Sexueller Missbrauch in Familie und Institutionen
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Sexueller Missbrauch in Familie und Institutionen

Psychodynamik, Intervention und Prävention

  1. 188 Seiten
  2. German
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Sexueller Missbrauch in Familie und Institutionen

Psychodynamik, Intervention und Prävention

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Sexueller Missbrauch findet sowohl im familiären Kontext als auch in Institutionen statt. Er bedeutet immer Machtmissbrauch an Kindern und Jugendlichen, die auf Schutz und Fürsorge in tragfähigen Beziehungen angewiesen sind. Nach Bekanntwerden von Missbrauchsskandalen und nachfolgenden Aufdeckungs- und Verarbeitungswellen wird das Thema in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen diskutiert. Je mehr Wissen zur Opfer-Täter- und Institutionsdynamik sowie über Richtlinien zur Prävention sexuellen Missbrauchs in Institutionen und den entsprechenden gesetzlichen Grundlagen vorhanden ist, desto eher wird professionell reagiert und reflektiert. Das Buch liefert dafür notwendiges Grundwissen zur Psychodynamik und veranschaulicht anhand von Fallbeispielen aus unterschiedlichen Institutionen wirksame Maßnahmen zur Intervention und Prävention.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783170254688

1 Zum sexuellen Missbrauch allgemein

1.1 Definitionen

1.1.1 Psychologische Definitionen

Es gibt keine allgemein gültige Definition zum sexuellen Missbrauch. Allein der Begriff des »sexuellen Missbrauchs« ist strittig. Die Wortbedeutung »sexueller Missbrauch« impliziert, dass Menschen gebraucht oder missbraucht werden. Dazu merken Amann und Wipplinger an, dass Individuen keinesfalls als »Gebrauchsgegenstände« fungieren (vgl. 1998, S.16). Aus der Praxis mit Tätern ist jedoch bekannt, dass sie angeben, die Opfer wie Gebrauchsgegenstände benutzt zu haben. Einige Autoren bevorzugen den Begriff »sexuelle Gewalt« (Amann & Wipplinger 1998, S.16), andere die Bezeichnung »sexuelle Misshandlung« (vgl. Gründer, Kleiner & Nagel 2010). Auch »sexuelle Übergriffe« findet man im Sprachgebrauch, was allerdings auch Fälle unterhalb der Strafbarkeitsschwelle impliziert.
Bange definiert den Begriff des sexuellen Missbrauchs folgendermaßen: «Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Machtund Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen« (Bange & Degener 1996, S.105).
In diesem Buch wird der Begriff des sexuellen Missbrauchs in Anlehnung an den heutigen allgemeinen Sprachgebrauch verwendet; er ist auch durch die klinische Arbeit geprägt und entspricht der rechtlichen Definition. Folgende Definitionsaspekte gehen in die Betrachtung des sexuellen Missbrauchs ein:

Art der sexuellen Handlung

Häufig wird dabei nach Intensitätsgraden unterschieden:
• Als leichtere Formen des sexuellen Missbrauchs (ohne Körperkontakt) gelten Exhibitionismus, anzügliche Bemerkungen, das Kind (gegen seinen Willen) beim Baden oder Anziehen zu beobachten.
Wenig intensive Missbrauchshandlungen sind der Versuch, die Genitalien des Kindes anzufassen, der Versuch, das Kind an der Brust zu berühren und der Versuch, dem Kind sexualisierte Küsse zu geben, sowie dem Kind pornographisches Material zu zeigen.
• Als intensiver Missbrauch wird gewertet: das Berühren oder Vorzeigen der Genitalien, wenn das Opfer vor dem Täter masturbieren muss, der Täter vor dem Opfer masturbiert oder sich von dem Opfer masturbieren lässt oder das Opfer masturbiert.
• Der intensivste Missbrauch besteht in der versuchten oder vollzogenen oralen, analen oder vaginalen Vergewaltigung (vgl. Engfer 2005, S.12).
Bei der sogenannten engen Definition wird von körperlichem Kontakt zwischen Tätern und Opfern ausgegangen. Sie wird neben der sexuellen Handlung meistens durch weitere folgende Merkmale charakterisiert:

