Empirische Zugänge Andreas Brenne
„Ins Bild gesetzt“
Zum Problem der Referenz im Bilddiskurs des Religionsunterrichts in der Grundschule
1 Koordinaten
„Was Google nicht weiß“
In ihrer Arbeit „The Picture Collection“ thematisiert die amerikanische Künstlerin Taryn Simon das Problem der Lesbarkeit von Bildern in Zeiten der weltweiten Vernetzung von Daten, Bildern und Symbolen.1 Paradoxerweise lässt sich im Zeitalter einer scheinbar weltweit gültigen Bildgrammatik, die mittels Webseiten und Suchmaschinen die Sehgewohnheiten der ganzen Menschheit zu überschreiben sucht – gleichsam ein autopoetischer Prozess der Kontrollgesellschaft2 –, eine zunehmende Bedeutungsverschiebung in rasantem Tempo feststellen. Gängige Lesarten und Symbolbildungen verflüchtigen sich, und es scheint eine babylonisch anmutende Bilderverwirrung zu herrschen. Taryn Simons Arbeit thematisiert das Bildarchiv der „New York Public Library“ und verdeutlicht diesen radikalen Wandel bildreich. Das berühmte Bildarchiv versucht seit den 1920er Jahren das Bildwissen der westlichen Welt zu archivieren und semantisch zu ordnen.3 Dabei wurden ohne Berücksichtigung qualitativer Unterschiede Fotografien, Malereien, Zeichnungen und Grafiken begrifflich sortiert und öffentlich zugänglich gemacht. Im Laufe der Jahre wurden die Sortierungen sukzessive verändert und durch entsprechende Verweise gekennzeichnet, sodass gleichsam ein Netzwerk der verschobenen Bildbedeutungen entstanden ist; viele Zuordnungen erscheinen aus heutiger Sicht willkürlich und unverständlich. Dies nimmt nicht Wunder, da symboltheoretisch präsentative Zeichen bedeutungsoffen angelegt sind und eine interpretative Offenheit vorliegt.4 Dennoch sind Bedeutungen kulturell festgelegt und in geschlossenen Gesellschaften in verbindlichen Codes festgeschrieben.
„‚Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“5
Bedeutungen sind Teil des Bildungskanons, den es zu identifizieren gilt. Diese Form der Bildkompetenz gehört zum kulturellen Kapital eines Kulturkreises und ist habituell in diesen eingeschrieben. Aus heutiger Sicht ist es ein Gebot von Bildungsgerechtigkeit, dass möglichst alle Menschen Zugang zu diesen Codes haben.6
Taryn Simons verdeutlicht die Vergeblichkeit dieser wohlfeilen Erziehungspostulate. In einer webbasierten Bilddatenbank, die durch einen spezifischen Algorithmus gesteuert wird, zeigt Simon auf, wie sich Bildbedeutungen regional und zeitlich disparat entwickeln und voneinander fortbewegen. Dem Begriff „Jude“ werden beispielsweise je nach Standort unterschiedlichste Bildzeichen zugeordnet: Während dies in Korea chassidische Stereotypen (Schläfenlocken, Hüte, Bärte …) und in den USA Bilder aus Israel sind, werden in Deutschland hauptsächlich Abbildungen des Schauspielers Jude Law assoziiert. Jedoch sind diese Suchergebnisse derart flüchtig, dass sie einen Monat später komplett anders ausfallen. Es wird deutlich, dass in der webbasierten Weltgesellschaft7 mediale Festlegungen und Repräsentationen in hohem Maße inkonsistent sind, dass verbindliche Codes einem fluiden Wandel unterworfen sind und kurzfristige Trends regionale Traditionen überschreiben. Hinzu kommt, dass die Skripte der populären Suchmaschinen individuelle Präferenzen speichern und Blickrichtungen antizipieren. Die Klage über die mangelnde Bild- und Sprachkompetenz der „digital natives“8 findet ihren Widerpart in einem nicht mehr greifbaren Daten- und Informationsstrom, der niemals zum Halten kommt und sich keiner Systematik beugt. Die zentrale Bildgrammatik der Gutenberg-Galaxis hat einem Netzwerk von Bedeutungen Platz gemacht, die sich zwar zu bedeutungstragenden Clustern verbinden können, aber keine Verbindlichkeit entfalten.
Folgt man diesen mediologischen Einlassungen, stellt sich die Frage, wie es sich mit der reichhaltigen christlichen Bildtradition verhält und ob diese überhaupt noch geeignet ist, essenzialistische christliche Inhalte zu vermitteln.
Bildtheologie
Der Bildgebrauch in den christlichen Religionen hat eine lange Tradition und bewegt sich im Spannungsfeld von Ikonoklasmus und Bildorientierung.9 Gemeint ist zum einen das Bilderverbot der Zehn Gebote und zum anderen der biblische Verweis auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Nach einer Zeit der radikalen Ablehnung des Bildes im frühen Christentum (in Abgrenzung zum römischen Kaiserkult), entwickelte sich eine komplexe Ikonografie, die eine vielschichtige Bildpragmatik nach sich zog; z. B. in der Marien- und Heilgenverehrung. Es entstand eine auratische Verwendung von Ikonostasen, denen in der Ostkirche bis heute eine performative Wirksamkeit zugesprochen wird.10 Ein anderer Aspekt ist die bilddidaktische Konstante in der nahezu schriftlosen Kultur des sogenannten Mittelalters, in der religiöse Wissensbestände und Glaubensinhalte als bildsprachliche Information in Form von Buchmalereien und Wandbildern transportiert wurden.11 Diese konnten nur dadurch kommunikative Wirksamkeit entfalten, indem man eine verlässliche öffentliche Lesbarkeit der Bildzeichen unterstellte. Eine Kompetenz, die insofern kulturell determiniert und zeitgebunden war, denn heute können diese Bilder nur noch unpräzise verstanden werden – zumindest, wenn man eine präzise ikonologische Dechiffrierung erzielen möchte.12
In der frühen Neuzeit, respektive seit Renaissance und Humanismus, erweiterte sich dieser christliche Bildgebrauch durch individuelle Interpretationen und Ausgestaltungen autonom agierender Künstlerpersönlichkeiten.13 Sukzessive wurden verbindliche Codes durch Bilderfindungen überschrieben, die zum einen Lebenswelt integrierten und zum anderen persönliche Befindlichkeiten visualisierten bzw. beim Rezipienten zu evozieren suchten.
