Konzeptionen der Gerechtigkeit
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Konzeptionen der Gerechtigkeit

Entwicklungen der Gerechtigkeitstheorie seit John Rawls

  1. 256 Seiten
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Konzeptionen der Gerechtigkeit

Entwicklungen der Gerechtigkeitstheorie seit John Rawls

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Über dieses Buch

Gerechtigkeit gilt als Kardinaltugend für ein gutes und richtiges Leben. Was aber bedeutet sie inhaltlich und wie lässt sie sich begründen? Der gedankliche Mittelpunkt der Darstellung ist die epochale Neubestimmung der Gerechtigkeit durch John Rawls. Seine Theorie der Gerechtigkeit hat zu vielen Diskussionen, Weiterführungen und Gegenentwürfen Anlass gegeben, die exemplarisch vorgestellt und vier Fragestellungen zugeordnet werden: Ist ein Gesellschaftsvertrag als Grundvoraussetzung der Theorie unabdingbar? Muss nicht die Gemeinschaft als Ort der Gerechtigkeitsvorstellungen stärker betont werden? Ist der Stellenwert, den Rawls der Gleichheit zuschreibt, angemessen? Gewährt er der Freiheit einen adäquaten Raum? Den Abschluss bildet ein argumentationsethischer situationsbezogener Ansatz.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783170255036

1. Grundpositionen der Gerechtigkeit

Die aktuellen Theorien der Gerechtigkeit orientieren sich an den klassischen Theorien und ihren maßgeblichen Bestimmungen. Diese möchte ich an fünf Grundpositionen1 aufzeigen; zunächst an Platon, denn zum einen waren die normativen Grundlagen der Gesellschaft zu seiner Zeit ähnlich umstritten wie bei uns heute. Zum anderen enthält sein Dialog Politeia, der den Untertitel Über das Gerechte trägt, die älteste schriftliche und vollständig überlieferte Philosophie der Gerechtigkeit in Europa. Platons Bestimmung der Gerechtigkeit kommt also für die politische Philosophie eine fundamentale Bedeutung zu. Da Platons Schüler Aristoteles dem ins Ideale strebenden Denken seines Lehrers die Perspektive des alltäglichen Lebens entgegengesetzt hat, kommt mit seinen Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit und der Gleichheit eine bis heute brisante Problematik ins Spiel.
Die moderne politische Philosophie hat durch Thomas Hobbes und John Locke entscheidende Impulse erhalten. In diesem Zusammenhang berücksichtige ich jedoch Hobbes' Schrift Leviathan nicht, da sie die soziale Gerechtigkeit nicht thematisiert, sondern die friedens- und Sicherheit stiftende Funktion des Staates, die auf einem Gesellschaftsvertrag beruht und den Kriegszustand der Menschen untereinander beendet. Die sozialen Normen beruhen bei Hobbes erstmals in der Neuzeit auf menschlicher Übereinkunft und werden nicht mehr theologisch abgeleitet. Locke dagegen ist der geistige Ahnherr des Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie und deshalb auch für das gegenwärtige liberale Denken bedeutsam. Auch er vertritt den Gedanken des Gesellschaftsvertrages, dem er jedoch das Naturrecht überordnet. Da er es auf Gott zurückführt, sichert er – für seine Zeit unwidersprechlich – die gleichen Rechte der Menschen ab und verpflichtet sie, die Freiheitsrechte der Anderen zu respektieren. Die Gerechtigkeit besteht in dem Schutz dieser Grundrechte, zu denen auch das Eigentumsrecht gehört.
Immanuel Kant begründet in seinem systematischen Entwurf die wichtigsten Impulse der modernen Philosophie neu und macht die Freiheit in der unmittelbaren Verpflichtung zu vernünftigem Handeln erfahrbar. Seinem deontologischen Ansatz, der sich strikt gegen ein Streben nach Glückseligkeit in der Moralphilosophie ausspricht, steht der Utilitarismus als andere große Tradition entgegen. Er bewertet die Güte einer Handlung nach der Nützlichkeit ihrer Folgen und ist besonders im angelsächsischen Raum vertreten worden. Dieser teleologische Ansatz, der auch nach dem Glück der Menschen fragt, reflektiert die Folgen einer Handlung, also den Sachverhalt der Verantwortung und ist damit stärker auf konkrete Lebensverhältnisse bezogen als das an der Pflicht orientierte Denken Kants. Die Gerechtigkeitsauffassung des Utilitarismus stelle ich an John Stuart Mill dar.
Diese fünf Grundmodelle erfassen den Sachverhalt der Gerechtigkeit auf sehr unterschiedliche Weise und werden hier ausgewählt, weil sie das Denken der modernen Theoretiker entscheidend geprägt haben, nicht aber um im Folgenden fortwährend ihre Rezeption zu belegen.

