1 Geschichtlicher Überblick
Nach den ersten prähistorischen und altägyptischen Empfehlungen zur Behandlung des Schädelhirntraumas sind erst in der Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Schädelhirntrauma publiziert worden (eine ausführliche historische Übersicht findet sich bei Rowbotham 1942, Tönnis 1948, Loew 1950, Muller 1976). Der französische Chirurg Ambroise Paré benutzte im 16. Jahrhundert den Begriff »Commotio«, um eine posttraumatische Funktionsstörung zu beschreiben. Im 17. Jahrhundert unterschieden Boirel und Petit Commotio von Contusio und Compressio cerebri in Abhängigkeit des Schweregrades der klinischen Befunde (Ommaya et al. 1964). Detaillierte Unterscheidungen der klinischen Manifestationen der Commotio, Contusio und Compressio wurden von Dupuytren publiziert. Er bezweifelte jedoch selbst, dass diese Verletzungszeichen tatsächlich unabhängig voneinander existierten (Muller 1976). Im 19. Jahrhundert definierten von Bruns (1854) und von Bergmann (1889) die Commotio als eine kurze und vollständig rückläufige Störung des Bewusstseins und der autonomen Funktionen, einhergehend mit Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen. Morphologisch erkennbare Läsionen seien bei der Commotio nicht zu finden. Im 20. Jahrhundert führte Hugo Spatz (1937) dieses Phänomen der vorübergehenden Störungen ohne morphologische Läsionen auf reversible molekulare Reaktionen zurück (Denny-Brown und Russel 1941), die im Gehirn keine Spuren hinterlassen, »spurlose Vorgänge« (Unterharnscheidt 1963). Rowbotham (1942) benutzte den englischen Terminus »concussion« bedeutungsgleich mit dem Begriff Commotio, um eine unterschiedliche und vollständig rückläufige klinisch erfassbare Funktionsstörung nach Schädelhirntrauma zu beschreiben, begleitet von vollständigem oder teilweisem Bewusstseinsverlust, ohne dass auf der Ebene der Lichtmikroskopie Spuren intrazerebral gefunden werden könnten. Im Gegensatz hierzu wurde bei der Contusio immer eine morphologisch fassbare Läsion von Hirngewebe unterstellt, mit in der Regel länger anhaltenden neurologischen Störungen. Der Begriff »Compressio cerebri« wurde verwendet für Blutungen und andere raumfordernde Läsionen, wie zum Beispiel das posttraumatische Hirnödem.
1942 bemühte sich Cairns darum, anhand von klinischen Zeichen nach Schädelhirntrauma auf den Schweregrad der Verletzung zu schließen. Er war der Auffassung, dass die Dauer der posttraumatischen Amnesie der beste Maßstab wäre. Er fand eine Korrelation zwischen der Dauer der posttraumatischen Amnesie und der Dauer der Arbeitsunfähigkeit nach Schädelhirntrauma.
Nachdem mit weiteren klinischen Beobachtungen die Korrelation zwischen histopathologischen und klinischen Befunden weniger eng war, als nach dem frühen Konzept der Commotio und Contusio vermutet (Ommaya 1982), werden diese Begriffe seltener verwendet. Die immer besser werdende Bildgebung des Gehirns ermöglicht eine präzise Beschreibung der intrazerebralen Verletzungen nach Schädelhirntrauma. So können Verletzungen, die unter dem Zeichen der Commotio, also der Gehirnerschütterung auftreten, eine vollständige klinische Erholung innerhalb weniger Stunden aufweisen und trotzdem bildmorphologisch mit Kontusionen des Hirngewebes einhergehen. Die klinischen Zeichen der Hirnverletzung erwiesen sich von größter prognostischer Bedeutung. Tönnis und Loew empfahlen 1953 eine Einteilung des Schweregrades des Schädelhirntraumas anhand klinischer Beobachtungen in Grad I, II und III. Ein Schädelhirntrauma Grad I bedeutet nach dieser Einteilung, dass sich alle Störungen innerhalb von vier Tagen zurückbilden. Es zeigte sich bei Nachuntersuchungen, dass 99 % der Patienten, die eine Grad I-Verletzung hatten, wieder arbeitsfähig wurden. Die Grad I-Verletzung nach Tönnis und Loew entspricht der klinischen Bedeutung der Hirnerschütterung. Klinische Störungen, die sich nach dem vierten Tag vor Ablauf von drei Wochen zurückbildeten, wurden einer Grad II-Hirnverletzung zugeordnet. Störungen, die sich nicht innerhalb von drei Wochen nach Schädelhirntrauma zurückbildeten, wurden einer Grad III-Schädelhirnverletzung zugeordnet. Die Besonderheit dieser Einteilung nach Tönnis und Loew ist, dass der Schweregrad einer Hirnverletzung erst im Nachhinein festzustellen ist. Um jedoch im Verlauf Verschlechterungen feststellen zu können, bedurfte es einer detaillierteren Einteilung der neurologischen Ausfallserscheinungen nach einem Schädelhirntrauma. 1974 schlugen Jennett und Teasdale eine Komagradeinteilung vor, die einen neurologischen Befund in Punktzahlen ausdrückt.
