1 Motivation
Was treibt den Menschen an? Eine Wissenschaft, die die menschliche Psyche zu erklären versucht, muss mit Hilfe ihrer Theorien sicherlich auch Antworten auf diese Frage liefern, um ein umfassendes Verständnis vom Menschen geben zu können. In den Wissenschaften der Psychologie und der Psychoanalyse wird diese Frage in ihren Motivationstheorien berücksichtigt. In diesem Kapitel stellen wir die Antwortversuche der aktuellen psychologischen und psychoanalytischen Theorien bezüglich dieser vermeintlich einfachen Frage vor und ordnen sie in ihren jeweiligen wissenschaftsspezifischen historischen Kontext ein.
Wir beginnen mit einer Darstellung der Herangehensweise der Psychologie an diese Frage und stellen knapp die historische Entwicklung der psychologischen Motivationstheorien dar. Dabei zeigt sich, dass die Psychologie zunächst einen Fokus auf angeborene, körperlich verankerte Systeme hatte, die sie als »Instinkte« oder »Triebe« bezeichnete. Noch im
Behaviorismus, also Mitte des 20. Jahrhunderts, war innerhalb der Psychologie die Auffassung populär, dass sich der Antrieb mit Hilfe einer einzigen Kraft, einem »general drive«, erklären ließe, die dem Organismus seine Energie liefere. Mit der
kognitiven Wende änderten sich jedoch die psychologischen Theorien, sodass nun die Frage nach dem Antrieb eines Menschen durch seine »zukünftigen Ziele« und »persönlichen Motive« beantwortet wurde, die durch einen bestimmten »Anreiz« in der Umwelt aktiviert würden. Diese Herangehensweise dominiert bis heute die Motivationstheorien der Psychologie (
Kap. 1.1.1). Demgegenüber hat das deutsche Forscherehepaar, Doris Bischof-Köhler und Norbert Bischof, eine ausführliche Motivationstheorie ausgearbeitet, die nicht in der kognitivistischen Tradition steht. Da ihr »Zürcher Modell sozialer Motivation« innerhalb der modernen Psychoanalyse ausführlich diskutiert worden ist, behandeln wir es gesondert von den anderen Motivationstheorien der Psychologie (
Kap. 1.1.2).
In einem kurzen Exkurs wird anschließend das Modell der affektiven Instinkte von Jaak Pankepp, dem Begründer der Affektiven Neurowissenschaften, vorgestellt. Ähnlich wie das »Zürcher Modell« kritisiert auch Panksepp den kognitiven »Mainstream«, der den Menschen – verkürzt gesprochen – vom Kopf her denkt. Er konzentriert sich stattdessen auf die Erforschung von evolutionär geprägten Instinktsystemen, die wir aus dem Tierreich geerbt haben.
In der Psychoanalyse war Motivationstheorie lange Zeit gleichbedeutend mit Triebtheorie. Sigmund Freud konzeptualisierte Triebe als aus dem Körper in die Psyche drängende Kräfte und machte die um dieses Verständnis herum aufgebaute Triebtheorie zum Kernelement der Psychoanalyse (
Kap. 1.3.1). Nach ihm wurde die psychoanalytische Motivationstheorie jedoch zunehmend um weitere Elemente erweitert. Ausgehend von der Frage, wie »Triebe« in Abgrenzung zu »Instinkten« zu denken seien wurden weitere Motive in die psychoanalytische Konzeptualisierung integriert: In der aktuellen Psychoanalyse wird beispielsweise von einem primären angeborenen Bindungssystem ausgegangen und werden Grundmotive zur Selbstwertregulierung bzw. Identitätsbildung angenommen (
Kap. 1.3.2). Für die klinische Praxis nutzbar gemacht wurden diese neueren psychoanalytischen Motivationstheorien besonders vom
Arbeitskreis OPD, der mit der »Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik« ein Instrument entwickelte, mit der sich die jeweiligen Grundmotive und ihre Bewältigung durch den Patienten diagnostizieren lassen (
Kap. 1.3.3).
Aus aktuellen Ansätzen der KVT sticht hinsichtlich einer motivationspsychologischen Fundierung die
Konsistenztheorie hervor, die von Klaus Grawe und seinem Forschungsteam entwickelt worden ist. Auf der Grundlage ihrer Theorie wurden motivationale Aspekte, operationalisiert als per Selbstauskunft berichtete Ziele, im klinischen Kontext untersucht (
Kap. 1.1). Demgegenüber wird in der Psychoanalyse Motivation als Ausdruck unbewusster Motivkonflikte verstanden, und es wurden mit Hilfe der OPD-Konfliktachse Zusammenhänge mit psychopathologischen Syndromen aufgezeigt. Wir stellen diese psychoanalytischen Forschungsergebnisse bezüglich motivationaler Prozesse dar (
Kap. 1.4.2) und diskutieren Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit der psychologischen Forschungsmethodik (
Kap. 1.3).
