Einleitung
1. Religionspädagogik im Dialog. Konvergenztheoretische Ausgangspunkte
Der Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser unterscheidet zwischen Dialog und Diskurs als zwei Formen von Kommunikation (Flusser 2000). Beide sind wechselseitig aufeinander bezogen: In Dialogen werden Informationen einander mitgeteilt, „in der Hoffnung, aus diesem Tausch eine neue Information zu synthetisieren“ (ebd., 16), welche wiederum durch Diskurse bewahrt und verteilt werden kann.1 „Religionspädagogik im Dialog“: Unter diesem Titel finden sich im Kernbestand überarbeitete Einzelstudien des Verfassers, in denen die Religionspädagogik in den Dialog mit verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen tritt – in der Hoffnung, dass dadurch neue für die Religionspädagogik relevante Informationen generiert werden. Dabei legt bereits der Begriff „Religions-Pädagogik“ ihre dialogische Verfasstheit nahe und impliziert zumindest einen wie auch immer gearteten Dialog mit Theologie bzw. Religionswissenschaft einerseits und Pädagogik bzw. generell Bildungswissenschaften andererseits. Anhand der nachstehenden Ausführungen wird deutlich werden, dass dieser für die Religionspädagogik konstitutive interdisziplinäre Dialog erstens noch weiter ausdifferenziert wird und zweitens noch andere wissenschaftliche Disziplinen wie z. B. die Psychologie, Soziologie, Fachdidaktik oder auch Spieltheorie in den Dialog einbezogen werden.
Grundsätzlich ließe sich fragen, ob der Dialog der Religionspädagogik mit der Theologie überhaupt als interdisziplinär zu bezeichnen ist, wenn diese – wie vom Verfasser favorisiert – als theologische Teildisziplin aufgefasst wird. Dafür spricht jedoch (ganz abgesehen von den durch wissenschaftliche Spezialisierung bedingten Entfremdungsprozessen zwischen theologischen Teildisziplinen), dass die Religionspädagogik gleichermaßen in der Pädagogik verankert ist und zum anderen auch alternative Positionen nicht übergangen werden sollen, welche die Religionspädagogik nicht der Theologie, sondern der Religionswissenschaft oder der Pädagogik zuordnen (vgl. dazu Schröder 2012, 265–269). Von daher ist mit den Worten von Friedrich Schweitzer doch eher der grundsätzliche interdisziplinäre Charakter der Religionspädagogik festzuhalten: „Für die wissenschaftliche Religionspädagogik ist eine interdisziplinäre Ausrichtung kennzeichnend. Die Religionspädagogik ist sowohl auf die anderen theologischen Disziplinen bezogen als auch auf nicht-theologische Wissenschaften.“ (Schweitzer 2006, 271)
Gegenwärtig besteht eine Tendenz, u. a. im Anschluss an Jürgen Mittelstraß (1989, 2003), den Begriff der Transdisziplinarität als Idealform von Interdisziplinarität hervorzuheben oder davon abzugrenzen, wobei wiederum durchaus verschiedene Verständnisweisen von Transdisziplinarität bestehen (Defila / Di Giulio 1998, 114f; Klein 2010). Auch Luhmann unterscheidet zwischen drei Formen von Interdisziplinarität, die sich als Reaktion auf die Ausdifferenzierung und Abgrenzung wissenschaftlicher Disziplinen feststellen lassen: 1) „okkasioneller Interdisziplinarität“ (Luhmann 1992, 457), welche z. B. bei interdisziplinären Konferenzen zustande kommen kann, 2) „temporärer Interdisziplinarität“ (ebd., 458), welche sich auf zeitlich begrenzte Projekte bezieht, und 3) „Transdisziplinarität“ (ebd., 459), die von einem für längere Zeit bestehenden Paradigma ausgeht, das eine Relevanz für verschiedene Disziplinen besitzt und zu einem Disziplinengrenzen überschreitenden Dialog führt. Als Paradebeispiel führt Luhmann die Kybernetik an. Von daher kann man auch die Religionspädagogik an sich aufgrund ihrer konstitutiven Verankerung in Theologie und Pädagogik speziell als eine transdisziplinäre Wissenschaft bezeichnen.2 In der vorliegenden Publikation wird generell von Interdisziplinarität gesprochen, da ein weiter Sprachgebrauch bevorzugt wird, der keine Form von Interdisziplinarität von vornherein ausschließt und Transdisziplinarität umfasst.3
Ungeachtet dessen besteht eine Grundentscheidung dieser Publikation darin, dass die Analyse und Reflexion der Interdisziplinarität der Religionspädagogik nicht durch die Auseinandersetzung mit abstrakten „Metatheorien“ zur Inter- bzw. Transdisziplinarität erfolgt, sondern durch die Beobachtung bereits vorhandener inter- bzw. transdisziplinärer Dialoge in der Religionspädagogik. Wie an späterer Stelle in Kapitel 7 noch deutlich werden wird, steht diese methodische Vorgehensweise im Einklang mit Luhmanns wissenschaftstheoretischem Ansatz (Luhmann 1992, 445, 508–511).