Diese praktische Einteilung (»a practical scale«) erlaubte eine jederzeitige Klassifizierung eines neurologischen Befundes. Nach dieser ersten Komaklassifikation wurden weitere Komaskalen empfohlen. Ein internationaler Konsensus hierzu wurde von der WFNS (World Federation of Neurosurgical Societies) 1978 (Brihaye et al. 1978) publiziert. Die stürmische Entwicklung der Bildgebung, mit der auch kleinste Gewebsveränderungen dargestellt werden können, erlaubte weitere Einteilungen. So wurde die Schwere der Verletzung zunächst nach dem CT-Befund klassifiziert. Eine neuere Möglichkeit der Einteilung der Schädelhirnverletzungen ergibt sich aus den kernspintomographischen Befunden.
2 Epidemiologie der Schädelhirnverletzung
Epidemiologische Daten zu Schädelhirnverletzungen sind spärlich. Wie bei anderen epidemiologischen Daten ist ihre Qualität entscheidend davon abhängig, welche Definitionen verwendet werden. Uneinheitliche Verwendung von Diagnosen führt dazu, dass verschiedene Studien schwer vergleichbar sind. Insbesondere trifft dies zu auf zeitliche Trends während der letzten Jahrzehnte und auf den internationalen Vergleich mit der Rate von Verletzungen in anderen Ländern. Mortalitätsstatistiken sind dabei noch die verlässlichsten Quellen. Statistiken über Behandlungen sind wegen der Mehrfachzählungen nur sehr eingeschränkt verwertbar. Da viele Schädelhirnverletzungen nicht zum Tode führen, ist die Datenlage bzgl. der wahren Inzidenz von Schädelhirnverletzungen schlecht.
In Deutschland weist das Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes 2004 insgesamt etwa 818.000 Verstorbene aus, davon etwa 33.000, also 4 %, durch Unfälle. Dabei ist Unfall keineswegs gleich Verkehrsunfall: Nur 6.000 der o. g. 33.000 Unfälle sind Verkehrsunfälle. Häufiger noch als tödliche Verkehrsunfälle sind häusliche Unfälle mit Todesfolge. Die Verteilung nach den für die Ursache von Verletzungen relevanten ICD-Ziffern zeigt Tabelle 2.1.
Tab. 2.1: Tödliche Unfälle in Deutschland 2004 (Quelle: Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes)
V01–V99 | Transportmittelunfälle | 6.087 |
W00–W19 | Stürze | 7.913 |
W65–W74 | Unfälle durch Ertrinken | 401 |
X00–X84 | Exposition Rauch, Feuer | 446 |
X60–X84 | Vorsätzliche Selbstbeschädigung | 10.733 |
X85–Y09 | Tätlicher Angriff | 526 |
| Nicht zuzuordnen | 6.619 |
Eine detailliertere Aufstellung nach Schädelhirnverletzungen ist nur aus der Statistik der vollstationär Behandelten zu ersehen (Tab. 2.2). Bei der Bewertung der Zahlen ist zu bedenken, dass einige Patienten mehrfach genannt werden können, andere, die nur ambulant behandelt wurden, gar nicht.
Tab. 2.2: Vollstationäre Behandlungen mit Kopfverletzungen in Deutschland 2003 (Quelle: Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes)
ICD-Ziffer | |
S00 | Oberflächliche Verletzung des Kopfes | 22.108 |
S01 | Offene Wunde des Kopfes | 14.592 |
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