VIII Aristotelische Interpretationen zum Traktat De passionibus animae (Summa theologiae Ia IIae q.22-48) des Thomas von Aquin
Der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Affekt (Emotion, Neigung, Gefühl) kann keine Moralphilosophie sich entziehen. Dabei geht es keineswegs lediglich um ein moralpsychologisches Problem; vielmehr fallen hier grundlegende epistemologische Entscheidungen, und der Begriff der praktischen Vernunft selbst kann nicht ohne Aussage über das Verhältnis von Vernunft und Affekt bestimmt werden. Ist praktische Vernunft lediglich ein zweckrationales Vermögen im Dienst der nichtvernünftigen Affekte? Besteht die Aufgabe der praktischen Vernunft darin, die nichtvernünftigen Neigungen einzuschränken? Sind Vernunft- und Affektvermögen adäquat voneinander unterschieden, oder sind sie in ihren Funktionen wechselseitig aufeinander verwiesen?
Die Lösung des Aristoteles ist zusammengefasst in seiner These, dass ethische Tugend und praktische Erkenntnis sich wechselseitig bedingen: Die Phronesis, d.i die Verfassung des praktischen Vernunftvermögens, die zur Erkenntnis der praktischen Wahrheit, des hier und jetzt Richtigen, befähigt, ist ohne ethische Tugend nicht möglich, und der Begriff der ethischen Tugend setzt wiederum den des Affekts voraus: Ethische Tugend ist die gute Verfassung des affektiven Vermögens. Die Prima secundae folgt dieser Logik, indem sie den Quästionen über die Tugenden einen Traktat über die passiones animae voranstellt (I II 22-48).
Aufgabe der folgenden Seiten ist eine Interpretation dieses Traktats, die vor allem mit der Methode des Vergleichs arbeitet. Die aristotelischen Voraussetzungen sollen, soweit sie dem Verständnis des Thomastextes dienen, verdeutlicht werden; anhand sachlich relevanter Beispiele soll gezeigt werden, wie Thomas den Aristotelestext interpretiert; die Architektur des neuen Gebäudes, das Thomas aus aristotelischen Bausteinen schafft, soll umrissen werden. Die Interpetationen sollen, wenn auch nur als vorbereitender und vielfach zu ergänzender Schritt, einem sachlichen Anliegen dienen: Was können wir heute aus den Ausführungen des Thomas über das Verhältnis von Affekt und praktischer Vernunft für die Grundlegung einer kognitiven materialen Ethik lernen?
1. Dialektik und Wissenschaft
In De an.I 1,403a24-b9 unterscheidet Aristoteles am Beispiel des Zornes zwischen einer dialektischen und einer wissenschaftlichen Definition der Affekte. Die dialektische Definition gibt das alltägliche Verständnis und den allgemeinen Sprachgebrauch wieder.1 Eine Zusammenstellung von dialektischen Definitionen der Affekte, auf die Thomas immer wieder zurückgreift, bringt das zweite Buch der Rhetorik; das Beispiel in De anima „Streben nach Gegenkränkung“ (403a30f.) kann als Kurzfassung der Definition in Rhet.II 2,1378a30-32 gelesen werden. Die Definition des Wissenschaftlers (physikos) lautet: „Zorn ist eine Bewegung eines so beschaffenen Körpers oder eines Teils oder Vermögens von ihm, von dem und dem verursacht und zu dem und dem Zweck“ (403a26f.). Sie arbeitet mit ontologischen Begriffen: Bewegung (kinêsis), Vermögen (dynamis) und der Unterscheidung zwischen Wirk- und Zielursache.
Werfen wir, bevor wir uns Thomas zuwenden, einen kurzen Blick auf das Vorgehen des Aristoteles in der Nikomachischen Ethik. Der Politiker, so lautet die grundsätzliche Bemerkung, müsse etwas über die Seele wissen, aber wie weit diese Kenntnisse zu gehen haben, bemesse sich am praktischen Zweck der politischen Wissenschaft; zu große Genauigkeit wird als überflüssiger Aufwand abgelehnt. Die Unterscheidung zwischen einem vernünftigen und einem nichtvernünftigen Seelenvermögen, auf welcher die Unterscheidung zwischen den dianoetischen und ethischen Tugenden beruht, wird aus Schriften übernommen, die sich an einen weiteren Kreis richten; die Frage, ob es sich dabei um räumlich verschiedene Teile oder nur um eine begriffliche Unterscheidung handelt, wird als für die vorliegende Untersuchung nicht relevant abgetan (EN I 13,1102a18-32). Dennoch handelt es sich nicht um eine dialektische, sondern um eine, wenn auch auf das Notwendigste beschränkte wissenschaftliche Darstellung. Das wird nicht zuletzt deutlich aus EN II 4, wo Aristoteles sagt, was er unter Affekten (pathê) versteht. Hier finden wir die ontologischen Begriffe Vermögen (dynamis), Verfassung oder Eigenschaft (hexis) und Affektion (pathos)2, wenn auch die Beispiele, anhand deren sie erläutert werden, ausschließlich dem ethischen Bereich entnommen sind. Was Aristoteles unter den ethischen Affektionen versteht, erläutert er durch eine Liste von elf Beispielen und eine (für das Verständnis des Thomas wichtige) äußerst allgemein gehaltene Charakterisierung: „Unter Affekten verstehe ich Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Missgunst, Mitleid, allgemein alles, was von Lust oder Schmerz begleitet wird“ (1105b21-23).
