Sexualität und Konflikt
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Sexualität und Konflikt

  1. 185 Seiten
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Sexualität und Konflikt

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Über dieses Buch

Im zweiten Band wird Freuds Konzeption einer infantilen Psychosexualität entfaltet. Freuds "berüchtigte" Konzepte (z. B. der Ödipuskonflikt) werden argumentativ nachgezeichnet und kritisch geprüft. Dies wird eine Erörterung des Konfliktbegriffs der Psychoanalyse ermöglichen und in das Plädoyer einer weit gefassten Auffassung führen. Des Weiteren wird Freuds Theorie weiblicher Sexualität erörtert und die psychoanalytische Weiterentwicklung dieser Theorie nachgezeichnet. Dies führt in eine Diskussion von Sexualitätsformen jenseits der klassischen heterosexuell-familialen Struktur. Abschließend wird der Konfliktbegriff bezüglich seiner Interdisziplinarität diskutiert und mit entsprechenden Figuren anderer psychotherapeutischer Richtungen verglichen.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783170337541
Auflage
1

1          Einleitung

 
 
 
Im zweiten Band dieser Buchreihe soll es also, im Anschluss an die Überlegungen zum Trieb und vorbereitend zur Erörterung des dynamisch Unbewussten, um Sexualität und Konflikt gehen, in einer konzeptuellen Darstellung und Prüfung.
Im ersten Kapitel werde ich den Anschluss an das in der ersten Vorlesungsreihe und dem ersten Band der Grundelemente zum psychoanalytischen Triebkonzept Erarbeitete herstellen. Im Anschluss daran setzt sich Kapitel 2 mit der Freud’schen Entwicklungstheorie der infantil-psychosexuellen Phasen auseinander und schlägt dabei insbesondere eine »thematische« Lesart dieser Phasen vor. Im dritten Kapitel werde ich aus der psychoanalytischen Entwicklungstheorie gesondert die Konzeption des ödipalen Konflikts herausgreifen und diesen, sowohl in der Freud’schen als auch in der Fassung als »frühe« Ödipalität wesentlich begreifen als die Entwicklungsaufgabe der Auseinandersetzung mit dem Geschlechter- und Generationenunterschied und damit, dass es in der Welt der Beziehungen auch solche gibt, von denen das Individuum relativ ausgeschlossen ist. Im vierten Kapitel geht es darauf aufbauend um die Psychoanalyse als Konflikttheorie, die sich zum einen aus dem Ineinander aus Lust und Erregung (bzw. Beruhigung und Stimulierung) in der frühen Entwicklung, zum anderen aus dem Zusammentreffen von Liebe und Hass (bzw. verbindenden und trennenden Impulsen) ergibt. Kapitel 5 nimmt sich psychoanalytisch »Sexualitäten« zum Gegenstand und öffnet den Blick der Darstellung auf die Konzeption von Homosexualität, weiblicher Sexualität und nicht-heteronormativer Sexualität, allesamt Bereiche, zu denen Freud selbst wenig Substanzielles zu sagen hatte – anders als nachfolgende Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, gerade im Hinblick auf einen Dialog mit der Sexualwissenschaft. Schließlich werde ich im sechsten Kapitel die Perspektive auf Sexualität und Konflikt in anderen entwicklungspsychologischen Zugängen einnehmen, sowie deren Bedeutung in anderen psychotherapeutischen Richtungen berühren. Kapitel 7 stellt eine Zusammenfassung und einen Ausblick dar.