1.1 Platon – Gerechtigkeit als hierarchische Ordnung des Gemeinwesens

Wegen der vielfältigen Auffassungen von Gerechtigkeit und der Einsprüche gegen sie beginnt Platon in seinem Dialog Politeia2 damit, verschiedene Ansichten aufzuzeigen, sie kritisch zu analysieren, um dann seine eigene Theorie dagegenzusetzen. Das ist ein langwieriger Prozess und macht dieses Werk zur umfangreichsten Untersuchung der Gerechtigkeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Deutschen hat sich für Politeia die Übersetzung Staat eingebürgert. Doch bedeutet das Wort eigentlich Verfassung und bezieht sich auf die verfasste polis, die Stadt, so dass Gemeinwesen die geeignetere Übersetzung ist.

1.1.1 Sokrates´ Vorgespräche

Der erste Gesprächspartner des Sokrates, der hochbetagte und vermögende Kephalos (siehe Rep., 328 b–331 d), vertritt eine Gerechtigkeitsauffassung der iustitia regulativa, denn es geht ihm darum, Versprechen oder Verträge einzuhalten und Gesetze zu befolgen, also um die Aufrechterhaltung sozialer Kooperation. Sokrates belässt es nicht bei dieser Vorstellung, denn einem wahnsinnig gewordenen Freund wird man nicht die anvertraute Waffe zurückgeben (siehe 331 c). Auch weist er die Vorstellung seines zweiten Gesprächspartners Polemarchos (siehe 331 e–336 a), zurück, gerecht sei, den Freunden Gutes (siehe 332 a) und den Feinden Übles (siehe 332 b) zu tun. Bereits vorher hat Sokrates die Simonides von Kees zugeschriebene Aussage, gerecht sei, »einem jeden das zu erstatten, was man ihm schuldig ist« (331 e), nicht als reine Rückerstattung verstanden, sondern hier bereits die iustitia distributiva angedeutet: Simonides dachte nämlich, »das Gerechtsein bestehe darin, daß man einem jeden erstattet, was ihm gebührt« (332 c).
Damit ist die Gerechtigkeit immer noch nicht bestimmt. Vielmehr erfolgt durch das Gespräch mit dem Sophisten Trasymachos (siehe 336 b–354 c) eine weitere Abgrenzung, denn dieser behauptet, «das Gerechte sei nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren« (338 c). Trasymachos kritisiert die Gerechtigkeit, weil sie sich nicht auszahlt. Sie zu fordern sei folglich für einen vernünftigen Menschen lebensfremd: Das Tun der Gerechtigkeit führt also zu einer Vernachlässigung der eigenen Interessen. Allenfalls aus Schwäche oder aus Furcht vor dem Unrechtleiden, so nimmt er an, folgt man der Gerechtigkeit. Resigniert beendet Sokrates das ergebnislose Gespräch.3
An diese erste Gesprächsrunde schließen sich die Dialoge mit den Brüdern Platons Glaukon (siehe 357 a–362 c) und Adeimantos (siehe 362 d–367 e) an. Auch in diesen Dialogen wird das Wesen der Gerechtigkeit noch nicht bestimmt, aber es werden die Auswirkungen der Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit, die im Gespräch mit Trasymachos angesprochen wurden, auf höherem Niveau erörtert. Glaukon übernimmt dabei die Rolle des advocatus diaboli, um von Sokrates »die Ungerechtigkeit getadelt und die Gerechtigkeit gepriesen« (358 d) zu hören. Auf Glaukons Frage nach der Qualität der Gerechtigkeit antwortet Sokrates: Sie gehört »zu dem Schönsten, nämlich zu dem, was sowohl um seiner selbst willen wie wegen der daraus entspringenden Folgen von jedem geliebt werden muß, der glücklich werden will« (358 a). Gerechtigkeit ist damit sowohl Selbstzweck als auch ein Mittel für das wünschenswerte Glück. Diese Auffassung wird