Die Intention dieser Studie(n) besteht demnach in einer doppelten Hinsicht: Einerseits geht es kommunikationstheoretisch betrachtet um eine „Informationsgewinnung“ durch den religionspädagogischen Dialog mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen (Kapitel 2–6), andererseits besteht das übergreifende Thema dieser Publikation in der wissenschaftstheoretischen Reflexion dieser interdisziplinären Dialoge und daraus resultierenden Überlegungen zur Religionspädagogik als Wissenschaft (Kapitel 1 und 7).
1.1 Konturierung der interdisziplinären Fragestellung: Der konvergenztheoretische Ansatz Nipkows
Obwohl es im obigen Sinne allgemein anerkannt ist, dass sich die Religionspädagogik durch Interdisziplinarität auszeichnet, existieren kaum Publikationen, in denen eingehender reflektiert wird, wie die Religionspädagogik mit anderen Disziplinen in den Dialog tritt. Es ist das Verdienst von Karl Ernst Nipkow, dass er sich auf der Basis von eigenen Vorgängerstudien Mitte der 1970er Jahre in seinem grundlegenden Werk „Grundfragen der Religionspädagogik“ dieser Problematik eingehend stellte und eine in der religionspädagogischen Diskussion viel beachtete und zukunftsweisende Weichenstellung formulierte, die auch in aktuellen Veröffentlichungen als ein in hohem Maße bestehender religionspädagogischer Konsens im deutschsprachigen Raum bezeichnet werden kann (Schröder 2012, 268).
Nipkow plädiert mit besonderem Fokus auf Theologie und Pädagogik für „multiple und methodisch gleichrangige Zugänge“ (Nipkow 1975, 177): „Eine gleichzeitig theologisch und erziehungswissenschaftlich verantwortete Religionspädagogik muß verschiedene, methodisch gleichrangige Zugänge verfolgen und die Lösungen in den Schnittpunkten eines vielperspektivischen (mehrdimensionalen) Koordinatengefüges suchen. Die Forderung multipler Zugänge ist in der neueren Erziehungswissenschaft selbstverständlich geworden. Ebenso wichtig ist, daß die Zugänge methodisch als gleichrangig angesehen werden. Von keiner Fragestellung (gesellschaftspolitisch, pädagogisch, psychologisch, soziologisch, theologisch) sollte im Vorhinein eine geringere oder größere Ergiebigkeit der Sachproblematik angenommen werden.“ (ebd., 177f)
Mit diesem Zitat tritt eine gewisse Spannung hervor, die auch andere Passagen bei Nipkow kennzeichnen: Auf der einen Seite konzentriert er sich – insbesondere dann, wenn er dialektisch argumentiert – auf die beiden Bezugswissenschaften Theologie und Pädagogik, auf der anderen Seite kommen immer wieder auch weitere Bezugswissenschaften wie Gesellschaftspolitik, Psychologie und Soziologie in den Blick. Vielleicht deutet Nipkow dahingehend eine Lösung an, dass er zwei Wirklichkeitsverständnisse unterscheidet und in Verbindung mit wissenschaftlichen Disziplinen in ein dialektisches Verhältnis zueinander setzt: Auf der einen Seite steht die „ältere Religionspädagogik“, „theologischer Realismus“ sowie Theologie, auf der anderen die „neuere evangelische Religionspädagogik“, ein „erziehungs- und sozialwissenschaftliche(r) Realismus“ und die „Humanwissenschaft (Psychologie, Soziologie usw.)“ (Nipkow 1982, 29). Die Pädagogik sowie alle anderen außertheologischen Wissenschaften wie die Psychologie und Soziologie wären demnach dahingehend verbunden, dass sie sich auf ein von der Theologie unterschiedenes, gemeinsames Wirklichkeitsverständnis beziehen.