1.1 Psychologische Motivationstheorien
Einführung
Ausgehend von den frühen Instinkt- und Triebtheorien der Psychologie, die Motivation durch das »Drängen« innerer Kräfte beschreiben, legen wir den Schwerpunkt auf die aktuellen Theorien, in denen Verhalten mit Hilfe von Zielzuständen und äußeren Anreizen erklärt wird. Weil es sich hier um ein Buch mit psychoanalytischem Schwerpunkt handelt, kann an dieser Stelle nicht ausführlicher auf die Geschichte der Motivationspsychologie eingegangen werden (siehe dazu besonders Rheinberg & Vollmeyer 2012). Es werden die Theorien zu verschiedenen Anreiztypen dargestellt und mit der Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation verglichen. Mit dem Zürcher Modell stellen wir einen Ansatz der aktuellen Psychologie vor, der ein starkes Gewicht auf den Einbezug ethologischer Erkenntnisse legt und damit die phylogenetische Abstammung des Menschen auf der grundlegendsten Ebene der Psyche berücksichtigt.
Lernziele
• Einen Eindruck bekommen, wie sich die psychologischen Motivationstheorien seit ihren Anfängen bis heute weiterentwickelt haben
• Das Erbe der kognitiven Wende in den Theorien zu Zielen und Anreizen erkennen, die in der aktuellen Psychologie vorherrschen
• Demgegenüber mit dem »Zürcher Modell« eine Motivationstheorie kennenlernen, die einen grundsätzlich anderen Ansatz zur Grundlage hat
• Kritisches Hinterfragen, ob Motivationstheorien nur den Menschen erklären oder das Erbe des Menschen aus dem Tierreich berücksichtigen sollten
• Reflexion darüber ermöglichen, inwiefern psychologische Motivationstheorien für die aktuelle Psychoanalyse interessant sein können
1.1.1 Allgemeine Motivationstheorien
Die Motivationspsychologie beschäftigt sich damit, »Richtung, Ausdauer und Intensität von Verhalten zu erklären«. Insbesondere wird versucht, »angestrebte Zielzustände und das, was sie attraktiv macht«, zu erklären (Rheinberg & Vollmeyer 2012, S. 13). DeCharmes (1979) bezeichnet Motivation als »so etwas wie eine milde Form der Besessenheit« (zitiert nach Rheinberg 2006), da sich Motivation im Erleben häufig in Form von »Angezogensein«, Wollen, »Gedrängtsein«, Verlangen, Spannung etc. abbildet.
Definition Motivation
Motivation ist »die aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zustand« (Rheinberg & Vollmeyer 2012, S. 16).
Motivation kann niemals direkt beobachtet, sondern immer nur erschlossen werden: Motivation ist somit ein hypothetisches Konstrukt, eine Abstraktion. Schneider und Schmalt (2000) konstatieren: »Motive, die wir als überdauernde Verhaltens- und Bewertungsdispositionen auffassen, können wir beim derzeitigen Stand der Forschung nur als hypothetische Konstrukte verstehen – gedachte Wirkgrößen also, deren Erfindung notwendig erschien, um die beobachteten Stabilitäten, aber auch die vorhandenen interindividuellen Unterschiede zu erklären« (ebd. S. 23). Dementsprechend herrscht (nicht nur innerhalb der klinischen Theorien) ein relatives Begriffswirrwar bezüglich der Termini Triebe, Motive, Bedürfnisse, Wünsche, Ziele etc. vor. Somit ist die Begriffsverwendung häufig sehr unscharf, und so unterschiedliche Phänomene wie die »des Hungers und Durstes, der Ängstlichkeit, der Neugier und der Sexualmotivation, aber auch des Leistungs-, Anschluss- und Machtstrebens« werden als »Motivsysteme« bezeichnet (ebd., S. 14).
Grundsätzlich können Motivationsmodelle grob danach unterschieden werden, ob sie motiviertes Verhalten als eher von innen angetrieben oder eher als von etwas angezogen betrachten. Instinkt- und Triebtheorien werden der ersten Kategorie zugeordnet: Es wird meist, zumal bei Trieben, davon ausgegangen, dass sich über die Zeit Spannungen aufbauen, die nach befriedigender Entladung verlangen bzw. – im Falle von Mangelzuständen wie Hunger oder Durst, die mit unlustvollen Empfindungen einhergehen – zu appetitiven Handlungen drängen, um den unlustvollen Spannungszustand zu beseitigen. All diese Theorien verbindet die Herangehensweise, in der Motivation die grundlegende Ebene der Psyche zu sehen und sie aus körperlichen Prozessen herzuleiten.