Im vorliegenden Rahmen verstehe ich Konzepte als etwas, das Phänomene der Erfahrung begreiflich machen soll (vgl. Storck, 2018a, S. 12ff.). Das gilt für jedes wissenschaftliche Konzept, aber eben auch für wissenschaftliche Konzepte im Zusammenhang mit psychotherapeutischen Verfahren. Ein Konzept, ob es nun »Trieb« ist, »Schwerkraft« oder irgendein anderes, soll etwas von dem, was ich »beobachten« kann (in einem weit gefassten Sinn von »Beobachtung«), konzeptuell auf den Begriff bringen, der eine Antwort darauf liefern soll, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Das heißt aber auch, dass Konzepte keine Dinge in der Welt sind. Man kann zum Beispiel nicht »die Verdrängung« beobachten oder »das Über-Ich« und zwar deshalb nicht, weil es Konzepte sind, die versuchen, etwas Beobachtbares zu konzeptualisieren. Die Antwort auf die Frage »Warum ist die Welt so, wie sie ist?« liefert Konzepte auf der Basis eines methodischen Zugangs. Ob es das Experiment, die sozialwissenschaftliche Feldstudie oder jede andere Methode ist, Konzepte stehen in einer Wechselwirkung zum methodischen Zugang und werden auf diesem Weg (weiter-)entwickelt. Für die Psychoanalyse ist es die klinische Behandlungspraxis gewesen und das Anliegen, die Erfahrungen, die sich im Behandlungszimmer zeigten und die Freud und viele nach ihm versucht haben, auf den Begriff zu bringen. Dort etwas zu »beobachten« heißt gleichwohl, dass etwas als erfahrungsbezogenes Phänomen spürbar wird; »Beobachtung« ist nicht bloß der experimentell-prüfende Blick, sondern bezieht sich auf etwas, das sinnesmäßig erfahrbar ist. Psychoanalytische Konzepte werden als eine begriffliche Verallgemeinerung aus einem Verstehen und Begreifen von klinischen Einzelfällen gebildet. Das heißt nichts anderes, als dass Psychoanalytiker1 Patienten behandeln, dort auf klinische Phänomene stoßen und Konzepte daraus bilden, die den Anspruch haben, über den Einzelfall hinauszureichen. Andernfalls bräuchte man ja für jede einzelne Behandlung neue Konzepte – was nicht nur anstrengend wäre, sondern auch sinnlos. Konzepte haben also einen Anteil von Verallgemeinerung in sich, auch wenn sie auf den Einzelfall bezogen sind.
Diese konzeptuelle Arbeit ist bislang für den Triebbegriff erfolgt (s. den ersten Band dieser Reihe; Storck, 2018a). Dabei ist der Hinweis wichtig gewesen, dass das Triebkonzept – weil es kein ausschließlich biologisches Konzept ist, es unterscheidet sich vom Instinktbegriff – als ein psychosomatisches Konzept aufgefasst werden kann, das die psychosomatische Grundstruktur des Menschen beschreibt. Mit Freud gesprochen: Der Trieb ist ein »Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem« (1915a, S. 214). Das versucht gerade zu beschreiben, warum Menschen geistige und biologische Wesen sind und was sich von unserer Körperlichkeit in unsere psychische Vorstellungswelt vermittelt – und dass wir demgegenüber auch keine andere Wahl haben. Es drängt etwas in unsere psychische Welt, so dass wir durch innere Bilder und Sprache damit umgehen müssen und können.
Bei Freud war ferner die Frage danach wichtig, ob man das Triebkonzept monistisch formuliert (ist damit doch nichts anderes als ein Drängen beschrieben, das eine quantitative Größe aufweist) oder ob es ein dualistisches Triebmodell gibt, in dem beispielsweise Sexualität und Selbsterhaltung oder Eros und Todestrieb einander gegenüberstehen. Oder ist es sogar ein polyvalentes Modell mit unterschiedlichen Antrieben und Motivationsstrukturen? Ein großes Problem dabei war die Frage, ob Freuds Vorstellung einer Triebenergie, für den Sexualtrieb: die Libido, brauchbar ist. Es gab einige Argumente dafür, dass die psychoanalytische Libidotheorie heute durch eine Affekttheorie ersetzt werden kann, wohingegen die Triebtheorie als solche nicht in einer Affekttheorie aufgeht, zum Beispiel angesichts der eben erwähnten Vermittlungsfunktion des Triebes.
Außerdem konnte hervorgehoben werden, dass es auch in einer triebtheoretischen Sicht um Beziehungen geht, dass ein Teil unserer Triebentwicklung durch frühe Beziehungserfahrungen vermittelt ist, durch Berührungen und andere sinnliche Erfahrungen. Psychoanalytisch gesprochen: Das »Objekt« (das Gegenüber, der Andere) hat entscheidenden Anteil an der Triebentwicklung, weil wir leiblich mit ihm interagieren.
