Menschen mit Querschnittlähmung
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Menschen mit Querschnittlähmung

Lebenswege und Lebenswelten

  1. 282 Seiten
  2. German
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Menschen mit Querschnittlähmung

Lebenswege und Lebenswelten

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Über dieses Buch

When people who have paraplegia are allowed to talk about their own lives, lots of exciting, serious, funny and thought-provoking things come to light. You may sometimes remember only a few sentences of the stories they tell - but they are sentences capable of changing your whole attitude.This book represents a successful interplay between scientific research and participation. Experts in their own field use narrative methods to tell the stories of their lives and their own life-worlds, accompanied by highly expressive photos. Chapters discussing how to organize everyday life, sports, work and many other topics are presented, in some cases by public figures such Kirsten Bruhn, Christian Au and Andreas Schneider. People with an interest in the topic, specialists and the general public are thus given a glimpse from the inside into what living with paraplegia is like.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783170338265

Teil II

Lebenswelten

Alltag und Lifestyle

Jessica Lilli Köpcke

Menschen mit einer Querschnittlähmung gelten gesellschaftlich betrachtet häufig als das gängige Beispiel eines Rollstuhlfahrers und Menschen mit Körperbehinderung. Diese Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigung erfährt allgemein weniger gesellschaftliche Diskriminierung als andere, da das äußere Erscheinungsbild auf den ersten Blick weitgehend dem von Menschen ohne Beeinträchtigung entspricht, mit der Ausnahme des Rollstuhls. Dennoch werden sie der Gruppe der Menschen mit Behinderung eindeutig zugeordnet, insbesondere durch das »Erkennungsmerkmal« des Rollstuhls.
»Die Gesellschaft favorisiert ein Menschenbild, das geprägt ist von Gesundheit, Leistungsstärke, Wirtschaftskraft, Selbstständigkeit. Natürlich ist das alles wünschenswert. Es ist aber für viele Menschen mit schweren Behinderungen nicht lebbar« (Haupt 2010, S. 50).
In diesem Spannungsfeld bewegen sich Menschen mit einer Querschnittlähmung. Sie befinden sich in einer Situation, in der ihnen Normalität aberkannt wird und sie sich mit der Behinderung auseinandersetzen müssen, egal welches Erklärungsmodel und welches Konzept sie dabei für sich als sinnstiftend erachten. Die individuelle Sichtweise auf die eigene Beeinträchtigung ist dabei von der Zuschreibung von Behinderung durch gesellschaftliche und Umwelteinflüsse zu unterscheiden. Der alltägliche Begriff »Behinderung« meint verhindert zu sein etwas zu tun. Allgemein bezieht er sich auf Personen mit einer Schädigung und signalisiert, dass die betreffende Person zu einer Gruppe gehört, die aufgrund ihrer »abweichenden« körperlichen oder intellektuellen Verfassung an »normalen« Aktivitäten nicht teilnehmen kann (vgl. Thomas 2004, S. 31). In dieser Definition steht die Behinderung als körperliche Eigenschaft der Person im Vordergrund. Der Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe ist durch die individuellen Voraussetzungen der betroffenen Person nicht möglich. Sie ist durch das Sitzen im Rollstuhl beispielsweise nicht in der Lage, ein Theater zu besuchen, wenn es nur durch Stufen zugänglich ist. Bei diesem Betrachtungsansatz spielt die Relation von Barrieren und die individuelle Beeinträchtigung eine wichtige