Kind und Bild und die Religion
Heutige Kinder und Jugendliche leben in einer Welt der rhizomatischen Bildpraxen, ohne dass sie diese als defizitär erleben. Sie sind einem Tsunami an Bildern ausgesetzt und verwenden diese extensiv in jedweden kommunikativen Zusammenhängen. Dabei prägen Familie und Peers unterschiedlichste Lesarten. Bilder tauchen nicht isoliert auf, sondern sind intermediär verbunden bzw. in Film und Klang/Musik eingebettet. Sie sind Teil der kommunikativen Praxen, die transmedial geprägt sind.14 Dabei überlagern sich übliche Formen der analogen Bildpräsentation und des Bildertauschs (Sammelbilder, Freundschaftsalben, Sticker, Spielkarten …) mit digitalen und vor allem webbasierten Praxen. Bilder werden digital auf mobilen Endgeräten gespeichert (Smartphone, Tablet-PC) und in sozialen Netzwerken kommuniziert. Dieser Umgang wird bereits im frühen Kindesalter eingeübt, in der mittleren Kindheit kontrolliert trainiert und spätestens im Jugendalter etabliert. Insofern sollten Kinder und Jugendliche in hohem Maße bild- bzw. medienkompetent sein. Dennoch wird allerorts die mangelnde Informiertheit von Kindern und Jugendlichen angeprangert oder als zentrales Bildungsdesiderat identifiziert.15 Grund dieser Disparität ist ein anderes Verständnis von Bild und Bildung – so die Grundthese des vorliegenden Beitrags. Heutige Kinder und Jugendliche sind durchaus kompetent – aber anders. Sie beherrschen den performativen Umgang mit den Bildern, wobei sie sich zwanglos den Algorithmen des Netzes hingeben. Der Abruf traditioneller Codierungen ist dagegen defizitär, zumindest aus der Perspektive der Bildungsinstitutionen. Diese sind strukturell konservativ und bewahrend16 und haben demnach Schwierigkeiten mit kulturellen Transformationen jenseits der Tradition. Durch den als krisenhaft erlebten kulturellen Wandel17 fällt es zunehmend schwer, traditionelle Codes und Wissensbestände wie gewohnt abzurufen und zu identifizieren. Denn sie sind nicht mehr Teil der lebendigen gesellschaftlichen Praxis und damit auch nicht Teil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Insofern stellt sich die Frage, ob und vor allem wie sich die Auseinandersetzung mit Bildern religiösen Inhalts im RU vollzieht. Trotz des eindeutigen Framings ist eine Adaption der spezifischen Inhalte nicht mehr gesichert. Dies ist insofern ein Problem, als der RU kein Kunstunterricht und eine Einübung der wissenschaftlich abgesicherten Bildbetrachtung nicht curricular bestimmt ist. Vielmehr stellt sich die Frage, ob und wie die traditionellen Codes der Bilder im Unterrichtskontext vermittelt werden können und ob dies überhaupt Sinn hat. Des Weiteren ist es von Interesse, welche Bildbedeutungen anstelle thematisiert werden und woher diese stammen. Sind es die Peers, das weltweite digitale Bildernetz oder kulturelle Sedimente der analogen „Vorzeit“, die Bedeutung konstituieren? Bedarf es einer kommunikativen Validierung? Inwieweit werden individuelle Zuschreibungen artikuliert und möglicherweise nachhaltig erweitert?
Diskurse im Unterricht
Unterricht – und sei er auch noch so offen – ist kein Freiraum, sondern durch Regelungen und Vorgaben bestimmt. Diese sind teils transparent (Verhaltensregeln, Schulprogramme, curriculare Vorgaben), teils implizit präsent (heimlicher Lehrplan, psychosoziale Interaktionen, individuelle Präferenzen) und regeln die unterrichtliche Praxis ebenso wie die sozialen Prozesse. Dabei sind es nicht nur Institutionen und ihre Akteure, sondern vor allem Diskurse, die das Geschehen bestimmen. Die „Dispositive der Macht“18 sind nicht an einzelne LuL oder den meist offenen Lehrplan gebunden, sondern an implizit wirksame Festlegungen, die die vermeintlich freie Rede bzw. Diskussion regeln. Diese bestimmen – so die These der vorliegenden Untersuchung – auch den RU im Allgemeinen und den dort verorteten Bildgebrauch im Besonderen. Dabei sind es nicht nur die administrativ festgelegten Lerninhalte, sondern auch die erzieherischen Maximen, die verordneten basalen Kompetenzen, die habituellen Codes des Bildungsbürgertums und eben auch die festgeschriebenen Glaubensinhalt...