1 Einleitung1
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine häufig vorkommende Erkrankung mit Prävalenzraten zwischen 3 und 5% (Polanczyk et. al., 2007, Schlack et al., 2007, 2014). Sie beginnt in der frühen Kindheit und kann sich über das Adoleszenten- bis in das Erwachsenenalter als klinisches Vollbild oder als Teilsymptomatik in unterschiedlichen Variationen und Modifikationen fortsetzen (Schmidt & Petermann, 2011; Krause & Krause, 2014).
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist eine Erkrankung von beträchtlicher individueller und gesellschaftspolitischer respektive gesundheitspolitischer Bedeutung. Aufmerksamkeitsstörungen stellen ein ausgesprochenes Entwicklungsrisiko für die Betroffenen dar. Menschen mit dieser Diagnose haben häufig Probleme im schulischen und beruflichen Kontext sowie im Bereich sozialer Beziehungen (Sobanski et al., 2008). Sie zeigen u. a. eine erhöhte Bereitschaft zu risikoreichem Verhalten, nicht selten kommt es auch zu problematischem Suchtmittelkonsum oder zu delinquentem Verhalten (Sobanski & Alm, 2004; Schmidt & Petermann, 2011). Dies trägt – neben dem persönlichen Leid – zur Verursachung hoher Kosten insbesondere auch im Gesundheits- und Rechtssystem bei (Schlander et al., 2010).
Nachdem im letzten Jahrzehnt zunehmend auch die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter in den Fokus wissenschaftlichen Interesses rückte (Krause & Krause, 2014), wurden – in Ergänzung zu etablierten pharmakologischen Verfahren – unterschiedliche psychotherapeutische Interventionen entwickelt, die in der Regel auch psychoedukative Maßnahmen umfassen. Die Psychoedukation hat ihre Wurzeln in der kognitiv-behavioralen Psychotherapie, korrespondierend beinhalten verhaltenstherapeutische Therapieprogramme psychoedukative Therapieelemente (Knouse et al., 2008; D’Amelio et al., 2009).
Untersuchungen weisen darauf hin, dass Psychoedukation bei Kindern und Adoleszenten mit ADHS als hilfreich bewertet wird (Lopez et al., 2005) bzw. die Behandlungscompliance verbessert (Svanborg et al., 2009). Es ist deshalb von großer Relevanz, Betroffenen möglichst frühzeitig psychoedukative und psychotherapeutische Interventionsprogramme anzubieten (D’Amelio et al., 2009; Döpfner et al., 2013).
Für Kinder und ihre Eltern sind schon länger differenzierte Elternratgeber und Selbsthilfebücher (Döpfner et al., 2007a) sowie evaluierte Therapiemanuale (Döpfner et al., 2007b) verfügbar, für Erwachsene mit ADHS wurden Psychotherapie- oder Psychoedukationsmanuale publiziert (Hesslinger et al., 2004; Safren et al., 2008; D’Amelio et al., 2009; Lauth & Minsel, 2009; Baer & Kirsch, 2010).
Für die Zielgruppe der Adoleszenten wurde zwar von Linderkamp et al. (2011) ein spezifisches Lerntraining entwickelt, das auch der adoleszenten Entwicklung Rechnung trägt, es ist aber als ein »Training« im »Einzelsetting« konzipiert. Ein strukturiertes, leicht verständliches und einfach zu handhabendes Manual zur Psychoedukation und Psychotherapie bei Adoleszenten mit ADHS ist nach unserer Kenntnis im deutschsprachigen Raum nicht bekannt. Das vorliegende Manual möchte diese Lücke schließen. Um den speziellen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz2 gerecht zu werden, wurden entsprechend bei der Konzeption dieses Manuals insbesondere auch entwicklungsspezifische Themenschwerpunkte wie zum Beispiel »risikoreiches Verhalten«, »Sexualität und Beziehungen«, »Jugendkriminalität«, »Drogen«, »Führerschein« sowie »Ausbildung und Beruf« fokussiert.
Das vorliegende Manual zur »Psychoedukation und Psychotherapie für Jugendliche und junge Erwachsene mit ADHS« wird aktuell im Rahmen eines stationären Settings in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Alzey evaluiert. Eine konsekutive Ausweitung auf ein teilstationäres und ambulantes Setting ist geplant.
Da sich die ADHS-Symptomatik und psychosoziale Konsequenzen nicht nur auf den Patienten selbst, sondern ebenso auf seine Familie auswirken können (D’Amelio et al., 2009), ist im Anschluss an dieses Buch geplant, auch für Angehörige ein korrespondierendes Psychoedukationsmanual zu verfassen. Den Angehörigen soll damit parallel zu den psychoedukativen Sitzungen für die Adoleszenten ein eigenes Psychoedukationssetting bzw. -forum angeboten werden.
