1 Einleitung
Recherchiert man in Google den Begriff ›Lebensübergänge‹ bzw. die Begriffskombination ›Übergänge und Leben‹, erhält man innerhalb weniger Sekunden Zugriff auf ca.1 020 000 hinterlegte Hinweise. Unter den Suchwörtern ›Übergänge und Bildung‹ sind es mit ca. 478 000 immer noch beachtlich viele Inhaltsbezüge, die das World Wide Web bereithält. Das Suchwort ›Übergangsgestaltung‹ liefert stattliche 377 000 und der Begriff ›Übergangsforschung‹ stellt immerhin noch ganze 6 820 Links zur Verfügung (Zugriff: 15.4.2013). Sicher mag es Suchbegriffe geben, die in den Suchmaschinen noch populärer vertreten sind, und mit großer Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass der anspruchsvollere Nutzer und die anspruchsvolle Nutzerin nicht unter jedem angezeigten Link die erhofften qualitätsvollen Informationen findet. Ungeachtet dessen erstaunt aber dennoch, dass ein gesellschaftlich an sich allgegenwärtiger, banal scheinender und allen Menschen vertrauter Vorgang wie der, von einem Lebens- oder Bildungsabschnitt zum anderen zu wechseln, von solch großem allgemeinen Interesse ist. Was begründet diese starke öffentliche Präsenz des Übergangsbegriffs? Wie lässt sich der Begriff definieren? Wie lassen sich Übergänge erklären und was hat die Übergangsforschung zur Erhellung und Bestimmung des im erziehungswissenschaftlichen Bereich mittlerweile zentralen Begriffs beigetragen?
Im Hinblick auf diesen offensichtlich zugenommenen Bedeutungszuwachs scheint folgerichtig, dass die empirisch basierte, interdisziplinäre und internationale Auseinandersetzung mit der Übergangsthematik in den letzten Dekaden einen großen Aufschwung genommen und sich damit diesen Fragen angenähert hat. Seither wird Bildungsübergängen, wie z. B. dem Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule oder dem Übertritt in die weiterführenden Schulen, eine bedeutsame und gestaltbare Schnittstellenfunktion zugewiesen. Die in den einschlägigen Erklärungssätzen zur Übergangsthematik zu findenden Merkmalbeschreibungen, wie zum Beispiel normativ, konform, vertikal, alltäglich, horizontal, allgemein, spezifisch, markant, vorgegeben, unscheinbar, erwartet, unerwartet, latent, labil, kontinuierlich, diskontinuierlich, deuten die Vielfalt und Ausdifferenziertheit der (möglichen) Phänomene und Herausforderungen an, die den Prozess des Durchschreitens von biografischen Statuspassagen kennzeichnen.
Diese in der Tradition des Klassikers der soziologischen Übergangsforschung von van Gennep (1999) stehende, seit Beginn des 20. Jahrhunderts thematisierte Komplexitätserweiterung hat bis heute nicht an Aktualität eingebüßt: »Am Beispiel des Übergangs zwischen Jugend und Erwachsenensein lässt sich zeigen, dass sich Übergänge verlängern, diversifizieren, widersprüchlich werden, ja zu eigenen Lebenslagen führen« (Stauber & Walter, 2004, S. 47ff.), wie die Metapher Yoyo-Übergänge treffend zum Ausdruck bringt.
Im Hinblick auf die stetige, künftig noch weitergehende Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften und Bildungssysteme entfaltet der vorliegende Band ein mehrperspektivisches Verständnis von Übergängen als erziehungswissenschaftliche Leitidee für Bildungsteilhabe und Lehrerbildung (Denner, 2007b). Zum einen wird den an Bildungsinteresse und Bildungsteilhabe gebundenen Übergängen und ihren immanenten Herausforderungen in den vorliegenden Überlegungen eine zentrale Bedeutung beigemessen. Zum anderen geht es mit Blick auf die bedeutsame Rolle der in der Mitverantwortung stehenden Lehrkräfte ferner darum, die Übergangsthematik explizit in den Kontext der Lehrerbildung einzubinden. Diese stärkere Berücksichtigung der Lehrerperspektive ist mit der Zielsetzung verknüpft, neue Impulse für ein tiefer gehendes Verstehen und Gestalten von Übergangsprozessen zu generieren.
Wie schon der Begriff Leitidee impliziert, liegt diesen Überlegungen ein breiter Übergangsbegriff zugrunde, der komplexe, ineinander übergehende und sich überlappende Wandlungsprozesse in der (Bildungs-)Biografie eines Menschen einschließt (Welzer, 1993, S. 37). Folgerichtig liegen Anspruch und Herausforderung darin, Transitionsprozesse unter Berücksichtigung zugleich aber auch unabhängig von (länger) zurückliegenden biografiespezifischen Vorerfahrungen als besonders anforderungsintensive Phasen innerhalb eines Lebenslaufs anzuerkennen.