Entwicklungstand des Opfers

Kindern fehlen aufgrund ihres Entwicklungstandes die kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten, die gesamte Tragweite einer sexuellen Handlung zu überblicken und zu verstehen. Emotional sind sie abhängig und können sich von daher nicht selbstbehauptend zur Wehr setzen. Zu dem Aspekt des Entwicklungstands gehören auch die oft benutzten Merkmale »der Zustimmung« und »entgegen dem Willen des Opfers«. Hierzu ist Folgendes anzumerken: Selbst wenn ein Kind aus Sicht des Täters »offensichtlich zustimmt« oder »selbst Spaß daran gehabt hat«, hat es meistens keine andere Chance. Eine Zustimmung entspricht einer Unterwerfung oder Anpassung an die Wünsche des Täters und ist eine – unbewusste – Abwehrstrategie. Selbst bei etwas älteren Kindern erfolgt in der Missbrauchssituation eine Regression auf ein Entwicklungsniveau, wo keine Zustimmung angenommen werden kann.

Machtgefälle

Bei sexuellem Missbrauch liegt immer ein Machtgefälle zwischen Opfer und Täter vor. Der Täter nutzt seine Vertrauens- oder Autoritätsposition, um seine eigenen sexuellen Bedürfnisse auf Kosten der abhängigen Person zu befriedigen. Das Opfer ist in einer Abhängigkeitsbeziehung und erlebt sich von daher meistens als ohnmächtig.

Altersdifferenz

Wie beim Machtgefälle wird durch die Altersdifferenz die Asymmetrie zwischen Täter und Opfer verdeutlicht. Der Ältere ist im Allgemeinen der Mächtigere und benutzt das jüngere Opfer zur eigenen Bedürfnisbefriedigung.

Gebot der Geheimhaltung

Der Täter zwingt das Opfer zur Geheimhaltung der sexuellen Handlung mit unterschiedlichen Strategien wie Bedrohung oder Belohnung.

1.1.2 Juristische Merkmale

Zur Beschreibung des Phänomens gehören auch die juristischen Merkmale. Im Gesetz ist ein Schutzalter festgelegt. Geschützt im Sinne des Strafgesetzes werden besonders Kinder bis zum Alter von 14 Jahren. Dabei wird im § 174, Abs.3 StGB besonders die Stellung des leiblichen oder angenommenen Kindes hervorgehoben. Jugendliche sind bis zum Alter von 18 Jahren zu schützen, wenn sie in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen oder dem Erwachsenen zur Erziehung, Beratung, Beaufsichtigung oder Betreuung anvertraut wurden. Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen schwerem sexuellem Missbrauch, der die Penetration beinhaltet, und minderschwerem sexuellen Missbrauch, der den Missbrauch ohne Penetration meint. Besonders hervorgehoben wird im § 179 StGB der Schutz widerstandsunfähiger Personen. Hierbei kann es sich um Personen mit geistiger und seelischer Erkrankung, mit einer Suchterkrankung oder um Personen mit einer tief greifenden Bewusstseinsstörung handeln. Die entsprechenden Gesetzestexte sind im StGB, 13, Abschnitt: Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, § § 174 bis 184 zu finden.