In dem vorliegenden Buch wird in Kapitel 2 ein kurzer Überblick über den aktuellen Forschungsstand des Krankheitsbildes der ADHS und die entsprechenden Therapie- und Interventionsmöglichkeiten gegeben. Wirkprinzipien, allgemeine Therapieziele und Formen einer altersadaptierten Psychoedukation werden in Kapitel 3 erörtert. In Kapitel 4 wird das Konzept des psychoedukativen und psychotherapeutischen Gruppentrainings dargestellt, wobei grundsätzliche Informationen über Zielgruppe, Indikation, Gruppenleitung, Trainingsziele, Rahmenbedingungen, Struktur und Durchführung der Gruppensitzungen gegeben werden. Zudem werden in diesem Kapitel didaktische Prinzipien und Strategien sowie Hilfsmittel beschrieben. In Kapitel 5 werden die einzelnen Sitzungen des Manuals ausführlich dargestellt.
Die Sitzungen sind so strukturiert, dass sie zunächst einen Einblick in das Erscheinungsbild und die Problematik der ADHS vermitteln. Hierzu werden Pathogenese, Diagnostik, Symptomatik und Komorbidität, Risikoverhalten und Verlauf der Störung sowie die aktuellen Behandlungsmöglichkeiten der ADHS dargestellt. In den Sitzungen 6 bis 9 wird ein besonderes Augenmerk auf die Aktivierung der Ressourcen und der Selbstmanagementkompetenzen der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen gelegt.
Das Manual, das u. a. eine Powerpoint-Präsentation, einen die Folien kommentierenden Teil, Info- und Arbeitsblätter sowie Feedback-Fragebögen zur Evaluation umfasst, soll als Grundlage für die einzelnen Sitzungen dienen. Die Materialien3 können Sie unter diesem Link kostenfrei herunterladen: http://downloads.kohlhammer.de/?isbn=978-3-17-024802-1 (Passwort: tlosvvz4).
Die Illustrationen wurden großteils von Frau Emma Schlink, Schülerin des Landeskunstgymnasiums Rheinland-Pfalz in Alzey, gezeichnet.
Bedanken möchten wir uns bei allen, die zum Gelingen dieses Manuals beigetragen haben. Dies sind insbesondere unsere Patienten, die sich uns anvertrauen. Ihre Erfahrungen, Rückmeldungen und Anregungen konnten wir in das vorliegende Psychoedukationsmanual einfließen lassen. Unseren Ehegatten Dr. Eva Stein und Hans Dieter Matthäus gilt unser besonderer Dank für das Korrekturlesen. Dem DV-Service unserer Klinik, insbesondere Herrn Illy und Herrn Habenicht, danken wir für die Unterstützung bei technischen Fragen, dem Kohlhammer Verlag für die ansprechende Ausstattung und den Lektorinnen Anita Brutler, Celestina Filbrandt und Stefanie Reutter für die exzellente Zusammenarbeit.
Alzey, Oktober 2015 |
Mariella Matthäus, Andreas Stein |
2 ADHS – ein Überblick
2.1 Definition und Klassifikation
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS, ADHD: Attention Deficit-/Hyperactivity Disorder) bzw. Hyperkinetische Störungen zählen zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Bei einem Teil der Betroffenen persistiert das Störungsbild in unterschiedlichen Variationen bis ins Erwachsenenalter. Kennzeichnend sind eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsdefizite, Ablenkbarkeit), der Aktivität (Hyperaktivität) und der Impulskontrolle (Impulsivität) (Döpfner et al., 2013; Ludolph & Pfalzer, 2013).
Die Störung der Aufmerksamkeit zeigt sich in einer erhöhten Ablenkbarkeit, der Tendenz,
Störung der Aufmerksamkeit
Aufgaben vorzeitig abzubrechen, Tätigkeiten zu wechseln, bevor sie zu Ende gebracht werden, sowie einem Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die für den Betroffenen uninteressant sind.
Die Hyperaktivität äußert sich in einem stärkeren Bewegungsdrang, insbesondere in Situationen,
in denen normalerweise ruhiges Verhalten verlangt wird.
Impulsivität tritt als Neigung zu vorschnellem und unüberlegtem Handeln in Erscheinung.
Die Betroffenen haben Probleme, ihre Bedürfnisse aufzuschieben, und Schwierigkeiten, die Folgen ihrer Handlungen zu antizipieren. Sie platzen beispielsweise mit Antworten heraus oder unterbrechen andere, oft fällt es ihnen schwer, abzuwarten, bis sie an der Reihe sind (Lehmkuhl et al., 2009; Döpfner et al., 2013).
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen sind in verschiedene Untergruppen unterteilt, die nach ICD-10 (Dilling et al., 2008) und nach dem aktuell überarbeiteten DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013, 2015) anhand unterschiedlicher Kategorien verschlüsselt werden. Die Symptomkriterien werden in den beiden Klassifikationssystemen weitgehend übereinstimmend definiert. Sie unterscheiden sich allerdings in der festgelegten Anzahl und Kombination dieser Kriterien, die für die Diagnose einer ADHS vorliegen müssen.
Die drei Kardinalsymptome Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität
können in verschiedenen Ausprägungsformen auftreten. Die Symptom...