Ein paar weitere Bereiche sind berührt worden: Freuds Gedanke hat eine Rolle gespielt, dass Kultur auf Triebverzicht aufgerichtet ist (Freud, 1930, S. 457). Mit Melanie Klein haben wir uns angeschaut, wie wichtig es für uns Menschen ist, sich Fantasiebilder zu machen, also etwas von dieser ganzen chaotischen Welt aus Körperlichkeit und Affektivität in innere, szenische Bilder umsetzen zu können – zur Angstbewältigung, zur Kreativität. Es wurde das Verhältnis von Trieb und Affekt betrachtet und auch dasjenige der Triebtheorie zu psychologischen Motivationstheorien, zur Neurobiologie und zu anderen psychotherapeutischen Verfahren. Die bisherige Darstellung ist im Befund geendet, dass der Trieb nicht im eigentlichen Sinne (oder nicht allein für sich genommen) die psychischen Motivationsstrukturen auf den Begriff bringt. Psychoanalytische Motivation ist nicht direkt triebhaft, sondern der unbewusste Konflikt ist es, was im Kern der psychoanalytischen Motivationstheorie steht. Das ist es, was uns motiviert – zur Kreativität, Symptombildung, zu psychischer Erkrankung, zum Erleben und Gestalten von Beziehungen. Als Grundlage dessen wirkt der Trieb, der mit dem unbewussten Konflikt entscheidend verbunden ist, jedoch ist nicht das Triebhafte selbst die Motivationsstruktur, sondern der unbewusste Konflikt – etwas, das psychisch aufeinander prallt und Motor dessen ist, dass wir damit irgendwie umgehen. Während die Triebtheorie eher eine allgemeine Theorie der Motivation beschreibt, lässt sich mit dem Konzept des Konflikts argumentieren, wie spezifische Motivationen zu denken sind. Es gibt also viele Argumente dafür, sich den unbewussten Konflikt genauer anzuschauen – und zwar ausgehend von der Sexualität, die, wie sich zeigen wird, den wesentlichen Anteil daran hat, dass unser psychisches Leben konflikthaft ist.
1     Ich verwende im Weiteren das generische Maskulinum, damit sollen jeweils alle anderen Geschlechter mitgemeint sein.

2 Freuds Konzeption einer infantilen Psychosexualität

Die TV-Serie Masters of Sex (vgl. Kadi, 2017) thematisiert – auf teil-fiktionalisierte Weise – die Forschungen von William Masters und Virginia Johnson ab 1957. Ein Ausschnitt aus der ersten Staffel der Serie, der die Anfänge der sexualwissenschaftlichen Forschung der beiden Protagonisten behandelt, zeigt, wie ein Proband und eine Probandin Anweisungen erhalten. Beide sind nackt und multipel verkabelt. Johnson erklärt beiden die vier Stufen der sexuellen Erregung, welche die Forscher postulieren; die Anziehung und Unsicherheit des Paares, das »für die Wissenschaft« miteinander möglichst leidenschaftlichen Sex haben soll, wird deutlich (»Pilot«, 2013).
Neben Kinsey oder Sigusch können Masters und Johnson wohl als die neben Freud wichtigsten und einflussreichsten Forschenden im Hinblick auf die menschliche Sexualität des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Gleichwohl geht es Freud, zumal bereits 60 Jahre früher als Masters und Johnson, um etwas anderes als die Ermittlung von Verläufen menschlicher Erregung im sexuellen Akt, nämlich um Psycho-Sexualität, also in erster Linie um das Erleben von Sexualität und darum, wie Sexualität als ein Organisationsprinzip des Psychischen gelten kann. Das macht die bis heute hohe Relevanz der Psychoanalyse aus.
