Philosophische Grundlagen der Psychoanalyse
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Philosophische Grundlagen der Psychoanalyse

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Über dieses Buch

Dieses Werk beleuchtet aus philosophischer Sicht die neuere Psychoanalyse, die zwischen der klinisch ausgerichteten Kleinianischen Theorie und der extraklinisch orientierten neueren Säuglingsforschung entstanden ist. Dabei zeigt sich ein therapeutisch und wissenschaftlich fruchtbarer Gegensatz zwischen dem klinisch rekonstruierten Unbewussten des Säuglings nach Melanie Klein und dem in direkter Beobachtung untersuchten Unbewussten nach Daniel Stern. Insbesondere für die psychoanalytische Lehre von der Abwehr zeichnen sich neue Perspektiven ab. Nicht zuletzt wird die Diskussion auch in die Wissenschaftsphilosophie und -geschichte eingeordnet.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783170244191
Auflage
1

Teil III – Die wissenschaftlichen Grundannahmen der Psychoanalyse in philosophischer Analyse

9 Triebmodell oder Intersubjektivitätsmodell. Anthropologische (Hobbes) oder entwicklungsgeschichtliche (Rousseau) Grundorientierung

Einführung
Beebe und Lachmann sehen in ihrem Buch »Säuglingsforschung und die Psychotherapie Erwachsener« (2004) die Psychoanalyse in einem grundlegenden Wandel vom intrapsychischen Konfliktmodell (Ein-Personen-Modell) zum intersubjektiven der wechselseitigen Bezogenheit zweier Personen (Zwei-Personen-Modell). Das Ein-Personen-Modell ist für sie mit dem Triebkonzept verbunden, das Zwei-Personen-Modell mit der Vorstellung der Wechselwirkung zweier Personen aufeinander. Dieser Übergang hat für die Autoren damit zu tun, dass Analyse im Triebmodell die intrapsychischen Konflikte des Analysanden untersucht, wobei der Analytiker lediglich als verstehend-deutendes Gegenüber in Erscheinung tritt, nicht als eigene Person bezogen auf die des Analysanten. Das klinische Subjekt steht im Zentrum. Dagegen wird das intersubjektive Modell mit der wissenschaftlichen Zuwendung zur Säuglingsbeobachtung relevant, in der die Wechselwirkung von Mutter und Baby ins Zentrum rückt. Der Analytiker setzt sich hier als Dritter in Beziehung zur Dualbeziehung. Der beobachtete Säugling wird zum Ausgangspunkt eines neuen Verständnisses, welches dann in zweiter Linie auch Auswirkungen auf das klinische Verständnis hat. Im Unterschied zur Triebtheorie steht jetzt die Theorie der Bindung im Zentrum, nämlich die Frage, ob die Anbindung des Säuglings an die Mutter gelingt. Beebe und Lachmann zeigen hier eine distinkte Alternative auf: Triebtheorie oder intersubjektive Theorie. Dies veranlasst uns zu einer kritischen Abwägung der Gründe für und gegen das jeweilige Modell. Wir knüpfen hier an die Darstellung im Kapitel Metapsychologie an, beziehen uns aber jetzt zur Einordnung auf die philosophischen Hintergrundsmodelle.

Lernziele

• Kritische Abwägung der wissenschaftlichen Alternative Triebtheorie oder Intersubjektivitätstheorie in der Psychoanalyse
• Einwände gegen die Klassische Triebtheorie bei Freud, insbesondere die Vorstellung eines unbegrenzten Drängens des Triebes und einer zur körperlichen Energie parallelen seelischen Energie
• Notwendigkeit der Neubestimmung der Dimension der Körperlichkeit in der Psychoanalyse als Bedürfnis, Wunsch, Begehren und die Entwicklung einer Affektlehre mit mimisch- gestischer Körpersprache
• Verknüpfung einer neuen Antriebs- und Motivationslehre mit einem Intersubjektiven Modell
1. Für die Triebtheorie spricht, dass sie die Analyse seelischer Prozesse an die Natur und den Körper bindet. Sie versucht, das Problem der psychophysischen Tätigkeit von Fechner zu lösen. In der Sprache von O. Marquard (1987, S. 54 f.) tut sie dies, indem sie einen Begriff der Triebnatur etabliert. Diesen Begriff der Triebnatur müssen wir genauer untersuchen. Er ist zu unterscheiden von der Romantiknatur und der Kontrollnatur. Die Kontrollnatur, so zeigt Marquard, meint den Körper als Maschine, welche vom Geist beherrscht wird. Das erinnert an R. Descartes. Die Romantiknatur meint den Körper als Organismus, der danach strebt, sich dem Geist und der Vernunft anzugleichen. Dies entspricht dem Konzept von Schelling und Carus. Die Triebnatur aber ist zunächst blinder Wille im Sinne von Schopenhauer und Nietzsche. Sie enthält die Vorstellung, dass alles, was im Körper geschieht, für das Verständnis des Seelischen relevant ist. Aber der Psychoanalytiker hat streng genommen dazu nicht den direkten empirischen Zugang wie der Biologe oder der Neurologe, sondern den psychologischen Zugang, welchen die Gestaltpsychologen den enterozeptiven (das Innen wahrnehmend) und den proprio-zeptiven (die Körpergrenzen wahrnehmend) nennen. In der Sprache der Körpertherapie ist sie darauf angewiesen, das Spüren der Körperempfindungen aufzugreifen und zu entwickeln.