allerdings von den meisten Menschen nicht geteilt. Für sie stellt die Gerechtigkeit nur eine Konformitätsübung dar, »um belohnt zu werden und in den Augen der Umwelt gut dazustehen, an und für sich aber sollte man ihr aus dem Weg gehen, weil sie lästig ist« (358 a). Entsprechend stellt Glaukon die vertragstheoretische Sicht der Entstehung des Rechts (siehe 358 e–360 d) als gegenseitige Vermeidung des Unrechtleidens dar. Gerechtigkeit ist demnach nur ein rationaler Kompromiss, um Übel abzuwehren. Sie fällt also mit dem aktuell geltenden System des Rechts zusammen.
In einem weiteren Schritt erzählt Glaukon die Parabel vom Ring des Gyges (siehe 359 b–360 d), um zu belegen, dass niemand von sich aus gerecht handelt.4 Gerechtigkeit ist nur rationale Folge gesellschaftlichen Zwanges und nützt dem Einzelnen nicht, wie es aber die Ungerechtigkeit tut, weil der vollendet Ungerechte sogar mit seinen Taten verborgen bleibt: »Denn der Gipfel der Ungerechtigkeit ist: gerecht scheinen, ohne es zu sein« (361). Glaukon zeichnet also das Bild eines amoralischen Egoisten, der zur Durchsetzung seiner Interessen für ein für ihn günstiges soziales Klima der Tarnung sorgt.
Bevor Sokrates auf Glaukon antworten kann, spitzt Adeimantos die Aussagen seines Bruders zu: Die Dichter loben nicht die Gerechtigkeit selbst, »sondern den guten Ruf, den sie uns bringt, damit [...] dieser Schein zu Ämtern, ehelichen Verbindungen« (363 a) und weiteren Vorteilen führt. Damit knüpft Adeimantos an Glaukons Bild vom gerecht erscheinenden Ungerechten an. Auch für die Dichter und Sänger – als Autoritäten religiöser Überlieferung und der Moral – garantieren die Götter die Gerechtigkeit nicht, da sie »manchen Guten Unglück und ein elendes Leben zuteil werden [lassen], dem Entgegengesetzten aber ein entgegengesetztes Los« (364 b). So werden die Jugendlichen den Weg der Ungerechtigkeit gehen, um ein ungünstiges Schicksal durch Verschwörungen oder Gewalt zu korrigieren.5 Die Götter sind in diesem Zusammenhang keine moralischen Autoritäten, da sie »durch ›Opfer und demutsvolle Gelübde‹ und Weihgeschenke sich umstimmen lassen« (365 e). Damit braucht man nur, so das Fazit von Adeimantos, die »Ungerechtigkeit [...] mit einer erheuchelten Wohlanständigkeit zu umkleiden, um im Leben und nach dem Tode bei Göttern und Menschen« (366 b) alles zum eigenen Vorteil auszurichten. Wer dennoch an der Gerechtigkeit festhält, muss entweder zu schwach zum Unrechttun sein oder seine »gottbegnadete Naturanlage« (366 c) verschmäht Ungerechtigkeiten – oder er muss eine Erkenntnis erhalten, über die die bisherigen Redner nicht verfügen.
Gegen diese Einsprüche gegen die Gerechtigkeit muss Sokrates der Nachweis gelingen, dass die Vorteile, die sich der Ungerechte verschafft, das Glück nicht aufwiegen, das der Gerechte durch die Gerechtigkeit erfährt. Sie soll also der Ungerechtigkeit sowohl in eudaimonistischer wie in moralischer Hinsicht überlegen sein. Bevor Sokrates die angesprochenen Fragen seiner Lösung zuführt, macht er einen großen Umweg und spricht über das Gemeinwesen, weil sich an ihm die Gerechtigkeit eher als am Einzelmenschen erkennen lässt.6 Sokrates setzt hier eine Analogie von polis und Individuum voraus, nach der sich beide wechselseitig erkennen können, da sich das Gemeinwesen wie ein großer Mensch und der Mensch wie ein kleines Gemeinwesen verhalten.