Freuds Untersuchung und Konzeptualisierung der Sexualität betrifft besonders das »Sexualleben der Kinder«, genauer müsste man sagen: die infantile Sexualität, wie sie in der Kindheit und in der späteren psychischen Welt eine Rolle spielt. Allerdings musste sich das explizite Konzept einer infantilen Sexualität im Freud’schen Denken erst noch entwickeln. Er schreibt ziemlich früh in der Entwicklung seiner Theorie: »Man tut Unrecht daran, das Sexualleben der Kinder völlig zu vernachlässigen; sie sind, so viel ich erfahren habe, aller psychischen und vieler somatischen Sexualleistungen fähig. […] Es ist aber richtig, daß die Organisation und Entwicklung der Spezies Mensch eine ausgiebigere Betätigung im Kindesalter zu vermeiden strebt; es scheint, daß die sexuellen Triebkräfte beim Menschen aufgespeichert werden sollen, um dann bei ihrer Entfesselung zur Zeit der Pubertät großen kulturellen Zwecken zu dienen […] Aus einem derartigen Zusammenhange läßt sich etwa verstehen, warum sexuelle Erlebnisse im Kindesalter pathogen wirken müssen. Sie entfalten ihre Wirkung aber nur zum geringen Maße zur Zeit, da sie vorfallen; weit bedeutsamer ist ihre nachträgliche Wirkung, die erst in späteren Perioden der Reifung eintreten kann.« (1898, S. 511).
Es ist leicht vorstellbar, wie skandalös diese Bemerkung 1898 gewirkt haben muss. Eine ähnlich skandalöse Wirkung hatte das sieben Jahre zuvor erschiene Drama Frank Wedekinds Frühlings Erwachen, in dem es auch um eher konkrete kindliche und jugendliche Sexualbetätigung ging. Freud betritt Neuland, ähnlich wie Masters und Johnson etwas später auf andere Weise, indem er drei Dinge in den Mittelpunkt stellt: das Sexualleben der Kinder, mögliche »pathogene Wirkungen« dessen und eine »Nachträglichkeit« in der Sexualentwicklung. Damit ist angesprochen, dass Freud von einer Zweizeitigkeit der Sexualentwicklung ausgeht: Vom Wirken eines infantilen, kindlichen Teils und eines ab der Pubertät einsetzenden, der den Weg in die erwachsene Sexualität ebnet. Um diese Differenzierung besser begreifen zu können, sind einige Bemerkungen zur Freud’schen Verführungstheorie nötig.
Zu Beginn seiner nervenärztlichen, beginnend psychoanalytischen Arbeit vertritt Freud die Auffassung, dass in der Ätiologie der Hysterie traumatische Szenen der Kindheit aufzufinden sind. Anfangs war es eine Annahme ohne Ausnahme: Erwachsene, hysterische Frauen haben ein missbräuchliches Erlebnis sexueller Art in der Kindheit gehabt, so Freuds Konzeption. Er schreibt aus der Erfahrung aus seinen Behandlungen und den sich dort zeigenden Fällen sexueller Traumata im Sinne von Übergriffen: »[O]benan [stehen] Kinderfrauen, Gouvernanten und andere Dienstboten«, »lehrende Personen«, »schuldlose kindliche Attentäter, meist Brüder« (Freud, 1896a, S. 382). Andernorts differenziert er drei Gruppen: »erwachsene[.] fremde Individuen«, »eine das Kind wartende erwachsene Person« und »die eigentlichen Kinderverhältnisse« (Freud, 1896b, S. 444). Als sexuelle Traumata gelten Freud hier »[s]exuelle Erfahrungen der Kindheit, die in Reizungen der Genitalien, koitusähnlichen Handlungen usw. bestehen«. Sie »sollen also in letzter Analyse als jene Traumen anerkannt werden, von denen die hysterische Reaktion gegen Pubertätserlebnisse und die Entwicklung hysterischer Symptome ausgeht.« (1896b, S. 443). Mit diesen Annahmen zur Ätiologie der Hysterie steht die Annahme einer »Perversion des Verführers« (Freud, 1985, S. 223; Brief an Wilhelm Fließ vom 6.12.1896) im Zusammenhang, zu dem für Freud zunächst immer deutlicher der Vater wird. Seine frühe Theorie hat so eine direkte Verbindung der später hysterisch erkrankten Frau zum perversen, sexuell übergriffigen Vater. Dabei muss man darauf achten, dass »Perversion« hier nicht genau das meint, was bei Freud etwas später unter dem Partialtriebhaften firmiert (vgl. Storck, 2018a, S. 29ff.), sondern eher im alltagssprachlichen Sinn gebraucht wird, also im Sinne einer sexuellen Grenzüberschreitung bzw. Pervertierung der Sexualität. Diese Annahmen Freuds über die sexuellen Traumata in der Ätiologie der Hysterie werden seine »Verführungstheorie« genannt.