Rolle. Die Kritik an einem konstruktivistischen Verständnis von Behinderung lautet, dass man die Behinderung nicht dadurch ins Nichts auflösen kann, indem erklärt wird, die Barriere sei die Behinderung. Sie ist nicht vergleichbar mit einem zu hohen Treppenabsatz, sondern hat etwas mit einem selbst zu tun, sie ist ein Bestandteil des körperlichen So-Seins (vgl. Kastl 2010, S. 116). Insbesondere für Menschen, die eine Beeinträchtigung in ihrem Lebensverlauf erwerben, ist dieser Zusammenhang zunächst nicht ersichtlich und führt dazu, dass sie sich damit auseinandersetzen müssen und eigene Strategien im Umgang mit diesen unerwarteten, plötzlich eintretenden Barrieren entwickeln. Kirsten Bruhn zeigt dies anhand ihres Bildmotivs sehr eindringlich, in dem sie sich darin mit der Situation der Barrierefreiheit im Alltag auseinandersetzt.
Die Auseinandersetzung mit dem Alltag beginnt für Menschen mit einer erworbenen Querschnittlähmung jedoch erst nach der ersten Phase der medizinischen Versorgung und damit verbunden, verändert sich der Blick von außen auf den Körper und auf die veränderte Wahrnehmung der Identität bereits während der intensivmedizinischen Betreuung nach der traumatischen Querschnittlähmung.
»Die asymmetrische Beziehung zwischen Arzt und Patient, der objektivistische Blick auf Krankheit bei gleichzeitiger Ausblendung der Subjektivität des Patienten, die menschliches Leben als zunehmend verfügbar, und herstellbar erscheinen lassende Ausweitung technischer und intensivmedizinischer Behandlungsmöglichkeiten, aber auch Phänomene wie Spezialisierung, Institutionalisierung, Ökonomisierung und Verrechtlichung untergraben das Selbstbestimmungsrecht kranker und hilfsbedürftiger Menschen und machen diese zunehmend zu einem Objekt der Medizin« (vgl. Dederich 2011, S. 167).
Diese Wirkungsmechanismen werden in vielen Geschichten deutlich, Katrin Schreier hat sich in ihrer Erzählung auf den Bereich der Rehabilitation nach ihrer erworbenen Querschnittlähmung konzentriert. Sie beschreibt darin auch die individuelle Wahrnehmungsperspektive: Wie sieht sie sich nach der traumatischen Querschnittlähmung selbst und welche Bedeutung schreibt sie ihrer Beeinträchtigung auch im Hinblick auf die Interaktion und Wahrnehmung in ihrer Lebenswelt zu?
Die Maßnahmen und Ziele der Rehabilitation umfassen neben den rein medizinischen auch Maßnahmen zur Anpassung, beziehungsweise Integration in die Gesellschaft, zur sozialen (Wieder-)Eingliederung in durch die Beeinträchtigung verschiedenster Art und Ursache abgebrochene, gefährdete und erschwerte Sozialbeziehungen, wie zum Beispiel im Beruf, der Familie oder der Freizeit (vgl. Thimm 2006, S. 21). Daraus entsteht ein erster identitätsgebender Moment für Menschen mit einer erworbenen Querschnittlähmung, der die Etikettierung als »behindert« beinhaltet.
»Die Integration einschließlich der Rehabilitation bedingt oft zeitweise oder auch permanente Gruppenbildung von Personen mit gleichartiger Form der Behinderung« (Tembrock 1998, S. 195).
Als Beispiel seien die Querschnittzentren genannt, die Teil großer Kliniken sind und sich auf die Erstversorgung sowie die Rehabilitation und lebenslange Begleitung von Menschen mit Rückenmarksverletzungen spezialisiert haben. Hier kommen alle zusammen und erleben Menschen mit der gleichen Beeinträchtigung in unterschiedlichen Lebens- und Bewältigungsphasen. Das spezialisierte Wissen über die Beeinträchtigungsform ist hier gebündelt und ein Umgehen der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, wenigstens für einen zeitlich