Bereits der erste Artikel des Traktats lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass Thomas das Thema Affekte nicht dialektisch, sondern wissenschaftlich behandeln will, und zwar ohne die Einschränkungen, die Aristoteles sich in der Nikomachischen Ethik auferlegt. Der ontologische Begriff der passio wird mit Hilfe von Unterscheidungen aus De an.II 5,417b2-16 differenziert. Gesichtspunkt der ersten Unterscheidung ist, ob das Erleiden (pati) mit dem Verlust einer Eigenschaft verbunden ist. Das ist nicht der Fall, wenn ein Mensch, der eine Wissenschaft gelernt hat, jetzt von ihr Gebrauch macht und über ein Problem nachdenkt, oder wenn ein Lebewesen, das sehen kann, tatsächlich sieht. Ein solches Erleiden ist keine Veränderung, denn es tritt nicht eine Bestimmung an die Stelle einer anderen; sie ist vielmehr die Vollendung des Vermögens durch dessen Tätigkeit. Jeder Übergang eines mentalen Könnens zu seiner Betätigung ist ein Erleiden in diesem Sinn, und Thomas verweist auf De an.III 4,429b25, wo Aristoteles das Denken (noein) als ein Erleiden bezeichnet. Beim Erleiden als Veränderung unterscheidet der Artikel zwei Möglichkeiten (vgl. De an.II 5,417b14-16): Ein Träger verliert eine Eigenschaft, die für ihn schädlich ist; so ist die Gesundung ein Erleiden; oder umgekehrt: eine zuträgliche Eigenschaft wird verloren und eine schädliche tritt an deren Stelle.
Die Frage, in welchem Seelenteil die Affekte sich finden, wird von Aristoteles nicht eigens erörtert. EN II 4, wo der Begriff des Affekts eingeführt wird, geht davon aus, dass es „in der Seele drei Dinge gibt: Affekte, Vermögen, Eigenschaften (hexeis)“ (1105b20). Was hier unter ‚Seele‘ zu verstehen ist, wird nicht weiter ausgeführt; lediglich aus dem Zusammenhang lässt sich erschließen, dass der strebende Seelenteil (1102b30) gemeint ist. Thomas (22,2) geht aus von der Zweiteilung zwischen dem erstrebenden (appetitiva) und dem erfassenden (apprehensiva) Seelenteil. Aristoteles führt sie zurück auf die beiden hervorstechendsten Merkmale, durch welche die Lebewesen sich gegenüber dem Unbeseelten und den Pflanzen auszeichnen: die Wahrnehmung im weitesten Sinn und die Fortbewegung3; es handelt sich also um eine unabhängig von jeder philosophischen Psychologie allgemein angenommene Unterscheidung. Thomas zeigt durch eine ontologische Analyse, dass ein Erleiden (passio) sich mehr im erstrebenden als im erfassenden Seelenteil findet; wiederum wird deutlich, dass es ihm um eine auf letzte Prinzipien zurückgreifende wissenschaftliche Darstellung geht.
Der entscheidende Schritt lautet: „Im Wort ‚Leiden‘ ist ausgedrückt, dass das Leidende zu dem gezogen wird, was des Wirkenden ist. Die Seele wird aber mehr durch die strebende Kraft als durch die erfassende Kraft zur Sache gezogen.“4 Im Hintergrund des Obersatzes steht die Analyse von Tun (poiein) und Erleiden (paschein) in De gen.corr.I 7. Dort werden Gründe für die Tatsache angeführt, dass das Tätige sich das Erleidende angleicht und das Erleidende sich in das Tätige verändert (324a5-15). Aristoteles sieht eine Entsprechung zwischen Tun und Erleiden und Bewegen und Bewegtwerden: wie es ein unbewegt Bewegendes und ein bewegt Bewegendes gibt, so gibt es ein Tätiges, das selbst nichts erleidet, und ein Tätiges, das seinerseits etwas erleidet (324a24-34); sie klingt bei Thomas in der Metapher des Ziehens an; die ziehende Sache ist das unbewegt Bewegende. Für den Untersatz beruft Thomas sich auf Met.VI 4,1027b25-27: Das Gute und Schlechte, die Objekt des erstrebenden Vermögens sind, sind „in den Dingen“ (b26) – Thomas fügt unterstreichend hinzu „wie sie in sich selbst sind“ –, während das Wahre und das Falsche „im Denken“ (b26) sind. Die erfassende Kraft wird also nicht zur Sache gezogen, wie sie in sich selbst ist, sondern sie bezieht sich auf das intentionale Sein der Sache, das sie in sich hat.
