Psychosomatische Anthropologie
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Psychosomatische Anthropologie

Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium

  1. 286 Seiten
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Psychosomatische Anthropologie

Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium

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Über dieses Buch

Medizin und Psychotherapie entwerfen mit verfeinerten diagnostischen Methoden ein immer klareres Bild vom Menschen, z. B. durch die Entschlüsselung des Genoms und durch die Untersuchung des Hirnstoffwechsels. Von welchem Menschenbild gehen die Wissenschaften aus, wenn sie den Menschen zum Gegenstand ihrer Forschung machen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen unserem zunehmenden Wissen über den Menschen und dem Unbewussten als dem Kern des Psychischen? Wo liegt der Unterschied zwischen dem Leib, der ich bin, und dem Körper, den ich habe, der vom Arzt untersucht und behandelt wird?Die 2. Auflage greift Fragen und Erfahrungen von Fachleuten und Studierenden auf und erschließt in zehn Kapiteln die zentralen Themen des Menschseins (z. B. Bindung, Angst, Leiden, Trauer) für Gesundheit, Krankheit und Therapie. Besonderer Wert wird dabei auf den Dialog zwischen Psychosomatik und der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Wesen des Menschen gelegt. Die Suche nach der Seele des Menschen wird ebenso thematisiert wie das Embodiment als aktueller Leitbegriff der Psychosomatik.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783170288744

