Teil C Therapie
9 Standardbehandlung der Adipositas bei einem BMI zwischen 30 und 40 kg/m2
Sandra Becker, Roswitha Schabert und Isabelle Mack
9.1 Behandlungsinhalte und Rahmenbedingungen
Überblick über die Therapie
Das folgende kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsmanual bezieht sich auf adipöse Patienten mit einem BMI im Bereich von 30 bis 40 kg/m2 und auf übergewichtige Patienten mit einem BMI von 25 bis 29,9 kg/m2, bei denen bereits gewichtsassoziierte Begleiterkrankungen wie Typ-2-Diabetes oder Hypertonie vorliegen. Ebenfalls geeignet ist es für Patienten mit einem betont abdominalen Fettverteilungsmuster (Taillenumfang bei Frauen > 88 cm, bei Männern > 102 cm).
Voraussetzung ist, dass in der zuvor stattgefundenen interdisziplinären Diagnostikphase die Indikation für ein Gewichtsreduktionsprogramm gestellt wurde und der Patient sich bewusst für eine Teilnahme entschieden hat (siehe Teil B). Die Inhalte des Therapieprogramms beschränken sich auf die Behandlung Erwachsener, wobei die Standards bei der Behandlung von Kindern ähnlich sind.
Das Manual ist vorwiegend für den Gebrauch in der Gruppentherapie ausgelegt, kann aber auch für Einzeltherapien genutzt werden. Der Vorteil der Gruppenbehandlung liegt neben ökonomischen Aspekten in der Nutzung von Gruppenkohäsion im Sinne von gegenseitiger Unterstützung und Erfahrungsaustausch. Die Gruppengröße sollte zwölf Teilnehmer nicht überschreiten, da es sonst schwierig wird, individuell auf die einzelnen Gruppenmitglieder einzugehen.
Die Durchführung sollte im Hinblick auf die Module zum Ess- und Bewegungsverhalten sowie zu den psychotherapeutischen Interventionen idealerweise von einem multiprofessionellen Team – bestehend aus Diätassistenten, Bewegungstherapeut und psychologischer oder ärztlicher Psychotherapeut – erfolgen.
Inhalte des Behandlungsmanuals
Im Folgenden wird ein Überblick über die einzelnen Gruppentherapiesitzungen gegeben. Die Inhalte sind als therapeutischer Leitfaden gedacht und haben einen modularen Charakter. Die Module zielen inhaltlich auf eine Veränderung des ungünstigen Essverhaltens, auf eine Steigerung der körperlichen Bewegung,
der Verbesserung des Körperbildes und auf eine Stärkung des Selbstwertes ab. Hierbei kommen kognitiv verhaltenstherapeutische Interventionen wie beispielsweise Psychoedukation zu einem gesunden Ess- und Bewegungsverhalten, Selbstbeobachtungsstrategien, Zielklärung, Stimuluskontrolle, Kognitive Umstrukturierung und Stressmanagementstrategien zum Einsatz (
Tab. 9.1). Dabei muss die Reihenfolge der einzelnen Sitzungen (
Tab. 9.2) nicht zwingend eingehalten werden. Die jeweiligen Inhalte und Interventionen sollten vielmehr auf die individuellen Bedürfnisse und den spezifischen Rhythmus jeder Gruppe bzw. der einzelnen Mitglieder angepasst werden. Auch können einzelne Themen bzw. Interventionen bei Bedarf kürzer oder länger bearbeitet werden.
Psychoedukation ll Auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen
Tab. 9.1: Kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen des Behandlungsmanuals
Zeitlicher Rahmen
Der zeitliche Rahmen erstreckt sich über 18 Sitzungen à 90 Minuten im Gruppensetting. Wird das Therapieprogramm als Einzeltherapie durchgeführt, reicht eine Sitzungsdauer von 50 Minuten aus. Die ersten elf Sitzungen sollen einmal pro Woche durchgeführt werden. Für die letzten sieben Sitzungen empfiehlt sich ein zwei- bis dreiwöchiger Abstand, um den Transfer in den Alltag sowie die Umsetzung in Eigenverantwortung mit ausschleichender therapeutischer Unterstützung zu fördern. Die Patienten sollen vermehrte Erfahrungen damit sammeln, welche Schwierigkeiten sich beim Umsetzen der neu erlernten Verhaltensweisen im häuslichen Umfeld zeigen, gleichzeitig aber in den ausschleichenden Sitzungen, die Möglichkeit bekommen, mit der Gruppe und dem Therapeuten, Lösungsstrategien im Umgang mit den Problemen zu erarbeiten. Insgesamt beträgt die Dauer der Therapie zwischen fünf und sechs Monate.