Der dahinterstehende konvergenztheoretische Ansatz besagt, dass religionspädagogische Kriterien vor „dem Hintergrund von Christentumsgeschichte und neuzeitlicher Freiheitsgeschichte“ (Nipkow 1975, 173) auf doppelte Weise „theologisch und gesellschaftspolitisch-pädagogisch“ (ebd., 173f) zu verantworten sind. Diese doppelte konvergenztheoretische Verantwortung religionspädagogischer Aussagen suggeriert keineswegs eine „vorhandene Identität, prästabilisierte Harmonie oder schlechte Vermittlung im Sinne eines Minimalkonsensus“ (ebd., 176f). Vielmehr betont Nipkow nachdrücklich die Dialektik in seinem konvergenztheoretischen Orientierungsmodell, wenn er etwa schreibt, dass es um die „Frage nach konvergierenden und divergierenden Elementen“ (ebd., 177) oder um „Zusammenhang und (!) Unterscheidung“ (ebd., 173) geht. Dies führt dazu, dass er in Bd. 1 seiner Grundfragen feststellt, dass die Bezeichnung „konvergenztheoretisch-dialektische[s] Orientierungsmodell“ (ebd., 177) präziser wäre und er in Bd. 3 noch etwas pointierter sogar das Dialektische voranstellt und vom „dialektisch-konvergenztheoretische[n] Ansatz“ (Nipkow 1982, 28) spricht. In gewisser Weise kulminieren seine diesbezüglichen Gedanken in folgender Aussage: „Die pädagogische Sachgemäßheit muß gleichsam vom Theologen theologisch gefordert, die theologische Sachgemäßheit vom Pädagogen pädagogisch gefordert werden können; andernfalls ist der Entwurf bedenklich.“ (Nipkow 1975, 178)
Bereits an dieser Stelle sei allerdings die Frage aufgeworfen, hinsichtlich welcher Fragestellungen religionspädagogischer Forschung sich dieses Postulat befolgen lässt. Nipkow demonstriert die Möglichkeit dessen an grundlegenden Themen wie der Freiheitsthematik. Inwieweit dieses konvergenztheoretische Postulat jedoch bei anderen religionspädagogischen Forschungsfragen und -themen greift, soll im Rückblick (Kapitel 7) auf die nachstehenden Studien in den Kapiteln 2–6 geprüft werden.
Im Fortgang seiner Überlegungen widmet sich Nipkow methodologischen Fragen und argumentiert überzeugend gegen ein normativ-deduktives Denken und für die wechselseitige Verwiesenheit von Hermeneutik, Empirie und Ideologiekritik (ebd., 179–189). Des Weiteren plädiert er dafür, dass die „Kriterien für die theologische und pädagogische Sachgemäßheit religionspädagogischer Aussagen“ (ebd., 189) sowie „die Frage der Wahrheitsfähigkeit pädagogischer wie theologischer Aussagen“ (ebd., 191) als Konsensusbildung in einem hermeneutisch-kritischen und politischen Prozess herrschaftsfreier Kommunikation erfolgt. „Als schwierigstes wissenschaftstheoretisches Problem“ des konvergenztheoretischen Ansatzes diskutiert er „die Abbildbarkeit der verschiedenen Perspektiven aufeinander und die Transponierbarkeit der je fachspezifischen Begriffe bzw. Modellvorstellungen.“ (ebd., 192) Für Nipkow ist „die Frage der Abbildbarkeit theologischer und pädagogischer Aussagen […] so lange falsch gestellt, wie von der notwendigen prinzipiellen Fremdheit zweier Erfahrungs- und Sprachwelten ausgegangen wird.“ (ebd., 193) Hier fällt die etwas emphatische Argumentationsweise auf (notwendig, prinzipiell). Als noch interessanter erweist sich jedoch die Beobachtung (vgl. dazu Kapitel 7), dass und auf welche Weise die Argumentation hinsichtlich des Abbildungsproblems der beiden Wissenschaften Pädagogik und Theologie in Zusammenhang gebracht wird mit einer Wirklichkeitsebene, die wiederum in zwei Erfahrungs- und Sprachwelten unterschieden (aber nicht getrennt!) wird: Die der Pädagogik zugeordnete Erfahrungs- und Sprachwelt sowie die der Theologie zugeordnete Erfahrungs- und Sprachwelt. Beide besitzen nach Nipkow in der Freiheitsthematik einen gemeinsamen Rahmen (ebd., 195). Wie darin „theologische und pädagogische Kriterien aufeinander ,abzubilden‘ sind, steht nicht im vornherein fest, sondern hängt davon ab, wie beide Seiten die Thematik der anderen Seite wechselseitig als verschlüsselte eigene Thematik erkennen.“ (ebd., 196). Diesen interpretativen Prozess der Konsensbildung charakterisiert Nipkow als ein Wagnis und hebt dabei hervor: „Dem Wagnis der Theorie liegt dabei immer wieder das Wagnis der Praxis voraus“.
