IV. „Neue Konzepte, alte Akteure?“ – Die konfessionellen Wohlfahrtsverbände und die Umbrüche der Heimerziehung
Von der Strafe zur „Behandlung“ (und zurück?) Der Umgang mit delinquenten Jugendlichen in den USA von den 1960er bis zu den 1980er Jahren
Dirk Schumann
The two contrasting views […] punishment versus treatment, are sometimes recognized by the punishment-minded in a somewhat subtle form. They say that ,everything has been tried – now we must turn to punishment.‘ This view is pitifully misinformed. About the only device that has been thoroughly tried has been punishment. Rehabilitative methods, even today, get token support, at best.1
Als der Kriminologe Sol Rubin 1961 diese Einschätzung formulierte, hatte sich der Umgang mit delinquenten Jugendlichen in den USA zu wandeln begonnen, in Richtung auf einen betreuenden, heilenden und helfenden Zugriff, für den der Begriff „treatment“ gebräuchlich wurde. Zehn Jahre später hätte Rubin sein Urteil deutlich modifizieren müssen, doch zwanzig Jahre später wäre es ungeachtet aller mittlerweile durchgeführten Reformen im Kern wiederum berechtigt gewesen. Dieser Entwicklung soll im Folgenden nachgegangen werden.
Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den geschlossenen Erziehungsanstalten. Gegen solche Heime richtete sich bekanntlich die Hauptkritik an der Fürsorgeerziehung in Westdeutschland.2 Dies war in den USA etwas anders, wie sich überhaupt die Reformdiskussion und -praxis in den USA in wichtigen Punkten anders gestaltete. In erster Linie – dies ist die hier vertretene Hauptthese – waren es Gerichtsentscheidungen und das Engagement von Experten, die in den USA den Reformprozess in den 1960er und 1970er Jahren vorantrieben. Soziale Bewegungen dagegen verstärkten zwar ein reformfreundliches politisches Klima, vor allem durch ihre Beteiligung an lokalen Sozialprojekten, nahmen insgesamt aber wohl geringeren Einfluss als die APO und ihre „Heimkampagnen“ in Deutschland.3 Im Vergleich zur Bundesrepublik erwiesen sich die „langen“ 1970er Jahre4 in den USA für die Heimerziehung als weniger markanter Zeitabschnitt. Zum einen setzten Reformen des juvenile justice system, zu dem die Erziehungsanstalten gehörten, schon früher ein, zum anderen verhinderten die politisierten Ängste, die aus steigender Kriminalität resultierten, einen grundlegenden Wandel des Systems, auch wenn die Gault-Entscheidung des Supreme Court von 1967 wichtige Veränderungen herbeiführte. Dieses Verlaufsmuster ergab sich auch aus der Struktur des juvenile justice system, dessen Erziehungsheime sich in staatlicher Trägerschaft befanden, während nicht-staatlichen und somit auch kirchlichen Organisationen nur eine unterstützende, im Lauf der Zeit aber zunehmende Bedeutung im Bereich der Delinquenz-Prävention und der Betreuung von gefährdeten Jugendlichen zukam.