Förderung körperlicher Aktivität
Zusätzlich sollte den Patienten während der Laufzeit des Programms einmal pro Woche – gemäß den individuellen bewegungstherapeutischen Möglichkeiten – eine geführte Bewegungseinheit von 50 Minuten im Gruppensetting angeboten werden. Dieses Angebot soll den Teilnehmern unter fachlicher Anleitung (Sport- und Bewegungstherapeuten) ermöglichen, verschiedene Bewegungsarten unter Anleitung auszuprobieren und individuelle Vorlieben zu entdecken. Darüber hinaus spielt die Intensität und Häufigkeit des körperlichen Trainings für den Gewichtsverlauf eine wichtige Rolle. Intensivere und täglich durchgeführte Bewegungseinheiten führen zu einem besseren Effekt, sodass letztendlich eine Trainingszeit zwischen 30 und 50 Minuten täglich empfohlen wird (Shaw et al. 2009). Dennoch muss diese Empfehlung den körperlichen Möglichkeiten und der Alltagsrealität der Patienten angepasst werden. Auch kürzere Einheiten, die mit der Zeit gesteigert werden können, haben einen positiven Effekt auf die Gewichtsentwicklung. Nordic Walking, Ergometrie, Ausdauergymnastik, Gerätetraining, Schwimmen und Laufband eignen sich hierbei als Bewegungsarten. Der Fokus einer angeleiteten Bewegung sollte auf einer Motivationsförderung zur langfristigen und für den Einzelfall realistischen Implementierung von körperlicher Aktivität im Alltag liegen. Alternativ kann der Patient individuell aber auch an anderweitige regelmäßige Bewegungsangebote z. B. im Fitnessstudio oder bei Volkshochschulen und Sportvereinen angebunden werden. Zusätzlich soll körperliche Aktivität den Ausbau von Bewegungsgewohnheiten im Alltag (wie zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad fahren, Gartenarbeit verrichten) beinhalten. Wichtig ist, den Patienten zu vermitteln, dass es nicht um Leistungssport geht, sondern darum, ihre körperliche Fitness langsam zu steigern und positive Erfahrungen mit Bewegung zu machen. Positive Erlebnisse setzen erfahrungsgemäß auch nicht von Beginn ein, sondern erfordern Durchhaltevermögen und regelmäßige Durchführung.
Sitzungen Gruppentherapieprogramm90 Minuten
Tab. 9.2: Inhalte des Gruppentherapieprogramms
9.2 Einführung in das Gruppentherapieprogramm (Sitzung 1)
Überblick:
• Information über die Rahmenbedingungen und die Inhalte des Gruppentherapieprogramms
• Sinn und Zweck von therapeutischen Hausaufgaben
• Vorstellungsrunde zum gegenseitigen Kennenlernen/Partnerinterview
• Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas
• Einführung in das Ernährungsprotokoll und in die Gewichtskurve
• Berechnung und Einteilung des Körpergewichts
• Essensregeln
Materialien:
• Arbeitsblatt 4: | Informationen zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas |
• Arbeitsblatt 5: | Ernährungsprotokoll mit Anleitung |
• Arbeitsblatt 6: | Gewichtskurve mit Anleitung |
• Arbeitsblatt 7: | Berechnung und Einteilung des Körpergewichts |
• Arbeitsblatt 8: | Essensregeln oder wie man eine gute Esskultur pflegt |
Informationen über die Rahmenbedingungen und die Inhalte des Gruppentherapieprogramms
Der Gruppenleiter informiert die Teilnehmer über die formalen Rahmenbedingungen wie Dauer der Sitzungen und des Programms und Verbindlichkeit der Teilnahme. Er erläutert Kommunikations- und Interaktionsregeln, die für einen konstruktiven und wertschätzenden Umgang miteinander wichtig sind wie Pünktlichkeit, aufmerksames Zuhören und Aussprechen lassen, Schweigepflicht einhalten, das Erleben und die Sichtweise des anderen akzeptieren. Es ist wichtig zu betonen, dass jeder Teilnehmer sich aktiv einbringen und bereit sein sollte, auch zwischen den Sitzungen Aufgaben zu bearbeiten und Verhaltensänderungen zu erproben.
