Teil I: Grundlagen
1 Was ist Klinische Psychologie und Psychotherapie
Der Begriff »Klinische Psychologie« wurde vom Amerikaner Ligthner Witmer (1867–1956) geprägt. Witmer studierte und promovierte bei Wilhelm Wundt am Institut für experimentelle Psychologie in Leipzig. Zurück in den USA gründete er 1896 die erste Psychological Clinic an der Universität von Pennsylvania. Hier wurden vornehmlich Kinder mit Leistungsproblemen untersucht und behandelt; es handelte sich also eher um eine Erziehungsberatungsstelle. 1917 wurde die American Association of Clinical Psychologists gegründet, die schon 1919 als Sektion in die American Psychological Association (APA) aufging.
Aus dem Institut von Wundt ging eine weitere für die Klinische Psychologie wichtige Person hervor: Emil Kraeplin (1856–1926), der später ganz wesentliche Impulse in der Psychiatrie setzte (siehe unten). Als weiterer Impulsgeber kann noch ein Mediziner betrachtet werden: Sigmund Freud (1856–1939). Abgesehen von seinen grundlegenden Arbeiten zum Verständnis und der Therapie psychischer Störungen, setzte Freud sich dafür ein, dass auch Nicht-Mediziner den Zugang zur Psychotherapie erhielten.1
»Kraeplin und Freud – beide Mediziner und keine Psychologen – können als wesentliche Impulsgeber für die deutschsprachige und internationale Klinische Psychologie angesehen werden. Die beiden Namen stehen aber auch für zwei unterschiedliche Selbstverständnisse der Klinischen Psychologie, die bis heute in der Wissenschaft und Praxis vielfach als widersprüchlich gesehen werden: Kraeplin als Protagonist der empirischen Klinischen Psychologie, Freud als Repräsentant eines hermeneutischen Wissenschaftsverständnisses, das vor allem in der Tiefenpsychologie ihren Niederschlag fand« (Baumann & Perrez 1998, Baumann & Perrez 1998, S. 11). Wie sich zeigen wird, sind diese beiden »Selbstverständnisse« heute bei Weitem nicht mehr so widersprüchlich, wie häufig dargestellt: Klinische Psychologie ist immer eine Mischung aus verstehenden Zugängen und empirischer Forschung.
Definition Klinische Psychologie:
Klinische Psychologie ist diejenige Teildisziplin der Psychologie, die sich mit psychischen Störungen und psychischen Aspekten somatischer Erkrankungen befasst, mit deren Entstehungs- und Aufrechterhaltungsbedingungen, Klassifikation und Diagnostik, deren Verbreitung sowie deren Prävention und Behandlung
Mittlerweile wurden die meisten Lehrstühle für Klinische Psychologie umbenannt in Klinische Psychologie und Psychotherapie.2 »Aus Sicht der wissenschaftlichen Klinischen Psychologie wird Psychotherapie als Teilgebiet der Klinischen Psychologie gesehen, bzw. es wird ein besonderes Nahverhältnis postuliert. … Der traditionelle Psychotherapiebegriff bezeichnet eine Teilmenge der klinisch-psychologischen Interventionsmethoden, nämlich jene Methoden, die auf die Therapie gestörter Funktionsmuster (Syndrome) und gestörter interpersoneller Systeme bei psychischen Störungen bezogen sind« (Baumann & Perrez 1998, S. 9). Das sehen vor allem viele nicht-psychologische Psychotherapeuten ganz anders: Da die Psychotherapie sich nicht ausschließlich aus der akademischen Psychologie entwickelt hat, wird eine Definition wie die von Baumann und Perrez als Einverleibung empfunden.3
Mit der Umstellung der Studiengänge auf Bachelor und Master wird sich die Studienlandschaft wahrscheinlich in Zukunft recht bunt gestalten. So ist zu erwarten, dass relativ spezialisierte Masterstudiengänge entstehen, wahrscheinlich auch und gerade im Überschneidungsbereich der jetzigen Klinischen Psychologie und Psychotherapie.
Die Klinische Psychologie und Psychotherapie gilt als sogenanntes Anwendungsfach. Dies suggeriert, dass hier Erkenntnisse aus anderen Fächern, den Grundlagenfächern (Allgemeine Psychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Persönlichkeitspsychologie etc.) zur Anwendung gebracht werden. Dies ist sicher nur sehr bedingt der Fall. Zwar gehen die Erkenntnisse der Grundlagenfächer in die klinisch-psychologische Konzeptbildung ein, oder sollten dies zumindest, allerdings existierte immer schon eine gewissermaßen eigene klinisch-psychologische Grundlagenforschung, die teilweise nur wenig Bezug zum Mainstream der »eigentlichen« psychologischen Grundlagenfächer hat. Eine solche klinische Grundlagenforschung ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil ein Großteil der in den anderen Grundlagenfächern betriebenen Forschungen für Fragestellungen der Klinischen Psychologie nur sehr begrenzte Relevanz hat bzw. die aus klinischer Sicht relevanten Phänomene dort nicht untersucht werden. Vielfach erscheint der Input der klinisch-psychologischen Grundlagenforschung in die anderen Grundlagenfächer weit höher als umgekehrt – man denke nur an grundlegende Modelle der Persönlichkeitspsychologie, an die Entwicklungspsychologie, an die Entwicklung kognitiver Modelle, an die Bedeutung unbewusster Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, an die Bedeutung von Emotionen und Emotionsregulierung etc.; selbst die Neurowissenschaften bemühen sich zunehmend um einen Dialog mit den »Klinikern«, da die klinischen Modelle geeignet erscheinen, den gemessenen neuronalen Prozessen eine psychologische Bedeutung zu geben.
