1 „Mach doch was du willst“ – oder: Wie überwinde ich den Rubikon? Das Zürcher Ressourcen Modell®
Sie befinden sich auf einer dieser Familienfeiern; alle Verwandten haben es geschafft, zu dem 80. Geburtstag von Tante Emmi zu erscheinen. Ihre vielgereiste Tante hat andere wichtige Termine verschieben können und erweist allen die Ehre ihrer Präsenz und sogar Ihr weiter entfernt lebender Onkel hat die lange Anreise auf sich genommen. Sie selbst haben sich schon länger mental auf diese Begegnungen vorbereitet, um die üblichen Streitereien zu vermeiden. Sie werden souverän, freundlich und bestimmt Kommentare und Einmischungen in Ihre Lebensgestaltung zurückweisen und sich vernünftig verhalten. Sie wissen genau, welche Reizthemen, Worte, Mimik oder Gesten zu Eskalationen führen können und werden ruhig bleiben. Sie wissen, was kommt, und werden gelassen reagieren. Auf der Feier kommen Sie mit verschiedenen Geschwistern, Cousinen, Tanten, Onkeln etc. ins Gespräch und sind hocherfreut, dass so eine entspannte Stimmung herrscht – auch zwischen Ihnen und Ihrer Schwester, mit der früher immer eher Kleinkrieg herrschte. Nach den obligatorischen Reden und Darbietungen für Tante Emmi wenden sich alle wieder einander zu und Sie merken, das Gespräch mit Ihrer Schwester wird angespannter – und plötzlich reagieren Sie wie früher: Dieses süffisante Grinsen, das Sie schon immer auf die Palme gebracht hat, lässt die Situation eskalieren und sie schreien sich an wie früher. Dabei hatten Sie sich doch vorgenommen, sich vernünftig zu verhalten.
Warum haben Sie diesen Vorsatz nicht umsetzen können? Es liegt daran, dass das Unbewusste in viel stärkerem Maß das Verhalten steuert, als meist heute noch angenommen wird, und „alte“ Muster entsprechenden Einfluss auf aktuelle Situationen haben. Verstand allein reicht normalerweise nicht aus, um diese Verhaltensweisen zu verändern. Denn das, was sich im Laufe des Lebens an Einstellungen und Verhaltensweisen entwickelt hat, hat eine entsprechende Gehirnstruktur entstehen lassen. Sämtliche bewussten und unbewussten Vorgänge, von der Atmung bis zur Konzeption von komplexen Planungen, werden durch unsere Hirnstrukturen abgebildet. Unsere Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster werden mithilfe unzähliger Synapsen und neuronaler Netze im Hirn gesteuert. Je öfter bestimmte Verhaltensweisen ausgeübt und entsprechende Erfahrungen gemacht werden, desto weiter entwickelt sich eine „Autobahn“ im Hirn, die immer wieder das Muster stärkt.
Selbst subjektiv als ungünstig oder unerwünscht eingestufte Verhaltensweisen, wie oben deutlich geworden, bleiben langfristig erhalten, weil sie im Hirn abgelegt sind. Um den Alltag zu bewältigen, ist es zwar hilfreich, dass viele Automatismen vorhanden sind, die unbewusst das Verhalten steuern. Allerdings ergeben sich auch immer wieder Situationen, in denen die vorhandenen Muster nicht zum Erfolg führen. Ein Coach oder Therapeut wird dann auf die Bühne geholt, wenn subjektiv die Einstellung gereift ist, dass eine notwendige Veränderung allein nicht zu schaffen ist. Die Person erhofft sich eine Änderung durch erfolgversprechende Methoden, mithilfe derer das Problem gelöst bzw. das Thema bearbeitet werden kann.