2. Die Unterteilung des sinnlichen Strebevermögens
Thomas unterteilt das sinnliche Streben in das iraszible (irascibilis) und das begehrende (concupiscibilis) Vermögen (I 81,2); entsprechend gliedert er die Affekte in zwei Arten. Diese Unterscheidung ist nicht unumstritten; sie wurde u.a. von Suarez angegriffen, der die Einheit des sinnlichen Strebevermögens vertrat5. Es ist daher zu fragen, wie Thomas sie begründet. Ich skizziere zunächst die beiden antiken Positionen, von denen Thomas ausgeht, um auf diesem Hintergrund die Eigenart seiner Argumentation herauszuarbeiten.
2.1 Die Gesichtspunkte der Unterscheidung bei Platon und Aristoteles
Im vierten Buch der Politeia (435b4-441c3) zeigt Platon, dass es sich bei Begierde (epithymia) und Zorn (thymos) um zwei verschiedene Vermögen handelt. Der Beweis wird mit Hilfe des Nichtwiderspruchprinzips geführt. Die Strebungen des Zorn können denen der Begierde widersprechen; es ist aber nicht möglich, dass dasselbe zugleich und unter derselben Rücksicht dasselbe erstrebt und nicht erstrebt; also sind Begierde und Zorn zwei verschiedene Vermögen. Was sie in ihrem Wesen unterscheidet ist erstens ein unterschiedliches Verhältnis zur Vernunft und zweitens ein unterschiedlicher Bereich von Gütern, auf den sie sich beziehen. Die Begierde ist vernunftlos (439d7f.); ihr Gegenstandsbereich sind die auf Ernährung und Zeugung bezogenen Lustempfindungen (436a11f.; 437b7; 442a7f.). Dagegen ist der Zorn ein „Mitkämpfer“ der Vernunft (440b3); in einem Streit zwischen Vernunft und Begierde stellt er sich auf die Seite der Vernunft (440e4f.), wenn er auch nicht wie die Vernunft imstande ist zu überlegen (441c1f.). Das Gut, um das es dem Zorn geht, ist die Gerechtigkeit; der Zorn regt sich, wenn wir glauben, dass wir selbst Unrecht erlitten haben (440c1-d3). Das Verhältnis zur Vernunft ist genauer bestimmt in den Ausführungen über die Tapferkeit, die Tugend des zornmütigen Seelenteils. Dort wird dem Stand der Wächter, der in der Polis dem zornmütigen Teil in der Seele entspricht, als Vorstellung die richtige Meinung (doxa) zugewiesen (429c1; 430b2); der Zorn ist also nicht von der Vernunft, aber auch nicht wie die Begierde von der Empfindung, sondern von der Meinung geleitet.
Die platonische Unterscheidung begegnet uns bei Aristoteles an verschiedenen Stellen, auf die Thomas sich beruft, z.B. Top.II 7,113b1-3; Top.IV 5,126a8-13; De an.III 9,432b5-7. Am ausführlichsten ist EN VII 7,1149a25-b1. Wie bei Platon sind Zorn und Begierde durch ihr jeweiliges Verhältnis zum Logos charakterisiert. Die Begierde folgt nicht dem Logos; ihr Gegenstand ist vielmehr das Angenehme. Dagegen folgt der Zorn in gewisser Weise dem Logos; er hört auf den Logos, aber er hört nicht richtig. Das Übel, gegen das er sich richtet, ist die Beleidigung oder Verachtung. Dem Zorn wird ein Normbewusstsein zugeschrieben: Er urteilt, wenn auch voreilig, dass er dieses Übel bekämpfen müsse.
Im Unterschied zu diesen Stellen kennt die Psychologie von EN I 13 nur ein nichtvernünftiges Vermögen. Die Einführung des Begriffs der Affekte in EN II 4,1105b21-23 kennt keine verschiedenen Arten von Affekten; vielmehr stehen Begierde und Zorn (orgê) nebeneinander, und sie werden unterschiedslos unter die allgemeine Charakterisierung „was von Lust oder Schmerz begleitet wird“ subsumiert. Die Position, die Aristoteles hier vertritt, lässt sich folgendermaßen verständlich machen: Wir müssen unterscheiden zwischen dem Erleiden des Strebevermögens und der Vorstellung, welche dieses Erleiden auslöst. Die platonische Zweiteilung beruft sich auf den Unterschied der auslösenden Vorstellung bzw. des Vorstellungsvermögen, Wahrnehmung oder (propositionale) Meinung. Dagegen würde Aristoteles argumentieren: Der Unterschied der auslösenden Vorstellung begründet keinen Unterschied des erleidenden Vermögens; das Erleiden ist, unabhängig von der Art der auslösenden Vorstellung, jewei...