1.2 Tabuisierung des sexuellen Missbrauchs

Die Handlung des sexuellen Missbrauchs sowie das Sprechen darüber unterliegen in unserer Gesellschaft weitestgehend einem Tabu. Ein Tabu ist eine kulturell geformte und meistens stillschweigend praktizierte Übereinkunft, die soziales Handeln in einer Gesellschaft reguliert, indem bestimmte Verhaltensweisen verboten oder geboten werden. Da im Umgang mit sexuellem Missbrauch gegen bzw. mit kulturell verankerten Tabuisierungstendenzen gearbeitet werden muss, ist es hilfreich, das Phänomen der Tabuisierung genauer zu beleuchten. Tabus sind nicht expliziert wie Verbote; sie verlangen, dass jeder weiß, was tabu ist, ohne darüber zu sprechen. Tabus unterscheiden sich von ausdrücklichen Verboten mit festgelegten Strafen bei Nicht-Einhaltung aus dem Bereich der kodifizierten Gesetze. Gesetze sind sprachlich formulierte Verbote, während Tabus stillschweigend praktizierte, mit sozialen Strafen belegte Verbote darstellen. Sexueller Missbrauch ist nach dem Gesetz strafbar und nach gesellschaftlichen Konventionen ebenfalls verboten.
In der Forschungsliteratur zum Tabu wird unterschieden zwischen einem Handlungs- und einem Sprach- und Kommunikationstabu (vgl. Schröder: Tabu, www.kuwi.europa-uni.de, Zugriff 24.10.2012). Das Handlungstabu hat die Funktion, soziales Handeln in einer Gesellschaft zu regulieren; beim sexuellen Missbrauch handelt es sich um ein Handlungstabu. Das Sprachtabu scheint das Handlungstabu noch zu unterstützen nach dem Motto: »Was man nicht tut, darüber spricht man auch nicht«. Wird das Tabu in Form der Missbrauchshandlung verletzt und wird offen darüber gesprochen, ist das Sprechen auch ein Tabubruch und unterliegt gewissen Sanktionen. So werden Opfer, die trotz Schweigegebot sprechen sowie Angehörige der Opfer, besonders wenn sie den Opfern glauben, häufig stigmatisiert oder ausgegrenzt. Institutionen, in denen sexueller Missbrauch erfolgt ist, werden ebenfalls stigmatisiert. Eine Offenlegung des Geschehenen gelingt infolgedessen oft nur gegen große Widerstände.
Bei einem Tabubruch entstehen immer Gefühle von Peinlichkeit, Scham und Schuld wie auch Abscheu und Ekel; solche Gefühle wirken ebenfalls wie »Strafen«. Freud schreibt dazu bereits 1912 bis 1913 in »Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen«: »Das Sonderbarste daran ist wohl, daß wer es zustande gebracht hat, ein solches Verbot zu übertreten, selbst den Charakter des Verbotenen gewonnen … hat« (1982, S.314).
Das Wort Tabu stammt aus dem Sprachraum Polynesiens und wurde von James Cook von seiner Südseereise 1777 nach England gebracht. Tabu ist abgeleitet von dem Wort »ta pu«, wobei unter »ta« kennzeichnen oder markieren und unter »pu« kräftig oder intensiv verstanden wird. »Das Tabu ist also das kräftig Markierte« (Wagner 1991, zit. in: Schröder: Tabu, 1, www.kuwi.europa-uni.de, Zugriff 24.10.2012). Bei einem Tabubruch wird also der als Tabu markierte Bereich überschritten. Tabubereiche betreffen z.B. die Sexualität, den Stuhlgang oder die Intimreinigung. Ein in nahezu allen Gesellschaften anzutreffendes Tabu ist das Inzesttabu.
Spätestens seit Freuds Schriften »Totem und Tabu« (1912–1913) ist der Begriff auf dem Gebiet der Geistes- und Kulturwissenschaften etabliert. Nach Freud hat die Bedeutung des Begriffs Tabu zwei entgegengesetzte Richtungen. »Es heißt uns einerseits: heilig, geweiht, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten, unrein« (1982, S.311). Dies entspricht auch weitestgehend dem heutigen deutschen Sprachgebrauch; danach werden zwei Grundbedeutungen des Begriffs Tabu unterschieden: 1. die völkerkundliche Bedeutung im Sinne eines Verbotes, »bestimmte Handlungen auszuführen, besonders geheiligte Personen oder Gegenstände zu berühren, anzublicken, zu nennen, bestimmte Speisen zu genießen« sowie 2. die bildungssprachliche Bedeutung im Sinne eines ungeschriebenes Gesetzes, »das aufgrund bestimmter Anschauungen innerhalb einer Gesellschaft verbietet über bestimmte Dinge zu sprechen, bestimmte Dinge zu tun« (Duden online 2011).