2. Wir haben gesehen, dass die Triebnatur in der Psychoanalyse im Gegenzug zum biologischen Instinktbegriff entwickelt wird. Dies entspricht Vorstellungen der philosophischen Anthropologie, welche im menschlichen Bereich von einer Instinktreduktion ausgehen (bis auf wenige Basisinstinktansätze, welche dem Säugling den Einstieg ins Leben erleichtern) (Vgl. Claessens, 1970, S. 99 f.). Dieser Gedanke enthält die Vorstellung, dass menschliches Verhalten vorwiegend nicht durch Verschaltung von angeborenen Auslösemechanismen und Schlüsselreizen im Sinne von K. Lorenz geregelt ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies eine Freisetzung der menschlichen Antriebe körperlicher Art für Lernerfahrungen und Lernprozesse. Bei Freuds Triebbegriff entspricht dem die Vorstellung der Plastizität der Triebe für kulturell-gesellschaftliche Erfahrungen. Die im klassischen Triebbegriff enthaltene Vorstellung der Plastizität bedeutet aber nicht, dass er keine angeborenen Vorgaben enthält. Es sind dies, wie wir gesehen haben:
a) Das evolutionär-genetisch verankerte Erbe nach Darwin
b) Die Hierarchie von Gehirnstrukturen im Jackson-Modell
3. Der klassische Triebbegriff der Psychoanalyse versucht das Problem der psychophysischen Tätigkeit in zwei Ansätzen zu lösen:
a) Der Ansatz der ersten Topik Freuds geht von der Vorstellung von Körper und seelischer Repräsentanz als zweier paralleler ontologischer Bereiche aus, wobei der Körper eine ständige Arbeitsanforderung an das psychische Leben darstellt. Trieb ist also die Verbindung dieser beiden Bereiche und er wird vorgestellt als ständiges Drängen. Da die Instinktsicherung nicht ausreichend gegeben ist, muss das Problem psychosozial gelöst werden. Das Drängen muss seine gesellschaftlichen Objekte finden und es muss sich selbst klar werden, welches Ziel es an den Objekten realisieren will. Dazu muss der Trieb eine Repräsentanz entwickeln, d. h. eine Vorstellung von sich und Affekte, welche die Körperempfindungen umsetzen. Bekanntlich führt dies in der klassischen Triebtheorie
• zu einer Orientierung daran, was Lust bereitet und wie Unlust vermieden werden kann – das Lustprinzip
• zu einer Orientierung daran, was die Objekte in der Realität für Anforderungen stellen – das Realitätsprinzip.
b) Der Ansatz von Freud in der zweiten Topik geht über die erste Fassung des Triebkonzeptes insofern hinaus, als er die Begriffe Es und Ich konzipiert. Das Ich ist demnach
• ein körperliches
• die Projektion einer Oberfläche.
Philosophisch gesprochen ist es körperliches Erleben. Das Es ist der Inbegriff der Wünsche und Leidenschaften und »gegen das Somatische offen«. Philosophisch nähert sich Freud der Vorstellung, dass Körper und Seele nicht mehr als zwei ontologisch getrennte Bereiche konzipiert werden, sondern als sich verschränkende Strukturen. Der Körper reicht ins Erleben und das Erleben ist körperlich.