Soweit, so skandalös. Jetzt gibt es eine auf eine andere Art und Weise skandalöse Bemerkung, die Freud kurze Zeit später an Wilhelm Fließ schrieb: »Und ich will dir sofort das große Geheimnis anvertrauen, das mir in den letzten Monaten langsam gedämmert hat. Ich glaube an meine Neurotica nicht mehr.« (Freud, 1985, S. 283; Brief vom 21.9.1897). Freud spürt Zweifel an seiner bisherigen ausnahmslosen Annahme des Vorkommens sexueller Traumata im Sinne konkreter Übergriffe in der Ätiologie der Hysterie. Er hat dafür drei Gründe: Erstens die nur »partielle[n] Erfolge« der Analysen, zweitens die sich immer mehr zuspitzende nötige Folgerung, »daß in sämtlichen Fällen der Vater als pervers beschuldigt werden mußte«, sowie drittens die Einsicht, »daß es im Unbewußten ein Realitätszeichen nicht gibt« (a. a. O., S. 283f.).
Für die weitere Theoriebildung der Freud’schen Psychoanalyse ist der dritte Punkt der entscheidende und er ist es auch, der am meisten kontrovers diskutiert worden ist. Zunehmend hatte Freud sich mit dem Stellenwert der (unbewussten) Fantasie beschäftigt und über die »Lösung, daß die sexuelle Phantasie sich regelmäßig des Themas der Eltern bemächtigt« (a. a. O.), nachgedacht (vgl. genauer in Freud, 1906). Statt der leitenden Annahme, für die Ätiologie sei von einem Vorkommen sexueller Übergriffe auszugehen, kristallisiert sich ab 1897 für Freud stärker die Konzeption heraus, dass es die Wirkungen der infantilen Psycho-Sexualität sind (einschließlich des noch etwas später genauer ausformulierten Ödipus-Konflikts), die in der Ausbildung einer Neurose die entscheidende Rolle spielt. Er selbst formuliert im Rückblick: »Nach d[er] Korrektur waren die ›infantilen Sexualtraumen‹ in gewissem Sinne durch den ›Infantilismus der Sexualität‹ ersetzt.« (1906, S. 154) Es muss in Freuds Sicht nun also nicht notwendigerweise ein reales, konkretes, sexuelles Übergriffserlebnis in der Kindheit aller später hysterisch Erkrankten geschehen sein, sondern es gibt auch das Element einer Wirkung unbewusster Fantasien und unbewusster Wünsche – oder, wenn man so will: einer traumatischen Wirkung des Triebes.
Dies sind nun die Schnittstellen, an denen es in der Geschichte der Psychoanalyse viele Missverständnisse, Streit und auch einige etwas unglückliche Formulierungen Freuds gegeben hat. Was hier nicht gemeint ist, ist die Leugnung der Realität von sexuellen Übergriffen. Worum es Freud nicht geht, ist die pauschale Diskreditierung von Berichten von Patientinnen über erlittene Übergriffe und das Abtun dieser als unbewusste Fantasien. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, es gebe heute Psychoanalytiker, die es, wenn jemand über Missbrauch spricht, ausschließlich als einen Ausdruck unbewusster Fantasien betrachten und die Realität dessen prinzipiell in Zweifel ziehen bzw. sich dafür nicht interessieren. Trotzdem ist es wichtig, sich genauer anzuschauen, wie diese Erweiterung der Verführungstheorie bei Freud, denn als eine solche sollte sie begriffen werden, gemeint ist. Der entscheidende Punkt ist, dass sich Freud von dem Allgemeingültigkeitsanspruch der Rolle sexueller Übergriffe weg bewegt. Er n...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Freuds Konzeption einer infantilen Psychosexualität
  8. 3 Die Theorie des ödipalen Konflikts
  9. 4 Der unbewusste Konflikt
  10. 5 Sexualitäten in der Psychoanalyse
  11. 6 Sexualität und Konflikt interdisziplinär
  12. 7 Ausblick
  13. Literatur
  14. Verzeichnis der zitierten Medien
  15. Stichwortverzeichnis