Letztlich folgt dieser Ansatz dem empirischen Befund, dass sich Übergänge zum einen in verändernden Kontexten vollziehen. In Abhängigkeit von individuell und institutionell verfüg- und nutzbaren Ressourcen und Erwartungen können sie zum anderen aber auch kurz oder länger anhaltende Stresssituationen auslösen, sowie Impulse zu einer positiven Weiterentwicklung geben.
An dieser Komplexität setzt die im vorliegenden Band dargelegte Rahmenkonzeption mehrfach verschränkter Übergänge an (Denner, 2007b). Dieser Ansatz beschreibt die als markant bezeichneten, im Lebenslauf üblicherweise vorgegebenen Übergänge zwischen den Stufen des Bildungssystems. Diese normativ-institutionellen Übergänge werden von den gesellschaftlichen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen deutlich mit konfiguriert.
Darüber hinaus kommen vielfältige Übergänge, die sich im Professionalisierungsprozess während und zwischen den drei Phasen der Lehrerbildung (Studienbeginn und wissenschaftliche Ausbildung mit Schulpraktika, Referendariat, Fort- und Weiterbildung) vollziehen, zur Sprache. Aufgrund ihrer großen gesellschaftlichen und pädagogischen Relevanz bedürfen diese individuellen Übergänge auch in der Lehrerbildung einer besonderen Beachtung.
Letztlich werden weitere, nicht minder komplexe Übergänge identifiziert, die bislang ausgeblendet blieben. Diese sich nicht auf den ersten Blick erschließenden Übergänge treten parallel auf. Sie können den markanten Übergängen innewohnen oder diesen vor- oder nachgelagert sein. Aufgrund dieser Komplexität bedürfen gerade auch diese verborgenen Übergänge einer gründlichen Analyse und anspruchsvollen Beachtung, Unterstützung und Bewältigung. Gemeint sind Übergänge in der körperlichen, sprachlichen, kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung sowie in der Selbstkonzept-Entwicklung des einzelnen Kindes oder Jugendlichen.
Die Fokussierung dieser komplexen Zusammenhänge im Übergangsgeschehen erfordert, über die gängige Berücksichtigung der einschlägigen psychologischen, soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Sichtweisen hinaus zu gehen. Auch die bisher ebenfalls kaum beachteten Verschränkungsmechanismen sollten mit in den Blick genommen und angesichts der Komplexität ihrer prozessualen Vorgänge anhand des Aufspürens und Beschreibens ihrer Einzelwirkungen erhellt werden.
Damit rückt neben den schulischen und außerschulischen Bildungsinstitutionen und Sozialisationskontexten sowie den schon bekannten Dispositionen und Handlungsstrategien der Akteure und agierenden Personengruppen die didaktische Ebene ins Blickfeld. Denn dort, wo für Kinder und Jugendliche Bildungs- und/oder Entwicklungsübergänge aufeinander treffen, wie etwa beim mathematischen oder schriftsprachlichen Lernen am Schulanfang, zwischen dem Erstsprachhandeln in der Familie und dem Gebrauch der deutschen (Zweit-)Sprache in der Schule, oder im Spannungsfeld zwischen schulischer Bildung und Nachhilfeeinrichtung, ist Lernen angesagt. Mit der mittlerweile als konsensfähig geltenden Erkenntnis, dass Lernprozesse in der Interaktion des Individuums mit dem (umweltlichen) Kontext konstruiert werden, gewinnt die vermittelnde und unterstützende Rolle professioneller Lernbegleitung an Bedeutung. Diese Begleitung ist schon deshalb geboten, weil die Entstehung von Wissen und Kultur ohne den Dialog und das In-Beziehung-Setzen der betroffenen und beteiligten Akteure nicht denkbar ist.
In diesem Sinne führt der vorliegende Band mit theoretischem und methodischem Anspruch wie folgt in das spezifische Konstrukt mehrfach verschränkter Übergänge ein: Neben einer kompakten und zugleich fundierten Darlegung der grundständigen Übergangstheorien folgt das Buch einer praktischen Ausrichtung mit Fallbeispielen, Praxisstudien und vertiefenden, zur Selbstreflexion anregenden Fragen und Aufträgen. Diese Vorgehensweise ist mit der Zielsetzung verknüpft, den pädagogisch interessierten Leserinnen und Lesern den Nutzen des Zusammenhangs zwischen Theorie- und Handlungswissen transparent zu machen. Mit Blick auf die mit dem Lehrwerk im erziehungswissenschaftlichen Bereich arbeitenden (Lehramts-)Studierenden liegt die Hauptintention überdies und insbesondere jedoch darin, diesen die hohe Relevanz und die zentralen Aspekte einer übergangssensiblen Professionalisierung zugänglich zu machen.