1.1.2 Sokrates´ Lehre vom Gerechten

Um die Gerechtigkeit am Staat aufzuzeigen, skizziert Sokrates die Entstehungsgeschichte der politischen Gemeinschaft in drei Phasen (siehe 369 b–434 c): Mit der politeia, so wird hier vorausgesetzt, entsteht auch die Gerechtigkeit als interne Optimierung der Strukturen des Gemeinwesens. Der Urstaat, die erste Phase, entsteht aus ökonomischer Notwendigkeit zur arbeitsteiligen und effizienten Sicherstellung der menschlichen Grundbedürfnisse (Nahrung, Haus, Kleidung, Schuhe), die einer Selbstversorgung überlegen ist.7 Die erste Phase umfasst so ein Gemeinwesen von fünf Männern: Bauer, Baumeister, Weber, Schuster, Arbeiter (siehe 369 d). In der zweiten Phase expandieren die Bedürfnisse über die reine Notwendigkeit hinaus. Es entstehen neue Handwerksberufe, auch wird Handel getrieben. Kurz: es bildet sich eine üppige Stadt heraus (siehe 372 c–373 d), die zu ihrer Organisation einer Armee, Polizei, Justiz und Regierung bedarf (siehe 373 d–376 c). Die arbeitsteilige Grundversorgung des Urstaates ist damit zu einem komplexen Gemeinwesen mit einer die ökonomische Ordnung erhaltenden und regierenden Funktion geworden. Damit hat Sokrates die dritte Phase der Entwicklung des Staates erreicht und kann darlegen, wie seine Gerechtigkeitskonzeption diese Funktionen koordinieren und geeignetes Personal für die Ämter gewinnen kann.
Gerechtigkeit bedeutet nach Sokrates, »daß jeder das Eigene und Seinige hat und tut« (433 e). Schon im Urstaat wurde diese Konzeption vertreten, denn auch dort sollte jeder das tun, was seinen natürlichen Begabungen entspricht (siehe 370 cd) und eben auch nur dieses ausführen. Damit bezeichnet Gerechtigkeit ein System der Kooperation von Spezialisten. Sie beschränken sich zum Nutzen des ganzen Gemeinwesens auf ihre natürlichen Fähigkeiten. In der dritten Phase der Entwicklung des Gemeinwesens geht es nicht mehr allein um die als Bauern, Handwerker oder Kaufleute spezialisierten Bürger, sondern um die Spezialisten, die die Erhaltung des Staates zur Aufgabe haben. Das sind die Wächter, die als Soldaten, Polizisten und Regenten die Spezialisten für das Allgemeine sind, während sich die Bürger nicht um die äußere Erhaltung des Gemeinwesens kümmern.
Für die Wächter ist folglich eine anspruchsvolle Ausbildung nötig (siehe 374 e–412 b), die Sokrates ausführlich sowohl hinsichtlich ihrer Aufgabe als Sicherheitskräfte ausführt, als auch ihrer für eine politische Elite notwendigen Bildung. Eine wichtige Rolle nimmt dabei seine Kritik an Mythen und Dichtungen über Verbrechen der Götter ein, denen er seine tugendethische Konzeption der Erziehung entgegenstellt (siehe 377 b–404 d), die auf der Vorstellung eines guten, wahren, unwandelbaren und untrügerischen Gottes beruht, der selbst Ursache des Guten ist. Diese Erziehung zielt auf einen Menschen, bei dem