Bischof (2009) nennt für diese Kategorie psychologischer Motivationstheorien Beispiele aus dem Behaviorismus (Hull) und der Psychoanalyse (Freud): In beiden Theorien wurde in ihren klassischen Ausgestaltungen die menschliche Motivation auf eine psychische Energie zurückgeführt. Hull nannte diese eine, sämtlicher Motivation zugrunde liegende Triebkraft general drive (D), welche sich in seinem Verständnis aus körperlichen Bedürfnissen speist. Dieser Trieb D beeinflusst gemeinsam mit erlernten Reaktionen auf bestimmte Reize, die Hull als »Gewohnheitsstärke« bezeichnet, das menschliche Verhalten. Der Trieb energetisiert das Verhalten, und die Gewohnheitsstärke gibt ihm die Richtung. Die behaviorale Triebtheorie von C. L. Hull wird beispielsweise in Rudolph (2003) sowie in Heckhausen & Heckhausen (2010a) näher erklärt.
Auch die Psychoanalyse geht in ihrer klassischen Triebtheorie von einer psychischen Energie aus, die allen motivationalen Prozessen zugrunde liegt. Freud unterschied in seinen verschiedenen Versionen der Triebtheorie jedoch immer zwischen zwei unterschiedlichen Triebkräften; in seiner letzten und bekanntesten Triebtheorie unterschied er Eros und Todestrieb voneinander. Wir werden in Kapitel 1.2.1 ausführlich auf Freuds Triebtheorien eingehen.
Eine weitere Gruppe von Theorien, die motivationale Prozesse auf eine psychische Energie zurückführt, sieht Bischof (2009) in einer neurophysiologischen Entdeckung begründet: Mit der Entdeckung der
formatio reticularis durch Moruzzi und Magoun (1949), einer Region im Hirnstamm, sind neurophysiologische Prozesse des
aufsteigenden retikulären Aktivierungssystems (ARAS) als »allgemeine Kraftquelle für das zentrale Nervensystem« (Bischof 2009, S. 226) in den Fokus gerückt. Solche Theorien gehen von einer unspezifischen
Erregung oder
Aktivation aus, die erst nachträglich aufgrund einer Bewertung in spezifische Motivationshandlungen überführt werde. Die berühmteste Theorie dieser Kategorie wurde von Schachter und Singer entwickelt (
Kap. 2.1). Auch aktuelle Motivationstheorien der Affektiven Neurowissenschaften
heben die Bedeutung der Regionen des ARAS hervor. Da im Hirnstamm besonders Informationen aus inneren Körperprozessen verarbeitet werden, gilt auch für diese Theorien, dass das Psychische aus dem Körperlichen hergeleitet wird (vgl. Panksepp & Biven, 2012; Solms & Panksepp, 2012). In der aktuellen Motivationspsychologie spielen diese Trieb- und Instinkttheorien eine eher untergeordnete Rolle. Sie beschäftigt sich stattdessen fast ausschließlich mit Modellen der zweiten Kategorie: Es wird nach dem
zukünftigen Zielzustand, den eine Person herbeiführen möchte, gefragt.
Motive werden hier im Sinne der Ziele als
überdauernde Vorlieben einer Person verstanden. Die Motivationspsychologie fragt dazu einerseits nach Ober-Kategorien unterschiedlicher Zielzustände (Motivlisten). Diesbezüglich sind »schon die verschiedensten Aufstellungen und Klassifikationen von Motiven vorgestellt worden. Solche Listen muten häufig willkürlich an« (Schneider & Schmalt 2000, S. 23). Andererseits wird danach gefragt, was diese Zielzustände überhaupt so anziehend macht, welchen
Anreiz die Zielzustände für eine Person haben.
Hierfür geht die aktuelle Motivationspsychologie in wesentlichen Aspekten auf Kurt Lewin (1931; 1951) zurück. Ein Aspekt in Lewins Feldtheorie stellt bis heute die wesentliche Grundannahme der Motivationspsychologie dar: seine universelle Verhaltensgleichung. Lewin ging davon aus, dass weder Faktoren der Person (Triebe, Bedürfnisse) noch der Umwelt (situative Reize, Zwänge) jeweils allein das Verhalten hinreichend erklären können. Verhalten ist demnach immer eine Funktion aus Person- und Umweltfaktoren – eine Position, die seitdem grundlegend für die Motivationspsychologie ist (vgl. Rheinberg & Vollmeyer 2012).
Ausgehend von Lewins universeller Verhaltensgleichung füllte die Motivationspsychologie die Personenvariable mit konkreten Motiven. Wenn es um die Inhalte der Motive geht, so bezieht sich die gesamte Motivationspsychologie mehr oder weniger stark auf Murray (1938). Murray postulierte neben den primären physiologischen Bedürfnissen wie Hunger und Durst weitere sekundäre Bedürfnisse (needs), die erst im Verlauf der Ontogenese erworben werd...