Um das Geheimnis des Tabus im Kontext von sexuellem Missbrauch zu verstehen, hilft das psychodynamische Konzept der »Ambivalenz der Gefühlsregungen« (Freud 1912–1913), welches zum Menschsein gehört. Freud entwickelt, dass die Menschen zu ihren Tabuverboten eine ambivalente Einstellung haben »sie möchten im Unbewussten nichts lieber als sie übertreten, aber sie fürchten sich auch davor; sie fürchten sich gerade darum, weil sie es möchten, und die Furcht ist stärker als die Lust« (1982, S. 323). Es geht also um den grundlegenden Konflikt zwischen Begehren/Impuls/Antrieb und der Hemmung oder Kontrolle des Begehrens/Impulses/Antriebs durch ein Verbot. Offensichtlich setzt sich in dem Ambivalenzkonflikt zwischen Begehren und Verbot auch häufig das Begehren durch, denn der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene ist so alt wie die Menschheitsgeschichte (vgl. Heyden & Jarosch, 2010, S.6).
Das Durchsetzen des Begehrens/Impulses passiert bei vielen innerpsychischen Konflikten, und zwar immer dann, wenn die Steuerungs- oder Kontrollfunktionen versagen oder die Verbote nicht stark genug sind. An anderer Stelle sagt Freud: »Wo ein Verbot vorliegt, muss ein Begehren dahinter sein« (1982, S.360), mit anderen Worten ist ein Verbot nur dann notwendig, wenn es auch ein Begehren gibt. Von daher ist ein Verbot in Form eines Tabus oder moralischen Anspruchs oder sogar Gesetzes gerechtfertigt und notwendig. Der Gesetzgeber entspricht dieser Notwendigkeit.
Auch wenn sexueller Missbrauch gesetzlich verboten ist, heißt dies nicht, dass er zwangsläufig auch geahndet wird. Missbrauch geschieht immer in Macht- bzw. Abhängigkeitsbeziehungen, somit verfügt der Täter über Mittel, die Aufklärung der Straftat zu verhindern. Zu einer Aufklärung gehört jedoch fast immer das Sprechen des Opfers über den Missbrauch. Dies ist eine Voraussetzung, damit das Strafgesetz angewendet werden kann. Unterliegt das Sprechen dem Tabu, kann der sexuelle Missbrauch nicht geahndet werden.
Beim sexuellen Missbrauch wirkt nicht nur das Handlungstabu, sondern auch das Sprach- und Kommunikationstabu. Anders formuliert betrifft das Verbot nicht nur die Handlung des sexuellen Missbrauchs, sondern auch das Sprechen darüber. Dem Sprachtabu unterliegen auch die Opfer von sexuellem Missbrauch, denn ihnen fällt das Sprechen über das Erfahrene meistens sehr schwer. Natürlich ist das Nicht-Sprechen der Opfer auch durch die Strafandrohung des Täters motiviert sowie durch die Konsequenzen, die eine Veröffentlichung nach sich zieht. Dies verstärkt das gesellschaftlich tief verankerte Tabu.
Das Kommunikationstabu zieht weite Kreise, es erfasst die Betroffenen, Angehörige sowie die Professionellen. Über das Thema wird in bestimmten Wellen in der Öffentlichkeit gesprochen. Bemerkenswerterweise wird auch das Sprechen über die Folgen von sexuellem Missbrauch tabuisiert. Durch die letzten Skandale, wie z.B. in der katholischen Kirche oder in der Odenwaldschule, die in der Öffentlichkeit bekannt und diskutiert worden sind, ist das Schweigen zumindest ansatzweise gebrochen. In der Öffentlichkeit wird z. Z. von sexuellem Missbrauch an Kindern und den Folgen durchaus gesprochen. Es geschieht aber noch immer zu wenig, um die Gewalttaten zu verhindern. Der Umgang mit einem gesellschaftlich tabuisierten Phänomen wie sexuellem Missbrauch erfordert von Betroffenen sowie Professionellen enorme Anstrengungen, da jedes Mitglied einer Gesellschaft solchen kulturell geformten Tabuisierungstendenzen unterliegt. Zum tieferen Verstehen von Tabuisierungen sowie Tabubrüchen wurden bereits psychoanalytische Konzepte wie die Ambivalenzkonflikte und das Unbewusste eingeführt. Im Folgenden wird psychoanalytische Theoriebildung differenzierter ausgeführt. Der Beginn der Psychoanalyse ist mit dem Phänomen des sexuellen Missbrauchs verknüpft.

