II Ein Leitfaden zur Problemanalyse und Planung des therapeutischen Veränderungsprozesses
Wir setzen mit den Ausführungen zu unserem Prozessmodell bei der Situation ein, die im allgemeinen Verständnis als üblicher Ausgangspunkt klinisch-psychologischer Tätigkeit gilt: Eine Person, die sich in psychischer, gesundheitlicher oder sozialer Hinsicht beeinträchtigt sieht bzw. von anderen so wahrgenommen wird, sucht einen professionellen Therapeuten oder eine Institution der psychosozialen oder psychiatrischen Versorgung auf oder wird dorthin geschickt, um Unterstützung und Beratung für ihre Probleme zu erhalten. Von den Betroffenen werden Probleme und Symptome in der Regel zunächst als rein individuelle angesehen; nur selten kommen gleich von vornherein mehrere Personen zusammen zur Beratung, etwa Partner oder Familien, die ein Problem als gemeinsames erkannt haben.
Die folgenden Darstellungen beziehen sich aus Gründen der Übersichtlichkeit und Klarheit der Strukturierung weitgehend auf die erstgenannte Variante klinisch-psychologischer Praxis.
Um zu erläutern, in welcher Weise die einzelnen Prozessschritte im Rahmen einer Psychotherapie oder Beratung inhaltlich gestaltet und wie sie in ihrer zeitlichen Abfolge aufeinander bezogen werden können, gehen wir von der Standardsituation einer ambulanten Psychotherapie aus.
Wir legen zunächst 25 bis 30 Sitzungen als Rahmen für die therapeutische Arbeit zugrunde. In dieser Zeit können erfahrungsgemäß abgegrenzte psychische Störungen oder wenige ausgewählte Problembereiche therapeutisch bearbeitet werden. Dies setzt ein stringentes, systematisches und zielorientiertes Planen und Handeln voraus, einschließlich der Bereitschaft, sich gemeinsam auf das Wesentliche und das Machbare zu konzentrieren. Dies mag bei Störungen von größerem Komplexitäts- und Schweregrad zunächst unrealistisch erscheinen; unsere Vorgabe impliziert auch nicht den Anspruch, solche Störungen innerhalb von 25 Sitzungen behoben zu haben. Indizierte Langzeit- bzw. Verlängerungsanträge sollten jedoch nicht zu der Praxis verleiten, den Prozess innerhalb der einzelnen Phasen – vor allem zu Beginn – über Gebühr aufzublähen. Auch und gerade bei schwierigen und diffusen Problemen gilt es, sich zu bescheiden, Teilprobleme einzugrenzen und diese voranzubringen, um durch zeitige Erfolge die Veränderungsmotivation zu stärken. Der modellhafte
Therapieverlaufsplan (
Abb. 3) wird hier einer ausführlichen inhaltlichen Darstellung der einzelnen Schritte im Problemlöseprozess vorangestellt, um deutlich zu machen, wie diese praktisch in einen zeitlichen Rahmen gebracht werden können.
Abb. 3: Modellhafter Therapieverlaufsplan
1 Problemstellung –»
Worum geht es überhaupt?«
1.1 Erste Orientierung über die Problematik
Zu Beginn des diagnostisch-therapeutischen Prozesses steht der Therapeut vor der Aufgabe, einen ersten Überblick über die aktuellen Probleme zu gewinnen, deretwegen der Patient ihn oder die betreffende Institution aufgesucht hat. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, was der aktuelle Anlass für die Anmeldung ist und ob sie aufgrund von Eigen- oder Fremdinitiative erfolgt.
In der Regel findet schon im Anmeldegespräch eine kurze Bestandsaufnahme der aktuellen Probleme und Symptome statt, die dann im ersten längeren Kontakt erweitert und vertieft werden kann. Das Vorgehen wird sich dabei in den meisten Fällen zunächst an Schilderung und Sichtweise des Patienten orientieren.
In dieser Anfangsphase geht es für Therapeuten und Patienten auch um eine vorläufige Verständigung darüber, ob eine Zusammenarbeit stattfinden soll und, wenn ja, mit welchen Inhalten und innerhalb welcher Rahmenbedingungen. Bereits in diesem Zeitabschnitt werden – oft unbemerkt – grundlegende Voraussetzungen für die weitere Interaktion zwischen den Beteiligten geschaffen.