abgeschlossenen Zeitraum, ist nahezu unmöglich. Menschen mit Spina bifida erleben diese Zuschreibung von Geburt an und können daraus resultierend die Beeinträchtigung schon frühzeitig als Teil ihrer Person in ihre Identität einbetten. Im Gegensatz dazu beinhaltet eine erworbene Beeinträchtigung eine plötzlich auftretende körperliche Schädigung mit der dazugehörigen Zuschreibung und Eingliederung in die Gruppe von Menschen mit Behinderung. Der daraus möglicherweise folgende Ausschluss von der sozialen und sonstigen Partizipation, die ein Mensch wünscht, ist nicht nur determiniert durch die organische Schädigung und Funktionseinschränkung. Insbesondere bei Menschen mit einer erworbenen Querschnittlähmung sind die Differenzen in der Zugänglichkeit zum sozialen Leben erheblich. Dies wird an einem Beispiel von zwei Querschnittgelähmten mit der gleichen Läsionshöhe1 deutlich, bei dem einer der beiden einen hochbezahlten, seiner Qualifikation entsprechenden Beruf ausüben kann, während der andere für jede Tätigkeit als erwerbsunfähig gilt. Dies hängt nicht mit der Form der Beeinträchtigung, sondern mit dem Zugang zu Berufen zusammen. Die Kenntnis der behindernden sozialen Kontextbedingungen sind bei der Definition von Gesundheit und Krankheit ebenso zu berücksichtigen wie die organischen Schädigungen (vgl. Orth/Schwietring/Weiß 2003, S. 283).
Das Schwerbehindertenrecht und die Zuweisung des Schwerbehindertenausweises sind die Zugangsvoraussetzungen für Leistungen, die eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichern. Auch gesellschaftlich ist der Behinderungsbegriff in der Sprache fest verankert und zeigt sich in Begriffen wie »Behinderten WC« oder »Behindertenparkplatz«. Menschen mit Beeinträchtigung sind auf die Einrichtung und Nutzung dieser gesonderten Angebote angewiesen, um am öffentlichen Leben partizipieren zu können. Mit der Bezeichnung dieser barrierefreien Einrichtungen als »behindert« ist eine Etikettierung und Stigmatisierung verbunden. Menschen mit einer erworbenen Beeinträchtigung müssen sich plötzlich mit der Situation auseinandersetzen, als Menschen mit Behinderung zu gelten. Zu Beginn der Rehabilitation ist das Hauptziel der Fachkräfte und der Patienten selbst, die drohende Beeinträchtigung abzuwenden. Ist dies nicht möglich, so werden die Patienten auf die Situation eines Lebens mit der Beeinträchtigung vorbereitet. Das Behindertenrecht und insbesondere das Rehabilitationsrecht bestimmt als vorrangiges Ziel die möglichst weitgehende Anpassung der Menschen mit Beeinträchtigung an die »nichtbehinderte« Umwelt (vgl. Jürgens 1996, S. 126). Dies bedingt eine Zuweisung einer bestimmten Form der Beeinträchtigung, sie erhält eine medizinische Bezeichnung. Die einzelne Person ist nicht mehr Surfer, Gitarrenspieler oder Autofahrer, sondern auch »Querschnittgelähmter« und »Körperbehinderter«. Menschen mit Querschnittlähmung lassen sich von diesen Zuweisungen jedoch nicht einschränken. Jens Sauerbier ist nicht nur erfolgreicher Nationalspieler im Rollstuhlrugby, sondern auch ein »Sneakerhead«, das bedeutet, er sammelt seltene Turnschuhe. Jemand, der nicht läuft und Turnschuhe sammelt? Viele Menschen mit Querschnittlähmung besitzen mehr Schuhe als ihre Partner, obwohl diese nie den Boden berühren – das ist Lifestyle.