1.3 Bedeutung des sexuellen Missbrauchs in der Psychoanalyse

Die Zusammenhänge von lebensgeschichtlich traumatischen Erfahrungen und Störungen in der späteren Entwicklung wurden von psychoanalytischen Ansätzen untersucht und beschrieben. Viele Mechanismen, die im Kontext von sexuellem Missbrauch zu beobachten sind und helfen, die Dynamik des sexuellen Missbrauchs zu erklären und zu verstehen, entstammen psychoanalytischem Denken. Beispielhaft seien hier die Mechanismen der Dissoziation und Spaltung, der Introjektion und Verleugnung genannt. Ausgang der psychoanalytischen Theoriebildung war die Konfrontation Freuds mit sexuell missbrauchten Kindern, aus der er zunächst die sogenannte Verführungstheorie entwickelt hat. Entscheidend für die moderne psychoanalytische Traumatheorie ist sicher das Gedankengut von Ferenczi. Die Wandlungen, die das Phänomen des sexuellen Missbrauchs in der Psychoanalyse erfahren hat, sollen kurz skizziert werden. Deutlich wird dabei, dass die Psychoanalyse als Bewegung ähnlichen Mechanismen wie beim realen Missbrauch unterliegt, so die Verleugnung und das »implizite Kommunikationsverbot« (Krutzenbichler 2005, S.174) sowie die Spaltung im Sinne der Unvereinbarkeit von Gegensätzen.
Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts war Freud häufig mit Fällen von sexuellem Missbrauch konfrontiert. Zum einen durch seine Hospitation in Paris bei Charcot, dem bedeutendsten Neurologen seiner Zeit, zum anderen durch seine Erlebnisse am gerichtsmedizinischen Institut in Paris an der Morgue, wo er selbst häufig Zeuge von Autopsien missbrauchter, speziell sexuell missbrauchter Kinder gewesen war (vgl. Masson 1986). Infolge der Informationen und Erlebnisse während seiner Studienreise sowie seiner eigenen klinischen Erfahrungen mit Patientinnen und Forschungen entwickelte Freud die Verführungstheorie, die auf der Annahme eines real erlittenen Traumas basiert. In seinem Vortrag »Zur Ätiologie der Hysterie« (1896) vor dem Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie postulierte Freud das real erlittene sexuelle Trauma als einen zentralen Kern der Neurose. Seine Arbeit basierte auf 18 Fällen, bei denen Freud die (konversionsneurotische) Symptomatik auf die reale Verführung von Kindern durch Erwachsene zurückführte. Damit brach Freud ein gesellschaftliches Tabu und erntete eisige Ablehnung von seinen Kollegen; er wurde für den Tabubruch bestraft. Im darauf folgenden Jahr widerrief Freud die sogenannte Verführungstheorie und ersetzte sie durch die sogenannte Triebtheorie. Über die Gründe für die Aufgabe der Verführungstheorie haben sich viele Forscher Gedanken gemacht (vgl. u.a. Krüll 1979). Neben vielen individuellen Gründen spielte sicher auch der institutionelle und gesellschaftliche Druck – infolge des Tabubruchs – eine entscheidende Rolle. Mit dem Widerruf und der Verlagerung der sexuellen Gewalt in die Phantasie der Betroffenen im Rahmen der Triebtheorie und des Ödipuskomplexes war d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Geleitwort
  6. Einführung
  7. 1 Zum sexuellen Missbrauch allgemein
  8. 2 Sexueller Missbrauch in Institutionen anhand von Beispielen aus der Praxis
  9. 3 Präventionen
  10. Schlussbemerkung
  11. Literatur