1 Der sich bindende Mensch

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Bowlby 1970/1975: 196–205

1.1 Was ist Bindung?

Lernziel 1.1
Sie wissen, dass Bindung eine Beziehung ist, in der Sicherheit entsteht. Sie können Beispiele für Bindungsverhalten nennen.
Auf Aristoteles wird eine berühmte Definition des Menschen zurückgeführt: Er ist ein Lebewesen, das lógos hat (Sinn, Wort, Vernunft), lat.: animal rationale. Wir müssen ergänzen: ein abhängiges vernünftiges Wesen. Denn mit unserer Geschichte von Bindung und Bedürftigkeit betreten wir den Raum der philosophischen Reflexion. Wenn wir die Vorgeschichte der Kindheit vernachlässigen, dann vernachlässigen wir auch, was im weiteren Leben an Bindung und Bedürftigkeit auf uns zukommt, und dies nicht erst im hohen Alter (MacIntyre 2006).
Bindung ist ein hypothetisches Konstrukt, das sich nicht unmittelbar beobachten lässt. Hingegen ist Bindungsverhalten eine Klasse von variablen und altersabhängigen Verhaltensweisen, mit denen das Kind Bindung (wieder-)herstellt. Die Bindungstheorie bildet die Grundlage für ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das eine besondere Klasse von Beziehungen untersucht, nämlich solche, die Sicherheit vermitteln. Sie gehört gleichermaßen zur Ethologie (Verhaltensbiologie), Entwicklungspsychologie (insbesondere zur psychoanalytischen) und zur empirischen Säuglingsforschung. Bindung als Urbeziehung entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Bowlby zählt kindliche Reaktionen auf, die zu Bindungsverhalten führen, d. h. die Mutter zum Kind bringen und in seiner Nähe halten:
• Schreien und Lächeln
• Nachfolgen und Anklammern
• Saugen
• Rufen
Diese das beidseitige Bindungsverhalten auslösenden kindlichen Signale haben ihre Entsprechungen in der späteren menschlichen Entwicklung, aber auch in tierischen Äquivalenten. So können wir das Rufen als Äquivalent von Disstress-Schreien kleiner Tiere, aber auch verzweifelter menschlicher Schreie in Situationen des Verlassenseins verstehen. Weiterhin können Totstellen und Sich-Unterwerfen als desorganisiertes Bindungsverhalten verstanden und innerhalb der Human-Pathologie mit somatoformen (
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6) Lähmungen, Krämpfen oder Schmerzen in Verbindung gebracht werden.
Bowlby stellt seine Erläuterungen zum menschlichen Bindungsverhalten in den Kontext der vergleichenden Verhaltensforschung. Bei wenig entwickelten Affen geht die anklammernde Initiative ganz vom Affenbaby aus, mit fortschreitender Höherentwicklung kommt es zur »evolutionären Gleichgewichtsverschiebung von der Gesamtinitiative für die Kontakterhaltung vom Baby zur Mutter« (1970/1975: 196).
Beim Menschen entwickelt sich das Bindungsverhalten im Kontakt mit der Hauptbindungsperson (in der Regel der Mutter). Bowlby stützt sich auf Forschungen seiner Schülerin Mary Ainsworth, die später den »Fremde-Situations-Test« (
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1.4) entwickelte. Als weißhäutige Fremde in Uganda stellte sie gleichsam eine mobile Versuchsbedingung dar und besaß schon durch ihre Hautfarbe eine besondere Eignung, ein Kind zu alarmieren. Allein durch ihre Anwesenheit konstellierte sie den Unterschied zwischen dem Vertrautsein mit der primären Bindungsperson und der ungewohnten Fremden.
Das Bindungsverhaltenssystem wird als Warnsystem nur in besonderen Situationen der Unsicherheit und Angst mobilisiert. Der Unterschied zwischen Bindungssystem und Bindungsverhalten liegt also einerseits in der Beobachtbarkeit und Operationalisierung, andererseits in der Provokation durch verunsichernde Auslöser. Diese sind beginnend mit der Acht-Monats-Angst bzw. dem »Fremdeln« im Kindesalter häufiger als im späteren Leben. Dennoch manifestieren sie sich immer wieder im Verlauf der lebenslangen Entwicklung, z. B. bei Trennung und Abschied, bei der Wahl von Partnerschaft und Beruf, bei der eigenen Elternschaft bis hin zur Beziehungsgestaltung zwischen Arzt und Patienten auf der Palliativstation (Loetz et al. 2013). Wird das Bindungsverhaltenssystem mobilisiert, ist dies an den gleichen Bindungsverhaltensweisen wie in der Kindheit erkennbar oder aber in deren (mehr oder minder regressiven) erwachsenen Gestaltungen bzw. in den verschiedenen neurotischen Abschattungen. Beispiele für Letzteres sind die »sichernden« Verhaltensweisen und Gedanken des zwangsneurotischen oder die Krisen des angstneurotischen Menschen (
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5.6). Die Ausbildung einer stabilen Bindungsbeziehung ist eine wichtige Voraussetzung für zentrale Entwicklungsaufgaben, etwa für den Umgang mit dem Alleinsein.
Bindungsverhalten entwickelt sich Bowlby zufolge allmählich und »früher, stärker und durchgängiger« der Mutter gegenüber als dem Vater oder anderen Bezugspersonen gegenüber. Dabei ist mit sozio-kulturellen Überformungen durch die Geschlechterrollen zu rechnen, die Bowlby in Bezug auf die westlichen Industriegesellschaften ausdrücklich einräumt. Bowlby betont neben der Verantwortung der Pflegeperson die aktive Rolle des Babys im Ergreifen der Initiative zur Interaktion. Das Kind erfasst zunehmend das bevorstehende Weggehen, sodass viele Bezugspersonen zu einer »List« greifen, um ihr Weggehen zu »vertuschen«. Nach dem dritten Geburtstag werden fremde Umgebungen und untergeordnete Bindungsfiguren besser toleriert.
Das Bindungsverhalten tritt allmählich zugunsten der Zugehörigkeit zu einer Familie, Gruppe oder Gemeinschaft in den Hintergrund oder macht anderen Motivationssystemen Platz, nämlich den Bedürfnissen nach psychischer Regulierung physiologischer Erfordernisse (z. B. durch kulturelle Gestaltung von Mahlzeiten), nach Exploration und Selbstbehauptung, nach aversivem Reagieren (Antagonismus oder Rückzug), nach sinnlichem Genuss und sexueller Erregung. Das Bindungsverhaltenssystem kann jedoch jederzeit, auch im Erwachsenenalter, in Not, Gefahr, Krise, Unglücksfällen, z. B. bei schwerer Krankheit (
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7) oder Traumatisierung (
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5.9), mobilisiert werden.
Neben der entwicklungspsychologischen Perspektive gibt es auch eine evolutionsbiologische Sicht auf die Bindung. Schon Darwin postulierte, dass prosoziale Verhaltensweisen einen evolutionären Vorteil darstellen. Dieser evolutionsbiologische Gesichtspunkt wird deutlich am Vergleich von Gehirnen verschiedener Tierarten. Die Evolution des Gehirns kann schematisch in den Stufen Reptilienhirn – Altsäugerhirn – Neusäugerhirn beschrieben werden. Das Gehirn der frühen Säugetiere (Insektenfresser und Nagetiere) legt sich um das Reptiliengehirn (Hirnstamm und primitive Basalganglien). Der Neocortex (Großhirnrinde des Menschen und der Primaten) »stülpt« sich um die beiden älteren Gehirne, die jedoch gleichzeitig wirksam bleiben: Im Reptiliengehirn können reflektorische, viszerale und vegetative Prozesse lokalisiert werden. Für den Übergang von den Reptilien zu den frühen Säugern sind charakteristisch: Brutpflege, Disstress-Rufe, Mütterlichkeit und Bindung sowie Spiel. Im folgenden Exkurs geht es um die Neurobiologie des menschlichen Bindungssystems.
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Grossmann & Grossmann (2012)