Der Begriff der Identität, der eng mit der Annahme einer Querschnittlähmung, ob erworben oder angeboren, verbunden ist, ist als rein subjektiver Identitätsbegriff und als subjektive Konstruktion zu verstehen. »Es kann nicht von einer Behinderung auf eine disability identity geschlossen werden« (Langner 2009, S. 182). Der Tradition des symbolischen Interaktionismus liegt die Grundannahme zugrunde, dass sich die Identität in der Interaktion zwischen Menschen mittels Symbolen bildet. Die interaktionistisch geprägte Identitätstheorie beschreibt, wie sich Menschen im Kontakt mit und in der Abgrenzung zu anderen Menschen als etwas Einheitliches wahrnehmen, erfahren und empfinden (vgl. Antor/Bleidick 2006, S. 222). Diese Abgrenzung einer Gesellschaft der »Normalen«, wie Goffman sie bezeichnet, zu den Stigmatisierten auf der anderen Seite, führt zu einer Bildung von Kategorien, in die Menschen unterteilt werden und dazu zählt ebenfalls die Kategorie »Menschen mit Behinderung«. Aufgrund des Zusammenhangs von personaler und sozialer Identität ist zu vermuten, dass vor allem negativ gefärbte Meinungen und Reaktionen seitens der Gesellschaft einen Menschen mit Beeinträchtigung in der Entfaltung seiner Persönlichkeit, seinem persönlichen Erleben und Verhalten und seiner Daseinsgestaltung nachhaltig beeinträchtigen können, aber nicht zwangsläufig müssen. Es stellt sich die Frage, unter welchen spezifischen Bedingungen die Erlebnisse mit nicht beeinträchtigten Menschen oder gesellschaftlichen Institutionen als wirklich belastend oder als nichtbelastend erlebt werden (vgl. Fries 2005, S. 14). Aus dieser Sichtweise argumentierend, empfinden es Menschen mit Beeinträchtigung zum Teil als kränkend und herabsetzend, wenn ihre Beeinträchtigung beziehungsweise deren gesellschaftliche Relevanz heruntergespielt oder geleugnet wird im Sinne von »für mich bist du nicht behindert.« Darin steckt die Abwertung der Beeinträchtigung als nicht wünschenswerter Zustand (vgl. Dettmering 1999, S. 187). In dieser geschilderten Aussage wird der Widerspruch deutlich, den es zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in der Bewertung von Situationen geben kann. Diese vermutlich als Anerkennung und Kompliment gemeinte Äußerung kann zu Kränkungen und Missverständnissen führen. Diese emanzipatorische Sichtweise steht in einem Kontrast zu Goffmans Annahme, dass Menschen mit Beeinträchtigung immer versuchen werden, ihr Stigma2 vor der Gesellschaft zu verbergen und ihre soziale Identität an die der »Normalen« anzupassen.
»Behinderung ist kein neutraler Gegenstand, sondern führt zur Abgrenzung und Kennzeichnung eines Personenkreises. Es geht um Menschen, die dann als Bezeichnete, als Menschen mit z. B. einer körperlichen Behinderung in Erscheinung treten und mit dieser Bezeichnung zwar einerseits Ressourcen einfordern können, andererseits aber eine, oft auch institutionalisierte, Verbesonderung erfahren (Musenberg 2013, S. 16).
Diese Bezeichnung oder das Stigma sind ein Teil der Identität von Menschen mit Querschnittlähmung. Dabei spielt ihre eigene Haltung zu diesem Stigma nur eine untergeordnete Rolle in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und in den sozialen Wirkungsprozessen.
»There is not time out from body idiom in any social encounter, for although, an individual can stop talking, he cannot stop communicating through body idiom; he must say either the right thing or the wrong thing. He cannot say nothing« (Smith 2006, S. 38; Binnenzitat Goffman 1963, S. 35).