4. Aber diese Einsicht bleibt ohne theoretische Konsequenz für die Grundvorstellungen des Triebs. Dessen problematische Implikationen müssen wir uns genauer anschauen. Es sind dies
a) Die Vorstellung des ständigen Drängens
b) Die Annahme einer seelischen Energie, welche die Affektregulation steuert, die parallel zur physiologischen Energie gedacht wird. Der Begriff des ständigen Drängens zeigt Ähnlichkeiten mit dem in der Ethologie entwickelten Begriff der spontan-endogenen Reizerzeugung. Aber vor allem ruft er die Verbindung zu dem uns bekannten Hintergrundmodell von Th. Hobbes auf. Welchen Umfang und welches Ausmaß haben die körperlichen Anforderungen an unser Erleben? Sehen wir uns die dafür entwickelten philosophischen Konzepte an.
Thomas Hobbes (Leviathan, dt. 1976) hat an der Schwelle zur Neuzeit im 16. Jahrhundert das Projekt einer Neubestimmung der Lehre von den Körpern, vom Menschen und von der Gesellschaft unternommen. Wir können uns hier nur auf die für unsere Fragestellung relevanten Aspekte einlassen. Wichtig ist, wie Hobbes dies methodisch gemacht hat. Er hat eine Vermessung geometrischer Art unternommen, nämlich die menschlichen Antriebe analytisch in ihre kleinsten Bestandteile zerlegt (resolutiv) und aus ihnen wieder zusammengesetzt (kompositiv). Dabei geht er in die körperlichen Wurzeln der menschlichen Bewegungen hinein und entdeckt eine fundamentale Antriebsrichtung, welche er »desire« (Verlangen, Begierde) oder »passion« (Leidenschaft) nennt. Diese fundamentale Antriebsrichtung ist für ihn auszurechnen nach den Kräften, welche auf sie einwirken. Diese sind Anziehung, welche als Lust empfunden wird und Abstoßung, welche als Unlust erscheint. Die erste Bühne bildet für Hobbes das Lustprinzip. Die Parallele zum klassisch-psychoanalytischen Triebbegriff springt ins Auge. Entscheidend ist für Thomas Hobbes’ neuzeitliche Wende, dass diese Begierde keine internen Begrenzungen erkennen lässt, die sie in einen Ordnungszusammenhang, etwa der Natur, einfügen würde, sondern dass sie freigesetzt und daher prinzipiell grenzenlos, also unersättlich ist. So sagt etwa Hobbes, dass den Menschen schon der künftige Hunger hungrig macht. Dem entspricht in der Freud’schen Konzeption das ständige Drängen, welches sich in Sexualität und Selbsterhaltung zeigt. Neben dieser ersten Bühne körperlich-sinnlicher Empfindungen kennt Hobbes nur noch die zweite Bühne eines rechnenden Verstandes (ratiocinari). Was völlig fehlt, ist die innere Bühne eines aus Hemmungen sich aufbauenden unbewussten Begehrens oder Verlangens, welches das zentrale Thema der Psychoanalyse ist. Der Mensch ist für ihn nur sensitiver Körper und begehrender Kopf, welcher die Interessen ausrechnet, die sich in der gesellschaftlichen Realität durchsetzen lassen (Parallele zum Realitätsprinzip). Entscheidend für den Vergleich mit der psychoanalytischen Triebtheorie (Freud, Klein) ist die Vorstellung eines angeborenen unbegrenzten Triebes, eines angeborenen Ichs und die weiteren Konsequenzen, welche sich für die Ausgestaltung des Objektverhältnisses daraus ergeben. Die Hobbes’sche Vermessung ergibt zwei Module, in denen diese Triebwesen erscheinen: Einmal als reine Triebwesen, welche mit ihren unbegrenzten Triebansprüchen aufeinander treffen. Hobbes bezeichnet dieses Konstrukt als Naturzustand. In ihr erscheint der Trieb als unbegrenzter Machtanspruch. Er setzt die ganze Destruktivität des Menschen frei, die Hobbes als Wolfsnatur bezeichnet. Das Leben erscheint als Machtanspruch, indem er sich dem Risiko des Todes aussetzt. