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Spezifische schulische Prävention – das Beispiel Vorbeugung von Leserechtschreibschwäche
Das Thema der Leserechtschreibschwierigkeiten, -schwäche, -störungen wird in der Literatur nicht nur in Hinblick auf verwendete Begriffe, sondern auch hinsichtlich der Erläuterung des Phänomens, der Ursachenzuschreibung und der Förderung sehr unterschiedlich diskutiert. International anerkannt sind die Begriffe Leserechtschreibstörung und „Legasthenie“ als Bezeichnung einer Teilleistungsstörung, die in allen uns bekannten Schriftsprachen vorliegt (Grimm, 2011). In der ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) zählt die Legasthenie/Leserechtschreibstörung (LRS) zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. In Anlehnung an die Diskrepanzdefinition liegen bei der umschriebenen LRS die Lese- und Schreibleistungen bedeutend unter dem Niveau, das ausgehend vom Lebensalter des Betreffenden, dessen Intelligenz und der Beschulungssituation zu erwarten wäre (Dilling, Mambour & Schmidt, 1991). Sinn und Unsinn dieser Definition wurden bereits im ersten Kapitel diskutiert.
Typische Fehlerschwerpunkte, wie sie für leserechtschreibschwache Kinder charakteristisch sind, werden bei Breitenbach und Weiland (2010, S. 30) in Band 2 dieser Reihe beschrieben. Symptombeschreibungen beziehen sich auf die jeweils betroffenen Bereiche schriftsprachlicher Fähigkeiten (Lesen oder Rechtschreiben) und auf bestimmte Teilfertigkeiten innerhalb eines Bereiches (z. B. beim Lesen: Lesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit und Leseverständnis). Je nachdem aus welcher Disziplin (Pädagogik, Psychologie, Medizin) heraus die Störung beschrieben wird, werden unterschiedliche, die Störung konstituierende oder begleitende Symptome schwerpunktmäßig thematisiert (z. B. Schwierigkeiten in der Sprachwahrnehmung, psychische Begleitsymptome oder pädagogische Probleme bei gravierendem Leistungsabfall auch in anderen Fächern als Folge einer LRS). In diesem Kapitel geht es weniger um definitorische Aspekte oder um Fragen zur Komorbidität, zur Häufigkeit oder zum Vorkommen (s. Kapitel 1), sondern um auf Früherkennung und Förderung abzielende Fragen.
4.1 Welche Faktoren bedingen Leserechtschreibschwäche?
Wie erwähnt, zeigt sich auch in der Ursachenforschung ein sehr heterogenes Bild. Seit geraumer Zeit wird LRS immer stärker als „pädagogisches Problem“ gesehen, d. h. auch die Qualität des Unterrichts und die Lehrkompetenz (didaktisch-methodisches Knowhow, diagnostische und fördernde Fähigkeiten) der Lehrerinnen und Lehrer beeinflussen die Leistungen im Lesen und Schreiben der Schüler. Insgesamt festigen sich die Belege für eine erblich bedingte Veranlagung sowie Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen (Schulte-Körne 2002; Schulte-Körne, Warnke & Remschmidt, 2006; Walter, 2001). Vor dem genannten Hintergrund erweist sich ein interaktives Modell (Abbildung 6) der Verursachung von Leserechtschreibschwäche als naheliegend (Klicpera, Schabmann & Gasteiger-Klicpera 2003, 161).
Abbildung 6: Interaktives Modell (Klicpera et al. 2003, S. 161)
Im interaktiven Modell von Klicpera, Schabmann und Gasteiger-Klicpera (2003) wird davon ausgegangen, dass verschiedene Ursachen für die Entwicklungsschwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben verantwortlich sind. Demnach führen in den meisten Fällen mehrere Faktoren dazu, dass ein Kind kaum oder nur sehr geringe Fortschritte beim Lesen- und Schreibenlernen macht (multifaktorielle Bedingtheit). Es wird angenommen, dass sowohl individuelle Faktoren, wie z. B. geringe Lernvoraussetzungen (z. B. Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen), sprachliche Defizite, geringe Differenzierungsleistungen als auch eine mangelnde Unterstützung in der Familie und schließlich ein für das Kind unzureichender Unterricht, zusammenwirken. Die Faktoren sind dabei nicht unabhängig voneinander zu betrachten, sondern sie stehen in steter Wechselbeziehung zueinander (S. 160). Suchodoletz (2007) bestätigt die Annahme, dass für das Auftreten einer LRS mehrere Faktoren verantwortlich sind. Seiner Auffassung nach „bilden genetische Faktoren die Hauptkomponente, psychosozialen Faktoren wird ein moderierender Einfluss zugesprochen, während hirnorganischen Risiken (u. a. Komplikationen während der Schwangerschaft oder Geburt) nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt“ (Suchodoletz, 2007, S. 34). Anzumerken bleibt, dass Suchodoletz als anerkannter Mediziner in seine Überlegungen didaktische und methodische Aspekte vernachlässigt.
Sprachlich kognitive Aspekte – phonologische Bewusstheit
Am besten lassen sich derzeit Leseschwierigkeiten mit Beeinträchtigungen in der kognitiven Verarbeitung von Sprache erklären. Der überwiegende Teil leserechtschreibgestörter Kinder zeigt auf unterschiedlichen Sprachebenen Auffälligkeiten, wie z.B. einen deutlich verringerten Wortschatz, Entwicklungsrückstände in der Anwendung grammatikalischer Strukturen sowie mangelnde phonetische oder phonologische Fähigkeiten. Studien zeigen auch auf, dass der umgekehrte Weg möglich ist – eine mangelnde Beherrschung der Schrift kann negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Sprache nach sich ziehen. Dennoch erweist sich eine unzureichende Sprachverarbeitung – zurückzuführen auf zentral auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen – zweifellos als ein Risiko für den Schriftspracherwerb. Die phonologische Bewusstheit wird als zentrale Voraussetzung für den Zugang zur Schriftsprache innerhalb der alphabetischen Phase (s.u.) angesehen. Empirisch belegt durch internationale und nationale Forschungsbefunde (Walter, 2001; Schneider, Roth, Küspert & Ennemoser, 1998), erweist sich insbesondere die phonologische Bewusstheit als aussagekräftiger Prädiktor für Leistungen im Schriftspracherwerbsprozess. Die ph...