Insbesondere die Herstellung von Nähe und Distanz in der Interaktion sieht Goffman als primäres Ausdrucksmittel von Disziplinierung in der Interaktion (vgl. Peters 2009, S. 59). Mit dieser Disziplinierung ist auch der Umgang mit dem eigenen Stigma, beziehungsweise das mögliche Verbergen dieses, für die Rückversicherung einer unbeschädigten Identität gegenüber einer »normalen« Person gemeint. Das Individuum verfügt neben einer persönlichen Identität, die ihm aufgrund der biographischen Daten Einmaligkeit zuschreibt, auch über eine soziale Identität, die als Typisierung und Klassifizierung des Menschen durch andere zu beschreiben ist. Dies kann sich laut Goffman insbesondere bei Menschen, die in unerwünschter Weise anders sind, negativ auf ihre Identität auswirken (vgl. Goffman 1975, S. 13). Dabei sind die Attribute einer Person hierarchisiert, ein Stigma fordert mehr Aufmerksamkeit als eine gleichzeitig präsentierte akademische Bildung.
»In ein und derselben Darstellung sind mitunter nicht nur Hinweise auf unterschiedliche Statuspositionen verschlüsselt, sondern es kann auch eine Hierarchie der Eigenschaften vorliegen, die der Reihe nach angesprochen werden« (Goffman 1981, S. 14).
Das Präsentationsinteresse der Person, die versucht ihre Identität beispielsweise als Akademiker darzustellen, muss dabei von der interpretierenden Person nicht zwangsläufig geteilt werden. Die Kategorie »Mensch mit Behinderung« kann für sie dennoch stärker als erstes Merkmal der Identität wahrgenommen werden, als das Präsentationsinteresse als Akademiker durch die betroffene Person intendiert wurde. Dies legt die Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen der empfundenen Identität der Person und der sozial antizipierten Identität durch außenstehende Personen nahe. Auf das interaktionistische Verständnis von Stigma, das auf Goffmans Definition, in der die »diskreditierende« Eigenschaft, die erst in sozialen Beziehungen hergestellt wird, beruht, gründet ein Großteil der Literatur zu der Auseinandersetzung mit der »Behindertenproblematik«, so wie der Ansatz, der als »Soziologie der Behinderten« nach Thimm bekannt wurde (vgl. Boatca/Lamnek 2004, S. 167). Dabei spielt nicht nur die Person, die das Stigma trägt, eine Rolle in ihrer Auseinandersetzung mit dem Gegenstandsbereich. Goffman beschreibt darin auch die beteiligten Akteure, wie das nahe Umfeld der Betroffenen oder professionelle Helfer, die aufgrund unterschiedlicher Rahmungen nicht die soziale Identität der Betroffenen wahrnehmen, sondern zu einem gesonderten Personenkreis gehören, bei dem größere Offenheit möglich ist. Goffman beschreibt Personen, die durch eine besondere Situation intim und vertraut mit dem Leben der Stigmatisierten umgehen, als »Weise«. Diese Personen tragen selbst kein Stigma, sie werden dennoch akzeptiert und erhalten eine Art von »Ehrenmitgliedschaft« im Kreis der Betroffenen. Weise Personen sind Grenzpersonen, vor denen die Betroffenen keine Scham empfindeen und keine Selbstkontrolle üben, da sie wissen, dass sie trotz ihres »Mangels« als ein gewöhnlicher anderer betrachtet werden (vgl. Goffman 1975, S. 40). Der Weise erwirbt seine Weisheit durch die Arbeit mit Betroffenen in entsprechenden Einrichtungen oder über die Repräsentation dieser Gruppe in der Gesellschaft (vgl. Hesselbarth 1990, S. 61). Zu diesen Weisen gehören auch Krankenschwestern, die häufig Tabugrenzen überschreiten, beispielsweise bei der Blasen-Mastdarm-Lähmung von Querschnittgelähmten und somit Bereiche betreten, zu denen die engsten Angehörigen keinen Zugang haben (vgl. ebd. S. 64). Durch Aktivismus und die Vernetzung in Verbänden und Vereinen...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Teil I Einführung
  6. Teil II Lebenswelten
  7. Teil III Arbeitsleben
  8. Teil IV Abenteuersport
  9. Teil V Liebe und Sexualität
  10. Teil VI Wahrnehmung von Querschnittlähmung