Einem gänzlich innovativen Weg folgt die Zielsetzung, der Theorie eine didaktische Dimension zur Seite zu stellen und damit Bausteine für eine Übergangsdidaktik zu beschreiben und zur Diskussion zu stellen. Die Ausführungen des vorliegenden Bandes verstehen sich insofern als theoriebasierte und anwendungsorientierte Impulse für eine Übergangsdidaktik.
2 Erklärungsansätze zur Bestimmung von Übergängen
Die Klärung der mit dem vorliegenden Buch verknüpften Zielsetzungen und Fragestellungen setzt voraus, die einschlägigen soziologischen, psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Theoriebezüge bzw. Übergangstheorien in ihren Grundzügen aufzunehmen. Beispielhaft ergänzt werden diese durch die Ergebnisse der empirischen Übergangsforschung und durch eine erweiterte Konzeption für Didaktik und Lehrerbildung. Fallbeispiele und hieran anschließende Aufträge regen zum (gemeinsamen) kritisch-reflexiven Mit- und Weiterdenken an und fordern Leserinnen und Leser dazu auf, eigene Beiträge zur weiteren Theorieentwicklung zu leisten.
2.1 Begriffsklärung
Dem Übergangsbegriff haftet eine hohe Komplexität an. Die diesbezüglich entstandene Unübersichtlichkeit spiegelt sich letztlich auch im Begriffsverständnis der unterschiedlichen Bezugswissenschaften wider. In Abhängigkeit der jeweils fachspezifischen Erkenntnisinteressen und Forschungslage rückt entweder die psychologische, die soziologische bzw. sozialisationstheoretische oder die erziehungswissenschaftliche Sicht stärker in den Fokus.
Welzer (1993) ist um ein umfassendes Begriffsverständnis bemüht, indem er Übergänge als ineinander übergehende, sich überblendende und insofern schwer durchschaubare und bestimmbare Wandlungsprozesse beschreibt, die sich an der Schnittstelle zwischen dem Handlungs- und Bewältigungsvermögen eines Individuums und den jeweils bestehenden gesellschaftlich-institutionellen Anforderungen vollziehen. Weiter wird davon ausgegangen, dass sich in diesen Phasen verschiedenartige Belastungen anhäufen, die Anpassungsleistungen und Veränderungen auf der individuellen, interaktionalen und kontextuellen Ebene erfordern (Griebel & Niesel, 2004, S. 35).
Neben dieser mehrkontextuellen Perspektive fließen sozialökologische Einflüsse (Bronfenbrenner, 1980) und die von Lazarus (1995) entwickelte Stresstheorie in das Begriffsverständnis ein, von welchen das von Griebel und Niesel (2004) entwickelte Transitionsmodell geprägt ist. Dieses Theoriemodell bezeichnet Übergänge als Transitionen, die sich auf Lebensereignisse beziehen, die eine Bewältigung von Veränderungen in mehreren definierten Lebensweltkontexten erfordert. Diesbezüglich ist der Einzelne in der Auseinandersetzung mit seinem sozialen System auf individueller, interaktionaler und kontextueller Ebene dazu aufgefordert, bedeutsame biografische Erfahrungen zu sammeln, die ihren Niederschlag in der Identitätsbildung finden (Griebel & Niesel, 2004, S. 36). In Anbetracht der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ist eine Disziplin- bzw. Theoriegrenzen überschreitende Definition gesucht, die eine eingängige allgemeine Begriffsbestimmung zu leisten vermag. Impulse hierzu liefert Abbildung 2.1.
Abb. 2.1: Strukturmerkmale von Übergängen
Betrachtet man die einzelnen Elemente in Abbildung 2.1, lassen sich folgende Festlegungen ableiten:
• Der die vier Rechtecke umschließende Rahmen zeigt an, dass Übergangsprozesse in sich geschlossen sind, d. h. dass sie in zeitlicher Hinsicht einen Anfang und ein Ende haben, und dass sie – sozioökologisch betrachtet – in spezifische Kontexte eingebunden sind.
• Die Rechtecke bringen zum Ausdruck, dass das Übergangsgeschehen soziale und persönliche Erwartungen sowie institutionelle und persönliche Potenziale beinhaltet, die in unterschiedlichem Umfang miteinander in Beziehung stehen.
• Die Zeitachse mit dem über den Rahmen hinausweisenden Pfeil, zeigt an, dass es sich bei Übergängen nicht um einen einmaligen Vorgang handelt, sondern dass das menschliche Leben durch unbestimmt viele Übergänge gekennzeichnet ist. Überdies teilt die Zeitachse das Übergangsfeld in zwei Hälft...