1.2 Neurobiologie der Bindung1

Lernziel 1.2
Sie entwickeln eine Vorstellung davon, welche Prozesse im Gehirn für die Bindung relevant sind.
Die Nähe-/Distanz-Regulierung innerhalb aller nahen Beziehungen findet vor allem über Gefühle statt. Beziehungserleben induziert spontane Gefühle, die sich u. a. in neuronalen und neurochemischen Prozessen abbilden. Durch Veränderungen in Regelkreisen, die primär der Verarbeitung von Emotionen dienen (z. B. das limbische System), können wiederum andere primär somatische Regelkreise angestoßen werden, z. B. unter Beteiligung des Hypothalamus (»Stresshormone«) und verschiedener Hirnstammareale (sympathische Kerne); diese können ihrerseits wieder eine Kaskade weiterlaufender biologischer Prozesse initiieren. Diese Prozesse können sich in körperlichen Symptomen und Krankheiten äußern. Ohnehin ist der gesamte Körper als Quasi-»Resonanzboden« unserer Emotionalität immer bei der Entstehung und Wahrnehmung unserer Emotionen beteiligt. Gefühle sind immer auch »peripher-körperlich«.
Panksepp geht von der These aus, dass den Gefühlen evolutionär bedingte neuronale Mechanismen zugrunde liegen. Diese neuronalen Netzwerke/Mechanismen haben ihre je eigenen, intrinsischen Gesetzmäßigkeiten und Organisationsstrukturen. Nach Panksepp waren es vor allem äußerliche, von der Umwelt ausgehende Herausforderungen und Gefahren, denen sich unsere Vorfahren ausgesetzt sahen. Jene Umweltreize generierten sehr spezifische Modifikationen des Nervensystems und eine sog. »Selektion« eines als basal aufzufassenden »Emotiven Organsystems« (engl. »emotion organ system«). Panksepp zufolge existieren vier basale emotionale Netzwerke, welche er als SEEKING, RAGE, FEAR, PANIC (
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Tab. 1.1) bezeichnet. Zusätzlich beschreibt er die sozial-fördernden Emotionen LUST, CARE, PLAY und ihre neuronalen Korrelate.
Tab. 1.1: Affektsysteme des Säugetiergehirns (Panksepp 1998/2005): VTA ventrales tegmentales Areal, PAG periaquäduktales Grau, HT Hypothalamus, BNST Bettnukleus der Stria terminalis
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Die »heiße« Aggression (Ärger-Wut) gehört zum RAGE-System (zur »kalten« Aggression
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3.2). Sie hat einen Wahrneh...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Statt eines Vorworts: Ein Gespräch zwischen Eckhard Frick und Harald Gündel
  6. Gebrauchsanleitung
  7. 1 Der sich bindende Mensch
  8. 2 Der Zeichen verstehende Mensch
  9. 3 Der träumende Mensch
  10. 4 Der spielende Mensch
  11. 5 Der sich ängstigende Mensch
  12. 6 Der Körper, den ich habe. Der Leib, der ich bin
  13. 7 Der leidende Mensch
  14. 8 Der schuldige Mensch
  15. 9 Der trauernde Mensch
  16. 10 Der lebende Mensch
  17. Nachwort: Was ist aus der Frage nach dem Menschen geworden?
  18. Literatur
  19. Stichwortverzeichnis
  20. Personenregister