Die folgenden Ausführungen werden sich weitgehend auf die zeitgenössische Fachdiskussion über das juvenile justice system konzentrieren und dabei vor allem kriminologische und soziologische Quellen heranziehen. Über die Praxis in den Institutionen im untersuchten Zeitraum lässt sich angesichts des Standes der Forschung dagegen nur wenig sagen. Historische Studien zum juvenile justice system und zur Heimerziehung haben die Zeit nach 1945 bislang noch kaum in den Blick genommen. In ihrem Mittelpunkt standen bislang neben der kolonialen Periode und dem frühen 19. Jahrhundert die Zeit um 1900 und die ersten Jahrzehnte danach, als sich im Zeichen von Städtewachstum und „neuer Einwanderung“ Handlungsbedarf zu ergeben schien und mit der international modellhaften Einrichtung des juvenile court ein wichtiger Reformschritt getan wurde. Mehrheitlich haben die vorliegenden Arbeiten kritisch auf den Mittelschichtblick hingewiesen, der sich auf die unter die Jurisdiktion des juvenile court geratenden Kinder und Jugendlichen richtete und von einem spezifischen Normverständnis her Delinquenz definierte, und sie haben die Erziehungsanstalten ungeachtet aller Veränderungsbemühungen vom Primat der Disziplinierung geleitet gesehen.5
Der erste und kürzere Teil der folgenden Ausführungen befasst sich mit der Vorgeschichte des Untersuchungszeitraums, vor allem mit der Entstehung des juvenile court. Dies ist insofern unverzichtbar, als dessen Aufgabenbereich und Praxis zentrale Aspekte der Reformdebatte der 1960er und 1970er Jahre bildeten. Im längeren zweiten Teil geht es um die juristischen und sozialwissenschaftlichen Diskussionen und politischen Entscheidungen, die den Reformprozess vorantrieben, und um seine institutionellen Konsequenzen.6 Der dritte und letzte Teil skizziert die seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre manifeste Rückwendung zu einem „get tough“-Ansatz im Umgang mit Jugenddelinquenz.
I.
Die staatlich sanktionierte Kontrolle kindlichen und jugendlichen Verhaltens hat in den USA eine lange Tradition. So sah das 1646, also nur zwei Jahrzehnte nach Gründung der Kolonie, in Kraft gesetzte „Stubborn Child Law“ von Massachusetts vor, dass ein Sohn im Alter von 16 und mehr Jahren dann, wenn er sich Vater und Mutter gegenüber hartnäckig widersetzlich zeigte, mit einem Katalog abgestufter Strafen zu belegen war, bis hin zur (offenbar in keinem Fall tatsächlich praktizierten) Hinrichtung. Offensichtlich hielten die Puritaner jugendliche Devianz selbst in ihren überschaubaren Gemeinschaften für ein von der Familienerziehung allein nicht vollständig handhabbares und potentiell so verbreitetes Phänomen, dass sich die politischen Instanzen eine Eingreifmöglichkeit vorbehalten mussten.7 Den nächsten Schritt der Entwicklung des Umgangs mit delinquenten Kindern und Jugendlichen markierte die Gründung von Rettungshäusern (Houses of Refuge) in den 1820er Jahren in Boston, New York und Philadelphia, die auf die sozialen Probleme in den urbanen Zentren der neuen Republik reagierten. Auch wenn sie unterschiedliche philosophische und religiöse Wurzeln aufwiesen (den Calvinismus, die Aufklärung oder die Pädagogik Pestalozzis), folgten sie doch demselben Grundgedanken der Charakterbildung durch besondere Zuwendung in einer geschlossenen Institution. Die zunächst von privaten Vereinen getragenen Einrichtungen konnten freilich keine sonderlichen Erfolge in der Reduzierung von Delinquenz vorweisen und hatten mit finanziellen Problemen zu kämpfen, was dazu führte, dass sie sich um öffentliche Mittel bemühten. Ihre Versuche hatten Erfolg, allerdings um den Preis der Übernahme der Einrichtungen durch die öffentliche Hand und einer damit einhergehenden Fokussierung auf die Sicherheit der jeweiligen Stadtbevölkerung vor den Zöglingen. Ein radikalreformerischer Ansatz wie der des