Was aber kann eine nachhaltig erfolgreiche Methode sein? Wie können die „Autobahnen“ verlassen und neue befahren werden? Da man heute von einer Plastizität des Gehirns ausgeht, die lebenslang gegeben ist, ist die grundsätzliche Voraussetzung für eine Reorganisation gegeben. Plastizität meint, dass die Struktur veränderbar ist. Es heißt allerdings nicht, dass die gewünschte, langfristige Veränderung einfach umzusetzen ist. Wenn dies der Fall wäre, könnten selbst formulierte Vorsätze wie „Ich höre mit dem Rauchen auf.“ schnell umgesetzt werden. Studien haben ergeben, dass 80 % der guten Vorsätze scheitern. Die Ursache liegt darin, dass das Unbewusste an der Entscheidungsfindung nicht beteiligt wurde. Da das Unbewusste maßgeblich am Erfolg oder Misserfolg beteiligt ist, ist mangelhafte Umsetzung oder Nichtrealisierung die Folge. Anders ausgedrückt: Sie schaffen es nicht, den Rubikon zu überschreiten, Ihre ganzen schönen Überlegungen bleiben ein Gedankengebilde; sehr ehrenhaft, aber leider ohne Wirkung – außer dass Sie zutiefst unzufrieden mit sich selbst sind.
Die Formulierung „den Rubikon überschreiten“ geht auf ein psychologisches Modell zurück. Ein Modell, das ursprünglich von Heinz Heckhausen (1989) und Peter M. Gollwitzer (1990) entwickelt und später von Grawe (1998) ergänzt wurde. Namensgebend für die Beschreibung des Prozesses ist die Geschichte von Caesar, die in den Geschichts- und Lateinbüchern mit dem Zitat „alea jacta est“ (lat. „Der Würfel ist gefallen.“) aus dem Jahr 49 v.Chr. überliefert wird. Caesar und seine Legionen befanden sich am Ufer des Rubikon, dem Grenzfluss zwischen der Provinz Gallia cisalpina und Italien, das kein römischer Feldherr mit seinen Truppen betreten durfte. Lange unterhielt er sich mit seinen Freunden, die ihn begleiteten. Er wog ab und diskutierte, welche Übel die Überquerung des Flusses zur Folge haben könnte und wie die Nachwelt über ihn denken würde. Letztlich aber überwog seine Abenteuerlust und sie überquerten den Fluss; dieser Moment des Aufbruchs ist überliefert mit dem berühmten Zitat.
Wenn also der Sprung, die Überquerung des Rubikons nicht gelingt, bleiben Sie im Morast des diesseitigen Ufers stecken. Welche Methode aber könnte Ihnen auf die Sprünge helfen? Ausgewiesen darin ist das Zürcher Ressourcen Modell® (ZRM®), das auf den folgenden Seiten beschrieben wird. Zunächst geht es um die Geschichte des ZRM®, um auch einen Eindruck vom Qualitätsanspruch des Modells zu vermitteln. Anschließend werden die theoretischen Grundlagen sowie die praktische Umsetzung dargestellt.
Das ZRM®-Konzept wird in dem vorliegenden Buch in seinen theoretischen Grundlagen und seiner praktischen Umsetzung skizziert. Wer sich detaillierter informieren möchte, sollte das Buch „Selbstmanagement – ressourcenorientiert“ von Maja Storch und Frank Krause lesen (Storch & Krause, 2007).
1.1 Geschichte des ZRM®
Anfang der 1990er Jahre sollte in der Schweiz für schulisches Lehrpersonal ein wissenschaftlich abgesichertes Curriculum für den Bereich der Selbst- und Sozialkompetenz entwickelt werden. Diese Aufgabe wurde an die Psychologin Maja Storch, Mitarbeiterin an der Universität Zürich, herangetragen. Heute werden die Anforderungen an Lehrpersonen breit diskutiert und es gibt vielfache Diskurse dazu, aber zum damaligen Zeitpunkt wurde dieser Aspekt in der Ausbildung weniger beachtet. Die Annahmen als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines solchen Curriculums werden von Storch für die Schweiz postuliert. Sie können aber auch für die Ausbildungssituation an deutschen Universitäten als gültig angesehen werden.
Die Fachleute an der Universität Zürich sahen daher akuten Handlungsbedarf. Im Projekt „Professionalisierung: Handlungskompetenzen für pädagogische Berufe“ sollte ein wissenschaftlich fundiertes Curriculum erarbeitet werden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es lediglich Fortbildungen gegeben, die aus klinischpsychologischen Konzepten und Therapien heraus entwickelt worden waren. So gab es für die Weiterbildungsteilnehmenden in den 1980er und 1990er Jahren eher schlechte Erfahrungen mit den Angeboten im Bereich der psychosozialen Kompetenz. Die Teilnehmenden erlebten viele Übungen, die verschiedensten Therapieansätzen entlehnt waren und ad hoc vermittelt wurden; es gab kein schlüssiges Gesamtkonzept, mit dem die Lehrenden im Unterrichtsalltag arbeiten konnten. Wie konnte ein Transfer dieses eklektizistischen Kompetenzprofils in die pädagogische Praxis erfolgen?