2 Historische Entwicklung der Klinischen Psychologie
Psychische Störungen existieren wohl schon solange es Menschen gibt. Die Erklärungen dieser Phänomene wechselten allerdings drastisch. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die Historie von Konzepten zur Erklärung von psychischen Störungen sowie die entsprechenden Behandlungsmethoden gegeben werden. Die Darstellung folgt im Wesentlichen der Gliederung von Davison et al. (2002), einerseits gekürzt, andererseits um etliche Aspekte ergänzt. Eine schöne »Kulturgeschichte« psychischer Störungen und deren »Behandlung« findet sich in Nissen (2005)4.
Dämonologie
Das Grundmuster des dämonologischen Störungsmodells ist folgende Vorstellung: Ein »fremdes« Wesen ergreift »Besitz« von einer Person und verursacht die psychische Störung.
Im alten Babylon gab es für jede Krankheit einen eigenen Dämon; der Dämon »Idta« war für »Wahnsinn« zuständig. Auch der Teufel hat eine lange Tradition: Jesus heilt einen Mann mit »unreinem Geist«, indem er den Teufel austreibt und in eine Herde Schweine jagt – die Besessenheit geht auf die Tiere über und sie stürzen sich ins Meer (Marcus 5, 8–13)5. Dämonenaustreibung geschah üblicherweise mittels ausgefeilter Gebetsriten, Lärmritualen, übel-schmeckendem Gebräu, oder drastischer: Auspeitschen oder Nahrungsentzug, um den Körper für den Dämon/Teufel »unbewohnbar« zu machen.
Noch heute gibt es offizielle Exorzisten in der katholischen Kirche. Lange Zeit galt Anneliese Michel aus Klingenberg als der letzte offiziell durchgeführte Exorzismus in Deutschland (Wolff 2006; Goodman & Siegmund 2006). 2008 wurden allerdings weitere Fälle bekannt: Im Erzbistum Paderborn beispielsweise habe es zwischen 2000 und 2008 laut Bistumssprecher 18 ernstzunehmende Anfragen von Menschen gegeben, die glaubten, vom Teufel besessen zu sein; in drei Fällen wurde ein Exorzismus durchgeführt. Voraussetzung sei, dass die Prüfung durch einen Pastoralpsychologen und einen Psychiater das Fehlen einer psychischen Störung bestätigt, dann werde die »Liturgie der Befreiung« in Auftrag gegeben, d. h. die Austreibung des Bösen durch einen Exorzisten. Exorzismus sei in Frankreich und Italien, vor allem aber in Afrika und Lateinamerika deutlich häufiger als in Deutschland6.
Aber schon früh gab es auch deutlich nettere Behandlungsformen. Im ägyptischen Tempel des Imhotep (Gott der Heilung) war die wichtigste Therapie der Schlaf im Tempel, auch die künstlerische Betätigung der Kranken wurde als heilend betrachtet. In Griechenland wurden die Tempel des Asklepios (griechischer Gott der Heilkunst) in der Nähe von Heilquellen oder auf Bergen errichtet; auch hier war der Tempelschlaf eine wichtige Methode: den Kranken erschien Asklepios im Traum und erteilte Rat; dazu gab es Bäder, Diät und Körperübungen. Wenn das alles nichts half, wurden die Befremdlichen allerdings auch schon mal mit Steinen aus dem Tempel gejagt.
Somatogenese I
Allgemein gehen somatogenetische Erklärungen von folgender Grundannahme aus: Eine Störung im Soma verursacht die Störung des Erlebens und Verhaltens.
Hippokrates (460–377 v. Chr.) gilt als Begründer der modernen Medizin. Er absolvierte seine Ausbildung im berühmten Asklepios-Tempel von Kos. Hippokrates trennte die Medizin von Religion und Magie. »Seelische Verwirrungen« seien nicht Strafe der Götter, sondern hätten natürliche Ursachen, wahrscheinlich Störungen im Gehirn als Sitz des Intellekts und der Gefühle. Hippokrates unterschied drei Kategorien psychischer Erkrankungen: Manie, Melancholie, Gehirnfieber (Phrenitis). Er lieferte differenzierte Beschreibungen noch heute gültiger Erkrankungen (wie Epilepsie, Alkoholsucht, Paranoia etc.). Als zentrale Ursachen sah er Ungleichgewichte der vier »Säfte« (Blut, schwarze Galle, gelbe Galle und Schleim): so seien Trägheit/Dummheit durch zu viel Schleim (Phlegma) verursacht, Melancholie durch zu viel schwarz Galle, Reizbarkeit/Ängstlichkeit durch ein Zuviel an gelber Galle, ein launisches Temperament durch zu viel Blut.
Frühmittelalter und Mittelalter
Mit dem Niedergang des römischen Reiches gewann die Kirche und das Papsttum an Einfluss – die klassische Kultur ...