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine Polarität von Lebens- und Todestrieb ab. Das zweite Modul bei Hobbes entspringt aus dem angeborenen berechnend-kalkulierendem Ich, welches eine mögliche gesellschaftliche Realität, einen Vertragszustand mit Machtbegrenzung durch Begründung einer Rechts- und Staatsordnung konzipiert. Die klassisch-psychoanalytische Triebtheorie bei Freud und Klein begibt sich unter das Dach dieser philosophischen Konzeption, wenn sie den Trieb als angeborenes unbegrenztes Drängen konzipiert, das Ich als gleichfalls angeboren und mit der angeborenen Letztorientierung an Leben und Tod einen Vorrang destruktiver Phantasien vor den konstruktiven der Realitätsorientierung behauptet. Weshalb aber sollte diese Übernahme theoretischer Grundvorstellungen und Axiome der Menschenlehre von Thomas Hobbes zu kritisieren sein? Kann nicht Freud zurecht darauf hinweisen, dass in dem von ihm untersuchten Krankheitsbildern genau solche Wünsche und Phantasien auftauchen? Ist nicht der Wunsch der Hysterikerin grenzenlos? Stößt er nicht auf die limitierenden Verbote rigider Machtansprüche? Ist nicht die Struktur der Zwangsneurosen durch das Hin- und Hergerissensein zwischen Liebe und Hass gekennzeichnet? Natürlich kann Freud zurecht für die Konzepte seiner klinischen Theorie solche Formationen menschlicher Antriebe für sich reklamieren. Auch für die Konzepte der klinischen Theorie bei M. Klein gilt, dass das Modell der paranoid-schizoiden Position genau jene grenzenlose Gier aufdeckt, den unbezwingbaren Neid und die Prozeduren einer grausamen Phantasie, den Hass im Kampf mit der Liebe, den absoluten Machtanspruch und die Todesfurcht, wie sie bei Hobbes als philosophische Grundkonzeption des Menschseins erscheinen? Die wissenschaftlichen Aussagen der klinischen Theorie dieser beiden zentralen Figuren klinischer Forschung der Psychoanalyse sind durch die Einwände gegen die klassische Triebtheorie nicht in Frage gestellt. In Frage gestellt ist nur ihre anthropologische Übertreibung. Diese ist durch das methodische Konzept von Thomas Hobbes nahe gelegt, welcher mit seiner philosophischen Methode der geometrischen Vermessung menschlicher Begierden und Leidenschaften nahelegt, dass er nicht nur den sich aus mittelalterlichen Vorstellungen emanzipierenden, individualisierenden Menschen der beginnenden Neuzeit und der bürgerlichen Gesellschaft konzeptualisiert hat, sondern den Menschen überhaupt, zu jeder Zeit, in jeder Gesellschaft, seine menschentypische Verfassung. Diese anthropologische Methode überzieht ihren Anspruch, weil sie über das beobachtete und untersuchte Feld hinausgeht und verallgemeinert. Das Überschreiten der Grenzen eines methodischen Zugangs ist also der Kern der anthropologischen Übertreibung. Er betrifft in der Psychoanalyse insbesondere das Konzept der Metapsychologie und er verleitet dem klinischen Menschen (respektive Kleinkind, Säugling) den generellen Vorrang vor dem beobachteten zu geben und aus klinischen Beobachtungen, welche an bestimmten Altersgruppen und bestimmten Gesellschaftsschichten gemacht wurden, auf Ausstattungen und Vermögen von Lebensanfängen an und in allen Gesellschaften zu schließen. Die pessimistische Annahme des Menschen als destruktivem Wesen bekommt den philosophischen Vorrang vor der Annahme seiner guten konstruktiven Seiten, weil sie durch die Behauptung des Angeborenseins verankert werden. Eine kritische Revision der Triebtheorie wird also die Vorstellung der unbegrenzten Begierde ebenso fallen lassen müssen wie die Parallelkonstruktion einer seelischen Energie. Hier muss ein neues Konzept der Affektregulierung an seine Stelle treten. Weitere Schwachpunkte sind die Vordatierung der Destruktivität in die Lebensanfänge und der Vorrang der Phantasie als Wurzel der Erkrankung. P. Ricoeur hat, wie wir erwähnt haben, weitere Bruchstellen ausfindig gemacht, welche die Konsistenz der Triebtheorie betreffen.