Es erwies sich als sehr hilfreich, eine interdisziplinäre Kooperation mit Frank Krause von der Universität Konstanz einzugehen. Der Sozialwissenschaftler hatte das Konstanzer Trainingsmodell (KTM) mitentwickelt, ein fundiertes Verfahren zum Erwerb psychosozialer Kompetenzen im Umgang mit aggressivem Verhalten im Unterricht. In dieser Zusammenarbeit entstand das Zürcher Ressourcen Modell®, auf dessen theoretischer Basis ein Training entwickelt wurde (Krause & Storch, 2006). Was als Weiterbildung für Lehrende konzipiert wurde, wird heute für viele Zielgruppen angeboten: von Lehrenden über Sozialpädagogen bis zum Manager. Denn die Grundthematik, auch in Stresssituationen die eigenen Zielsetzungen und entsprechenden Verhaltensweisen umsetzen zu können, ist für viele eine Herausforderung – beruflich und im privaten Alltag.
Drei wesentliche Merkmale kennzeichnen das Zürcher Ressourcen Modell®: Es ist mit Integrationsabsichten entwickelt worden, orientiert sich konsequent an Ressourcen und sichert den Transfer vom Training/Coaching in den Alltag. Diese Merkmale beziehen sich sowohl auf die theoretische als auch auf die praktische Ebene dieses Konzeptes und werden im Folgenden kurz erläutert.
Beide „Erfinder“ des ZRM® legen sowohl auf die Praxis als auch auf die akademisch-psychologische Perspektive großen Wert. Daher setzen sie ihre berufliche Praxis auch immer in Bezug zu abgesicherten akademischen Theorien. Das kann überzeugend realisiert werden, weil beide akademische und therapeutische Ausbildungen durchlaufen haben sowie in beiden Feldern über langjährige Berufspraxis verfügen. Angesichts der vielfältigen Erfahrungen wissen sie auch um die Auseinandersetzungen und Grabenkämpfe zwischen Theorie und Praxis wie auch um die zwischen unterschiedlichen Schulen. Ausgehend von der These, dass jede Therapieform ihre Stärken und Schwächen hat, haben Storch und Krause die Elemente, die sie überzeugt haben, in einem Modell vereinigt. Auswahlkriterien waren zum einen der praktische Nutzen, zum anderen diejenigen Elemente und Theorien, die solide belegt waren. Innerhalb der letzten fünfzehn Jahre gab es einige Publikationen anderer Forscher wie Grawe, Kuhl, Hüther, Roth und Damásio, die Storch und Krause in ihren Integrationsabsichten weiter ermutigt und das Konzept bereichert haben. Im ZRM® werden neurowissenschaftliche Themen, effektive psychologisch-psychotherapeutische Methoden und gut abgesicherte psychologische Theorien zu einer Synthese zusammengefügt.
Die konsequente Ressourcenorientierung beruht auf dem Grundgedanken der Gesundheitspsychologie. Diese wendet die Perspektive von den Problemen (Pathogenese) hin zu den Ressourcen (Salutogenese). Im Rahmen einer Psychotherapie bedeutet das, der Therapeut geht davon aus, dass der Klient die Lösung seines Problems bereits in sich trägt. Das entsprechende Selbstverständnis des professionellen Therapeuten ist dann eher das eines Wegbegleiters, Prozesshelfers oder einer Hebamme als das eines wegweisenden Experten. Darüber hinaus erscheinen auch unbewusste Prozesse in einem anderen Licht als bei Freud: Sie lassen sich als eine ungenutzte persönliche Schatzkammer sehen statt als „Tummelplatz unerlaubter, gefährlicher und daher zu verdrängender Triebregungen“ (Stierlin, 1994, S. 108). Diese Ressourcenaktivierung wird heute als ein wesentlicher Faktor erfolgreicher Psychotherapie gesehen. Der Ressourcenbegriff selbst wird in der Psychotherapie noch nicht allgemein einheitlich definiert (siehe dazu Schiepek & Cremers, 2003). Im ZRM® ist der Ressourcenbegriff neurobiologisch definiert: „Unter Ressourcen werden neuronale Erregungsmuster verstanden, die im Hinblick auf die Absichten, welche die Klientinnen im Laufe ihrer Entwicklung verfolgen, unterstützend wirken“ (Storch & Krause, 2010, S. 25). Als Ressource gilt das, was gesundheitsfördernde neuronale Netze im Gehirn aktiviert und dabei hilft, das neu gebildete Netz, das Ziel einer Person, in erwünschtes Verhalten umzusetzen.