Schließlich prüft Nipkow seinen konvergenztheoretischen Ansatz anhand von „drei Verhältnisbestimmungen theologischer Rede über Erziehung“ (ebd., 197; ohne die Hervorhebung im Original). Konsequent ist erstens seine Infragestellung einer integralen Ableitung pädagogischer Aussagen durch deduktives Denken aus der Theologie (ebd., 197–200). Keineswegs selbstverständlich ist zweitens seine Relativierung der freisetzenden Unterscheidung der Pädagogik von der Theologie, wie diese nicht zuletzt auch Martin Luther favorisierte (ebd., 200–211). Er sieht aber die Wahrheitsmomente beider Verhältnisbestimmungen aufgehoben in dem drittens von ihm favorisierten Modell einer interpretativen Vermittlung von Pädagogik und Theologie, in dem es darum geht, „die pädagogischen Sachverhalte gleichzeitig theologisch zu interpretieren“ (ebd., 212). Es spricht für Nipkow, dass er offen die damit verbundene Aporie des Verdoppelungs- und Propriumsproblems diskutiert. Diese besteht aber aufgrund der Zusammenhänge von christlicher und neuzeitlicher Geschichte geradezu zwangsläufig und „macht die Religionspädagogik zu einem Paradigma der Theologie überhaupt“ (ebd., 219).
Auch wenn die voran stehende Nachzeichnung der Argumentation Nipkows bestimmte Probleme bereits vorsichtig andeutet, sei an dieser Stelle ausdrücklich die großartige geschichtliche Leistung Nipkows gewürdigt, die er mit seinem konvergenztheoretischen Ansatz vollbrachte: In einer turbulenten religionspädagogischen Phase und einer Zeit mit gravierenden gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umbrüchen vermochte er mit dem konvergenztheoretischen Ansatz ein integratives Modell auszuarbeiten, in dem damals aktuelle theologische (besonders W. Lohff, T. Rendtorff, P. Tillich) und philosophische Entwürfe (besonders K.-O. Apel; J. Habermas) konsistent verarbeitet wurden und mit dem er eine mit problematischen Alternativen operierende religionspädagogische Diskussion im besten dialektischen Sinne „aufzuheben“ vermochte. Ungeachtet daran geäußerter Kritikpunkte (Hemel 1984, 83–89) ist Nipkows konvergenztheoretischer Ansatz bis heute als federführender wissenschaftstheoretischer Entwurf der Religionspädagogik anerkannt (Schweitzer 2006, 274; Englert 2008, 18, 20f, 25, 45; Schröder 2012, 268).
Gleichwohl verdichten sich insbesondere aufgrund der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft und damit auch der Wissenschaften die Anzeichen, dass gewisse Korrekturen und Akzentverschiebungen an diesem Ansatz angebracht erscheinen. Vor dem Hintergrund des konvergenztheoretischen Ansatzes Nipkows stellen sich Fragen, die auf der Basis der folgenden Einzelstudien in Kapitel 7 abschließend reflektiert werden:
1. Nipkows Theologiebegriff bleibt in seinem Verhältnis zur Religionspädagogik sowie anderen außertheologischen Disziplinen dahingehend abstrakt, dass er „die“ Theologie ohne ihre Ausdifferenzierung in Teildisziplinen reflektiert. Welche zusätzlichen Herausforderungen stellen sich aber, wenn man die Religionspädagogik als eine unter verschiedenen theologischen Teildisziplinen versteht und sich die Pluralität von Positionen innerhalb dieser einzelnen theologischen Teildisziplinen vor Augen führt? Am Rande sei bemerkt, dass diese Frage gleichermaßen hinsichtlich „der“ Pädagogik geltend gemacht werden kann.
2. Nipkow argumentiert auf eine Weise dialektisch-konvergenztheoretisch, dass er häufig mit der Zweiheit von Theologie und Pädagogik bzw. mit einer Zweiheit von Wirklichkeitsebenen operiert. Ist jedoch in Anbetracht der zunehmenden Pluralisierung und Ausdifferenzierung religionspädagogischer Bezugsdisziplinen die Fokussierung auf Theologie und Pädagogik angemessen? Und: Stellt nicht u. a. in Anbetracht der bildungstheoretischen Unterscheidung in verschiedene Weltzugänge (W. Humboldt, J. Baumert etc., zusammengefasst bei Dressler 2006) die Unterscheidung in zwei Wirklichkeitsebenen eine zu grobe Vereinfachung dar?
3. Nipkow begründet religionspädagogische Kriterien mit ihrer theologischen und pädagogischen Sachgemäßheit und eröffnet damit den Bezug auf zwei voraus liegende Wirklichkeitsebenen, welche in der Freiheitsthematik einen weiten gemeinsamen thematischen Rahmen besitzen. Ohne die Relevanz der theologischen und pädagogischen Sachgemäßheit für die Religionspädagogik oder die Vorgängigkeit der Praxis gegenüber der Theorie bestreiten zu wollen: Ist es nicht angemessener, religionspädagogische Kriterien primär auf die spezifische Wirklichke...