Bostoner Anstaltsleiters E.M.P. Wells, der auf die Anwendung von Körperstrafen weitgehend verzichtete und eine partielle Selbstregierung der Zöglinge einführte, ließ sich somit nicht weiterführen. Außerdem entstanden jetzt in den Einzelstaaten – im Süden mit etwa 25jähriger Verspätung aufgrund der Zerstörungen des Bürgerkriegs – „reform“ bzw. „training schools“ in ländlicher Abgeschiedenheit, die demselben Grundgedanken folgten und zudem nach einem Muster verfuhren, an das das juvenile justice system anschließen sollte: Die Einweisung bedurfte keines Gerichtsbeschlusses, sie erfolgte im Prinzip bis zur Volljährigkeit und sie erfasste auch nicht-kriminelle Tatbestände, nämlich „incorrigibility“ und „neglect“, also „Verwahrlosung“ und Vernachlässigung durch die Eltern.8
Um 1900 wurden mit der Einrichtung des juvenile court die im Prinzip bis heute gültigen Grundlagen für das juvenile justice system gelegt. Der juvenile court – eine Mischung von Jugendgericht und Jugendwohlfahrtsbehörde – sollte im Sinn der zeitgenössischen Reformbewegung der „Progressives“ für einen rationaleren, von wissenschaftlicher Expertise getragenen Umgang mit jugendlichem Fehlverhalten sorgen und dadurch die Zahl der in geschlossene Anstalten überwiesenen Jugendlichen ebenso senken wie die durch die Unterbringung entstehenden Kosten. Eine besonderes Verfahren vor dem juvenile court sollte eine Stigmatisierung des Jugendlichen als Krimineller vermeiden: Der Richter agierte als väterlicher Freund, er leitete keine Verhandlung sondern ein „meeting“ und suchte in ihm nicht Schuld festzustellen sondern den besten Weg zur Verhaltensänderung des Jugendlichen zu finden. Deshalb bedurfte es auch keiner juristischen Verfahrensregeln zum Schutz des vorgeladenen Delinquenten.9 Eine zentrale Rolle sollte dem Bewährungshelfer (probation officer) zukommen, der, auf der Basis einer qualifizierten Ausbildung, die Koordination und Überwachung der heranzuziehenden Betreuungs- und Hilfsangebote auch privater Träger zu übernehmen hatte. Schien somit eine Zäsur im Umgang mit delinquenten Jugendlichen erreicht, waren die Kontinuitäten zum vorherigen Zeitraum doch unübersehbar. Das Personal mit den gewünschten Qualifikationen stand zunächst keineswegs zur Verfügung, was etwa dazu führte, wie David Wolcott für Detroit nachgewiesen hat, dass aus den Polizeibeamten, die sich um Schulschwänzer gekümmert hatten, nun die neuen Bewährungshelfer wurden. Tatsächlich stieg dann im Zeichen einer verstärkten Aufmerksamkeit für Jugendprobleme und eines Ausbaus der Polizei im Zuge städtischer Reformen die Zahl der von der Polizei festgenommenen und dem Gericht zugeführten Jugendlichen ebenso wie die Zahl derjenigen, die schließlich in die staatlichen Erziehungsanstalten überwiesen wurden. Das lief den Intentionen der Schöpfer des juvenile court durchaus zuwider. Dabei reflektierten die gestiegenen Zahlen vor allem eine Zunahme der Festnahmen aufgrund sogenannter Statusvergehen, also etwa wegen Schulschwänzen, Alkoholgenuss oder dem Überschreiten von Sperrzeiten, zu denen Jugendliche sich nicht mehr in der Öffentlichkeit aufhalten durften.10 Das juvenile justice system intensivierte also die Intervention im Vorfeld eigentlich kriminellen Handelns, wie es ja auch die deutsche Fürsorgeerziehung zur gleichen Zeit unternahm. Bis in die späten 1950er Jahre wurde dieser Zugriff in mehr oder weniger allen Einzelstaaten angeleitet von einer breiten Definition von „delinquency“, die neben kriminellen Vergehen eben auch eine breite Palette von Statusvergehen einschloss.11
Das Gesamtsystem der juvenile justice, das damit etabliert war, sollte sich in seinen Grundstrukturen zwar nicht mehr verändern, doch seine personelle Expansion und Professionalisierung ging in den folgenden Jahrzehnten einher mit Reformen. Einen ersten wichtigen Reformschrit...