Da der Transfer von Weiterbildungsinhalten in den Alltag üblicherweise nicht sehr zufriedenstellend ist (Lemke, 1995; Schmidt, 2001), wird im ZRM® darauf besonderes Augenmerk gelegt. Um den Transfer zu optimieren, müssen neben der Ressourcenorientierung drei weitere Faktoren beachtet werden: die Motivation, der „social support“ und die Expertenunabhängigkeit. Zur Erhöhung der Motivation wird von Beginn des Trainings- oder Beratungsprozesses an Wert darauf gelegt, eine lustvolle und belohnende Herangehensweise zu vermitteln. Besondere Beachtung erfährt die Ressource des „social support“, da das soziale Netz die gewünschten Veränderungen behindern oder befördern kann. Wenn neues Verhalten ausprobiert wird, ist man zu Beginn dieses Prozesses sehr verletzlich, denn schließlich muss die Identität neu ausbalanciert werden. Veränderungen können durch ein soziales Umfeld behindert werden, wenn es sie ablehnt. Daher werden im ZRM® individuelle Maßnahmen entwickelt, die die soziale Unterstützung sichern. Darüber hinaus sorgen die Beratenden dafür, dass die Teilnehmenden Expertenunabhängigkeit gewinnen. Zum einen wird dieser Anspruch durch die entsprechende Haltung der Trainer, sich überflüssig zu machen, eingelöst. Zum anderen gelangen die Teilnehmenden selbst in den Besitz von Expertenwissen durch Impulsreferate und Lehrbeispiele. Wenn sie ein Training absolviert haben, haben sie sowohl ein persönliches Thema bearbeitet als auch psychologisches Grundwissen darüber erworben, wie sie zukünftig problematische Situationen bewältigen können.
Im Training oder in Einzelsettings nach dem ZRM® wird nicht nur ein spezifisches Thema bearbeitet, sondern Expertenwissen vermittelt, emotionale Entlastung im Hinblick auf die eigene Problematik gewährleistet und zur Selbsthilfe in problematischen Situationen angeleitet. Die Beratung oder das Training kann unterstützend zu einer medikamentösen oder psychotherapeutischen Behandlung angeboten werden. Aufgrund dieser Merkmale kann das ZRM® auch als ein psychoedukatives Beratungsmodell gelten.
Im Folgenden werden die zentralen theoretischen Grundlagen des Ansatzes, die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und das Rubikon-Modell, dargestellt.
1.2 Theoretische Grundlagen
Das Zürcher Ressourcen Modell® beruht auf aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zum menschlichen Lernen und Handeln. „Aktuell“ ist hier wörtlich zu nehmen, da das ZRM® als Open-source-Modell konzipiert worden ist. Es werden immer wieder neuere Erkenntnisse aus Theorie und Praxis in das Konzept integriert. Seit Beginn seiner ersten Version in den 1990er Jahren haben viele Psychologen, Neurowissenschaftler, Berater, Therapeuten und Führungskräfte mit ihren Erfahrungen und Ideen Storch und Krause geholfen, das ZRM® immer weiter zu entwickeln. Neben den praktischen Erfahrungen sind in den letzten Jahren weitere motivationspsychologische und persönlichkeitstheoretische Entwicklungen integriert worden.
1.2.1 Grundlegende Erkenntnisse der Neurowissenschaften
Die Psyche kann als Gedächtnis der Erfahru...