Darüber hinaus wird ein Überblick über die Inhalte der 18 Sitzungen gegeben (
Tab. 9.2) An dieser Stelle sollten erste Informationen über die Zielsetzung des Gruppentherapieprogramms erfolgen. Zunächst geht es in einer ersten Phase darum, eine langsame, nicht auf Diät basierende Gewichtsabnahme zu erreichen. In der Regel haben fast alle Teilnehmer Erfahrungen, mit Hilfe von Diäten ihr Gewicht zu reduzieren, jedoch ohne anhaltenden Erfolg. Einer anfänglichen Gewichtsabnahme in der Vergangenheit folgte meist ein Frustrationserleben einer sich anschließenden deutlichen Gewichtszunahme (sog. »Jojo-Effekt«). In der
Gruppentherapie sollen Patienten Strategien erlernen, die erreichte Gewichtsabnahme auch langfristig aufrechterhalten zu könnten. Das heißt, einer ersten Phase von Gewichtsreduktion folgt gegen Ende des Therapieprogramms und in der Zeit danach eine längere Phase von Gewichthalten. Die Abnehmphase dauert ca. vier bis sieben Monate, wobei dabei ca. 0,5 kg bis 1 kg pro Woche an Gewichtsverlust zu erwarten ist. Dies sind allerdings Durchschnittswerte, die im Einzelfall beträchtlichen Schwankungen unterliegen können. Es ist immer wichtig, die Entwicklung eines Gewichts über einen längeren Zeitraum zu beobachten und zu interpretieren, anstatt eine Beurteilung aufgrund einzelner Werten vorzunehmen. Nach der Gewichtsreduktionsphase folgt die Phase der Gewichtsstabilisierung, in der der Fokus darauf liegt, eine neuerliche Gewichtszunahme zu verhindern.
Sinn und Zweck von therapeutischen Hausaufgaben
Therapeutische Hausaufgaben intensivieren und unterstützen die Behandlung und können den Therapieerfolg merklich fördern. Die Patienten werden dabei angeregt, Informationsblätter zu lesen, Aufgaben und Übungen zwischen den Sitzungen eigenständig durchzuführen und das Gelernte in den Alltag zu übertragen bzw. praktisch anzuwenden. Wiederholtes und eigenständiges Üben stabilisiert neu erlernte Verhaltensweisen und stärkt das Selbstwirksamkeitsgefühl. Individuelle Schwierigkeiten, aber auch Ressourcen bei der Umsetzung im Alltag können identifiziert und gegebenenfalls bearbeitet und weiterentwickelt werden. Der Therapeut sollte deshalb explizit darauf aufmerksam machen, dass die Durchführung von Hausaufgaben wesentlicher Bestandteil der Therapie ist. Erst Eigenaktivität, Initiative und Übernahme von Verantwortung fördern die Wahrscheinlichkeit, dass die Patienten das Gruppentherapieprogramm erfolgreich beenden und nachhaltig davon profitieren.
Wurde am Ende einer Sitzung eine Hausaufgabe gestellt wie beispielsweise das Ausfüllen eines Arbeitsblatts oder das Lesen eines Informationsblatts, sollte der Therapeut daran denken, dass darauf am Anfang der nächsten Sitzung Bezug genommen wird. Eine Vergewisserung, dass die jeweilige Aufgabe für die Betroffenen klar und verständlich ist, ist ebenfalls hilfreich. Im Behandlungsverlauf kann es erforderlich sein, die Gründe zu erfragen, warum Hausaufgaben nicht erledigt wurden, um nachfolgend Lösungswege für ...