Das, was Freud als Ich entwickelt hat, ist streng genommen nicht vollständig auf das psychosexuelle Motivationssystem reduzierbar. Es enthält Gedanken, welche in andere Motivationssysteme gehören. Dasselbe gilt für das Objekt des Triebes, welches nur sinnvoll konzipiert werden kann, wenn in ihm ein eigenständiges anderes Subjekt impliziert ist. Hier sind Übergänge zur Ich-Psychologie zur Psychologie des Selbst und zum Intersubjektivitätsmodell der Psychoanalyse erkennbar. Worin bestehen Vorzüge und Schwächen des Intersubjektivitätsmodells der Psychoanalyse und welche philosophische Hintergrundkonzeption ist für es in Anspruch zu nehmen? Vorläufer dieses Ansatzes finden sich in der Selbstpsychologie von H. Kohut (1979) und insbesondere in der Objektbeziehungstheorie von D. W. Winnicott (1974, S. 47 f.). Wenn dieser davon spricht, dass es so etwas wie ein vereinzeltes Baby nicht gibt, sondern nur eine Mutter-Kind-Einheit, dann ist dies eine klare Aussage zur Intersubjektivität. Wenn er die fördernde oder versagende Umwelt thematisiert, dann konkretisiert sich das Triebobjekt zur mitmenschlichen Welt. Das Konzept des Übergangsobjekts und des intermediären Raums, welches den Übergang von der Anschauung zur Entwicklung von Symbolen darstellt, ist durch und durch intersubjektiv gedacht. Aber mit großer Klarheit tritt das intersubjektive Modell in der Säuglingsbeobachtung in Erscheinung. Die Eckpunkte wollen wir dem Konzept von B. Beebe und M. F. Lachmann (2002, dt. 2004) entnehmen. Die Bedeutung des intersubjektiven Modells für die Therapie Erwachsener besprechen wir später. Während in der Triebtheorie idealtypisch das Individuum im Mittelpunkt steht, mit dem Gegenüber des Analytikers in der Funktion des Dritten, ist es in der Säuglingsbeobachtung das duale System Mutter-Baby mit dem Beobachter als Dritten und in der Funktion des Dritten. Den methodischen Vorrang des beobachteten Säuglings vor dem klinischen formulieren Beebe und Lachmann »weder aus der Sicht der analytischen Behandlungen noch der Psychopathologie zu argumentieren, sondern aus der Perspektive vieler unbefangener Forscher, die normale Babys beobachten und deren Fähigkeiten untersuchen« (Beebe & Lachmann, 2004, S. 36). Ein erster Vorzug dieses Ansatzes besteht darin, sich direkt anzuschauen, was vorher nur rekonstruktiv erschlossen wurde, insbesondere die Beobachtungslücke zwischen Geburt und zweitem Lebensjahr zu schließen.
Ein zweiter Vorzug besteht darin, die klinische Perspektive gegen die entwicklungspsychologische auszutauschen und sich die Sache mal von der anderen Seite anzuschauen. War im klinischen Ansatz von dem erkrankten Selbst auf das normale geschlossen worden, so wird jetzt vom Normalen ausgegangen und die Anwendung auf die Klinik gesucht. Ein dritter Vorzug besteht darin, dass bisher im klinischen Verstehen die Sprache und die Sprachfähigkeit selbstverständliche Voraussetzungen der Behandlung waren, während jetzt diese in die körperlichexpressive nonverbale Kommunikationsform unterschritten wird. Dieses Verhältnis des Körperlich-Expressiven zur Sprache wird uns in einem späteren Kapitel noch gesondert beschäftigen. Der vierte Vorzug des Intersubjektivitätsmodells der Säuglingsbeobachtung besteht darin, dass es zwischenmenschliche Bezüge und inneres Erleben im Zusammenhang erforscht. Beebe und Lachmann werden nicht müde zu betonen, dass sie die interaktive Regulierung zwischen Mutter und Baby ebenso erforschen wie die Selbstregulierung des Babys und die Selbstregulierung der Mutter. Selbst und Beziehung werden also als nicht trennbar, sondern gleichrangig behandelt. Beispiel ist die Regulierung der Schlaf-Wach-Rhythmen im Zusammenwirken von Baby und Mutter. Ein fünfter Punkt charakterisiert den Ansatz der Babybeobachtung, dass sie nicht auf statische Strukturvergleiche fokussiert, sondern auf den zeitlichen Prozess, der sich zwischen Mutter und Baby entwickelt. »So befindet sich das Interaktionssystem in einem ständigen Prozess, dem eine Dialektik zwischen Vorhersagbarkeit und Transformation zu eigen ist.« (Beebe & Lachmann, 2004, S. 45). Sechstens stehen im Zentrum die Begriffe des Selbst, der Selbstregulierung und dies meint Verarbeitung der Erregung, die aus Körperquellen stammt und Aufrechterhaltung von Wachsamkeit und Lebendigkeit. Selbstregulierung ist die Aufrechterhaltung der Handlung – Urheberschaft (action – agency). Wenn man diesen Gedanken weiter spinnt, dann si...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Geleitwort zur Reihe
  6. Vorwort
  7. Einleitung
  8. Teil I – Wissenschaftshistorische Einordnung
  9. Teil II – Wissenschaftstheoretische Probleme der Psychoanalyse
  10. Teil III – Die wissenschaftlichen Grundannahmen der Psychoanalyse in philosophischer Analyse
  11. Literatur
  12. Sachregister