gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhte Mortalität (Sterblichkeit) auf. So ist bei psychiatrischen Erkrankungen wie Depression, Schizophrenie oder Sucht die Lebenszeit um mehr als 15 Jahre verkürzt (Nordentoft et al., 2013). Hierzu tragen verschiedene Faktoren bei: früher Beginn der Erkrankung (75 % vor dem 25. Lebensjahr (Kessler et al., 2005a)), eine deutlich erhöhte Suizidrate (Nordentoft et al., 2013) und das häufige Auftreten von körperlichen Erkrankungen (de Hert et al., 2011; Lawrence et al., 2013). Dies zeigt die erheblichen Auswirkungen, wenn bei einem Menschen gleichzeitig eine psychiatrische und eine körperliche Erkrankung bestehen. Psychische Störungen führen häufig zu körperlichen Erkrankungen (
Kap. 5 und
Kap. 6).
Epidemiologische Betrachtungen wie die Global burden of disease study (www.healthdata.org/germany) zeigen, dass 2016 drei neuropsychiatrische Erkrankungen, nämlich zerebrovaskuläre, depressive und Angst-Erkrankungen zu den zehn Krankheiten zählen, die in Deutschland auf die Lebenszeit hochgerechnet zu den längsten Beeinträchtigungen des normalen, beschwerdefreien Lebens (disability-adjusted life years (DALYs)) führen. In der Altersgruppe zwischen 18 und 45 Jahren haben psychiatrische Erkrankungen von allen Krankheitsgruppen die höchsten DALYs (Krankheitslast) (GBD 2016 Disease, 2017). Sie führen bei den unter 60-Jährigen auch am häufigsten zu einer Multimorbidität (Bobo et al., 2016).
Psychische Erkrankungen sind auch die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Frühberentungen, so stieg zwischen 1993 und 2016 der Anteil von Frühberentungen aufgrund von psychischen Störungen an allen vorzeitigen krankheitsbedingten Berentungen in Deutschland von 15,4 auf 42,7 % und der von Nervenerkrankungen oder Erkrankungen der Sinnorgane von 5,7 auf 6,5 %. D. h. fast 50 % der Erkrankungen, die 201...