Bevor Therapeut und Patient sich detaillierter mit einem ausgewählten Problem oder Problemaspekt befassen, sollte gewissermaßen als Ausgangsbasis der bisherige Informationsstand über die Gesamtheit der Anliegen in alltagssprachlicher Formulierung kurz skizziert werden. Ein Beispiel mit Angaben aus einem Anmeldegespräch soll verdeutlichen, dass eine solche, relativ frühe Zusammenfassung, auch wenn sie noch sehr allgemein und lückenhaft erscheint, schon einen ersten Eindruck von der Problematik und ihrer Bedeutung für den Betroffenen vermitteln kann:
Frau F., 24 Jahre, Erzieherin im Kindergarten in R., kommt wegen Kontaktschwierigkeiten, Minderwertigkeitsgefühlen und Gewichtsproblemen (1,60 m; 85 kg). Die adipöse Patientin leidet unter starker Angst, wegen ihrer Figur aufzufallen oder abgelehnt zu werden. Typische Situationen sind: Zusammensein mit Kolleginnen, Kontakte mit Kindergarteneltern, Wege und Erledigungen in der Stadt und in Geschäften, Kirchenbesuch
und Theater. Sie geht selten aus, beteiligt sich kaum an Gesprächen, nimmt an, dass andere ihr Äußeres abstoßend finden und sie nicht akzeptieren. An ihrer Arbeitsstelle kapselt sie sich von Kolleginnen ab; die Arbeit in der Kindergruppe macht ihr allerdings Freude. In der Freizeit bleibt sie meist allein zu Hause, fühlt sich dort einsam, grübelt viel, leidet unter depressiven Stimmungen und isst dann auch besonders viel und unkontrolliert. Die Probleme begannen in der Pubertät, wurden ihr verstärkt bewusst mit Berufsbeginn und Umzug nach R. vor vier Jahren. Sie hat seit zwei Jahren einen Freund in K., den sie als ebenfalls kontaktarm und schüchtern beschreibt. Beide sehen sich nur am Wochenende. Anlass für die Anmeldung: Sie las gestern einen Zeitungsartikel über Therapiemöglichkeiten und -erfolge bei Essproblemen.
Auf dieser Grundlage können nun Teilprobleme ausgegliedert und detaillierter betrachtet werden.
In vielen Fällen und vor allem, wenn es sich um eine umfassende oder schon recht lange bestehende Problematik handelt, ist es angebracht, sich vor dem Einstieg in die systematische Problemanalyse einen allgemeinen Überblick über die Lebenssituation und die persönliche Entwicklung des Patienten zu verschaffen.
Hier kann es hilfreich sein, die Informationen mithilfe biographischer Fragebögen zu ergänzen, z. B. mit dem »Fragebogen zur Person und Lebensgeschichte« (
Materialien). Solche Instrumente geben Aufschluss über biographische Besonderheiten, über die allgemeine familiäre, soziale und materielle Situation, Ausbildungs- und Berufsentwicklung, über Interessen, Konflikte, Krankheiten und Veränderungswünsche. Das Gespräch mit dem Patienten sollte sich auf die wesentlichen Aspekte der
aktuellen Problematik konzentrieren und dabei den sozialen Entstehungszusammenhang miteinbeziehen.
Im Hinblick auf die Qualitätssicherung (
Kap. II, 6) werden häufig über die individuelle Problemerhebung hinaus allgemeine Status- und Strukturdaten erhoben. Für eine solche
Basisdokumentation gibt es noch kein allgemein verbindliches System; es besteht jedoch Konsens darüber, dass sie mindestens folgende Datenbereiche umfassen sollte (vgl. Laireiter & Baumann, 1996):
• Personendaten (Name, Adresse, Geburtsdatum, Geschlecht)
• Aufnahme- oder Anmeldedaten (Erst-/Folgeanmeldung, Kostenträger, Überweisungsgrund)
• sozial-anamnestische Daten (Familienstand, Konfession, Einkommen, Nationalität)
• berufsanamnestische Daten (höchster Schul- bzw. Berufsabschluss, aktuelle Berufstätigkeit)
• Krankheitsanamnese (erstes Auftreten, bisherige Behandlungen, medizinische Befunde und Medikation)
Im Weiteren umfasst die Basisdokumentation die Daten der individuellen Diagnostik (
Kap. 1.2.2).
Zum Beginn der störungs- und problembezogenen Arbeit hat sich als besonders hilfreich eine verhaltensbezogene Auflistung der persönlichen Beschwerden als »Ist-Soll-Diskrepanzen« in Form folgender Satzergänzungen erwiesen:
• »Der Patient ist unzufrieden damit, dass er «
• »Der Patient möchte erreichen, dass er «
Eine Klärung der Problemstellung in der Art solcher jeweils korrespondierender Aussagenpaare, ist übrigens in der Ich-Form auch als Hausaufgabe empfehlenswert. Auf einem Blatt im Querformat, das in der Mitte unterteilt ist, ergänzt der Patient auf der linken Blatthälfte mehrfach den Satzanfang:
• »Ich bin unzufrieden damit, dass ich «
und führt entsprechend auf der rechten Hälfte aus:
• »Ich möchte erreichen, dass ich «
Diese Liste dient als Grundlage für die weitere Arbeit und kann jederzeit weiter ausdifferenziert oder korrigiert werden.
In diesem Zusammenhang gilt es, die grundsätzlichen Einstellungen des Patienten in Bezug auf ...