nicht Äußeres und Inneres getrennt, sondern eine Einheit ist.8 Auch die Bereiche des täglichen Umgangs, wie Kleidung, Wohnräume oder öffentliche Plätze unterstützen durch ihre Wohlgestaltetheit das Programm der tugendhaften Erziehung (401 b–d), und zwar verstärkt durch die Musik, die mittels Tonart und Rhythmus tief in die Seele eindringt. Derart sinnlich-musikalisch vorbereitet kann die sich einstellende Vernunft den jungen Menschen zum moralischen Urteilsvermögen befähigen (siehe 401 d–402 a).
Aus der Klasse der Wächter werden besonders Befähigte als Regenten ausgewählt. Von den eigentlichen Wächtern unterscheiden sie sich durch ihre stärkere Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit.9 Damit ist das Gemeinwesen als eine Drei-Klassen-Gesellschaft bezeichnet, durch die ein großer Riss geht: Der größte Stand der Bürger – Bauern, Handwerker, Dienstleister, Arbeiter – sorgt für die materielle Reproduktion. Die Wächter sorgen als Soldaten für die Sicherheit nach außen und als Polizisten nach innen. Aus ihrem Stand werden die Regenten ausgewählt, die das Gemeinwesen leiten. Die Wächter und Regenten sind ausschließlich mit dem Allgemeinen, die Bürger aber mit ihren besonderen – durch den Beruf verkörperten – Interessen befasst.
Damit diese Konzeption der Gerechtigkeit realisiert werden kann (siehe 449 c–541 b), hat Sokrates eine Dialektik genannte Methode entwickelt, die für die Erkenntnis rechtfertigende Gründe angibt, die den Ursprung des philosophischen Wissens erreicht (siehe 533 cd).10 Die Dialektik soll eine Erklärung der Idee des Guten ermöglichen, während eine schlechte Dialektik zur Verhaftung in der falschen Meinung führt (siehe 534 c–e). Damit ist für Sokrates das Sittliche durch den (dialektischen) Allgemeinbegriff des Guten bestimmbar.
Der Lehre Sokrates' vom Gerechten, das sich als gut erweisen muss, wird deshalb eine Zwei-Welten-Doktrin zugeordnet, derzufolge neben der gegebenen Welt ein transzendentes Reich der Ideen existieren soll (siehe 475 c–480 a), in dem die Idee des Guten verortet ist. Sokrates hält grundsätzlich fest, dass die wirklichen Philosophen sich um die Wahrheit bemühen, weil ihre Einsicht die Ideenerkenntnis ist. Der Philosoph erkennt beispielsweise das Schöne selbst und verwechselt es nicht mit dem Vielen, das auch schön ist. Der Grund dafür ist, dass das Schöne Idee, eidos, ist und als solche erkannt wird. Dem Philo...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. Einleitung
  7. 1. Grundpositionen der Gerechtigkeit
  8. 2. Die Gerechtigkeitstheorien von John Rawls
  9. 3. Kontraktualismus und Gerechtigkeit
  10. 4. Gemeinschaft und Gerechtigkeit
  11. 5. Gleichheit und Gerechtigkeit
  12. 6. Freiheit und Gerechtigkeit
  13. 7. Ein gutes Leben mit Anderen und für sie in gerechten Institutionen
  14. Literaturverzeichnis
  15. Namensregister