Jungenpädagogik im Widerstreit
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Jungenpädagogik im Widerstreit

  1. 212 Seiten
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Jungenpädagogik im Widerstreit

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Seit längerem wird in der pädagogischen Fachliteratur der Befund diskutiert, dass Mädchen im Bildungssystem erfolgreicher sind als Jungen. Wie ist dieses Phänomen zu erklären? Hat die Pädagogik die Grenzen und Unterschiede zwischen den Geschlechtern unterschätzt? Die Debatte über Jungen und ihre Probleme ist von einer stark vereinfachenden Gewinn-Verlust-Rechnung und einer dramatisierenden Tonlage gekennzeichnet, die die Komplexität des Themas eher verdecken als aufzuklären vermögen. Ziel des Buches ist es, aus unterschiedlichen Blickwinkeln den aktuellen internationalen Forschungsstand und die thematischen Brennpunkte der aktuellen Jungendebatte zu erörtern. Daraus werden schließlich Perspektiven für eine kritische Pädagogik der Geschlechter für Jungen und Mädchen entwickelt.

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Information

Jahr
2011
ISBN
9783170278608
Auflage
1
Thema
Bildung

1


Theoretische Fluchtlinien
des Widerstreits

Michael Kimmel

Jungen und Schule: Ein Hintergrundbericht über die „Jungenkrise“1

Überall auf der Welt gibt es eine Geschlechter- und Bildungs-‚Krise‘. Doch es herrscht wenig Einigkeit darüber, was diese Krise eigentlich ausmacht und um genau zu sein, nimmt diese Krise an unterschiedlichen Orten sehr verschiedene Formen an. In den Entwicklungsländern bezieht sich die Krise auf mangelhafte Bildungsmöglichkeiten für Mädchen, ihr Zugang zu Bildung wird durch kulturelle oder religiöse Traditionen eingeschränkt. In Entwicklungsländern gibt es einen signifikanten Gender Gap bei Alphabetisierungsraten, bei Schüler/innenzahlen und Abschlussraten und diese Schere klafft zwischen den Geschlechtern umso weiter auseinander, je höher man die Bildungsleiter emporklimmt. In den Industrieländern ist die Situation durchmischter: Frauen sind in höheren Berufen noch immer enorm unterrepräsentiert, ebenso in naturwissenschaftlichen und technischen Studien- und Ausbildungsgängen.
Andererseits ist in Nordamerika und Europa eine neue, entgegengesetzte ‚Geschlechterkluft‘ entstanden: In den USA und in Europa sind insbesondere an Universitäten mehr junge Frauen als junge Männer vertreten. Die Disparität bei Beurteilungen nimmt zu: Mädchen erzielen bessere Noten und weitaus mehr herausragende Schulabschlüsse. Bei Jungen hingegen ist die Wahrscheinlichkeit von Verhaltensauffälligkeiten, die Fördermaßnahmen erfordern, weitaus höher. In Nordamerika und Europa kennzeichnen drei Dimensionen die derzeitige ‚Krise der Jungen‘: Schüler/innen- und Studierendenzahlen, Leistung und Verhalten.
In diesem Artikel wird vor allem gezeigt, wie über die Jungenkrise nachgedacht wird. Einige der Strategien, die uns bisher nahegelegt worden sind, schaffen keine Abhilfe für die Schwierigkeiten von Jungen in der Schule; im Gegenteil, sie verschlimmern die Situation nur noch. Anstelle dessen werde ich argumentieren, dass es zwar eine ‚Jungenkrise‘ an den Schulen gibt, dass sie sich jedoch anders gestaltet, als wir in der Regel annehmen. Ich stelle die These auf, dass wir Lösungsstrategien nur entwickeln können, wenn wir das Thema des sozialen Geschlechts (gender) und insbesondere Ideologien von Männlichkeit ansprechen.

1 Die Fehlkonzeption der Jungenkrise

In vielerlei Hinsicht lassen Diskussionen über die ‚Jungenkrise‘ Debatten wieder aufleben, die wir bereits in der Vergangenheit geführt haben. Beispielsweise fürchteten Kulturkritiker/innen um die Jahrhundertwende, dass der Zuwachs an Büroangestellten (white collar businessmen) dazu führen würde, dass Männer träger und arbeitsscheuer werden. Damals wie heute bestanden die Lösungsvorschläge darin, Bereiche zu finden, in denen Jungen einfach Jungen und Männer einfach Männer sein konnten. Damals boten Bruderschaften Männern homosoziale Zufluchtsorte, und Dude Ranches und Sportaktivitäten lieferten einen Platz, an dem diese Männer erleben konnten, was Theodore Roosevelt „the strenuous life“ nannte. Und Jungen, von weiblichen Lehrern, Müttern und Lehrerinnen der Sonntagsschulen bedroht, konnten mit den Pfadfindern, die sich als Fin-de-Siècle-‚Jungenbefreiungsbewegung‘ verstanden, davonmarschieren. Die moderne Gesellschaft, so formulierte es ihr Gründer Ernest Thompson Seton, mache aus abgehärteten, robusten Jungen „eine Masse von schmalbrüstigen Rauchern mit schwachen Nerven und fragwürdiger Vitalität“ (vgl. Kimmel 1996). In Europa drückte sich diese Krise der Männlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ähnliche Weise aus.
Es gibt jedoch trotz des strukturellen Wandels der Wirtschaft für junge Männer weiterhin Möglichkeiten, auch fernab von höherer Bildung ins Erwachsenenalter überzutreten: Erstens bleibt das Militär einer der wichtigsten Arbeitgeber für junge Männer von der High School. Allein die U.S. Army wirbt jedes Jahr 65 000 Männer mehr an als Frauen. Zweitens: Obwohl Manufaktur, Handwerk und Schwerindustrie zurückgegangen sind, bleiben sie doch große Arbeitgeber für eine Arbeitersparte, die überproportional aus Männern ohne Hochschulabschluss besteht. Schließlich, drittens, ist das Gefängnis eine beachtliche ‚Option‘ für viele junge Männer dieser Altersgruppe. Laut Angaben des U. S. Departments of Justice saßen im Jahr 2008 231 600 Männer im Alter von 18 bis 24 Jahren eine Gefängnisstrafe ab (verglichen mit 12 600 Frauen der gleichen Altersgruppe).
Was ist, abgesehen von historischen Parallelen und ökonomischen Strukturveränderungen, falsch an dem Argument, dass die Förderung der Mädchen ‚zu weit‘ ginge und nun den Jungen schade? Erstens erzeugt das Argument eine falsche Spaltung zwischen Mädchen und Jungen: Es wird angenommen, dass die Bildungsreformen zur Unterstützung der Mädchen die Bildungsentwicklung der Jungen behindern. Aber diese Reformen führten in Wirklichkeit dazu, dass einer größeren Anzahl von Jungen eine bessere Bildung ermöglicht wurde. Sie wenden sich gegen Geschlechterstereotype, und, wie Susan McGee Bailey und Patricia Campbell (2000, 1) unterstreichen, „gender stereotypes, particularly those related to education, hurt both girls and boys“. Wenn diese Stereotype hinterfragt werden, weniger Gewalt an Schulen und weniger Mobbing toleriert werden und häuslicher Gewalt mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, können sich sowohl Mädchen als auch Jungen in der Schule sicherer fühlen. Wenn beschrieben wird, was Jungen benötigen, werden in Wahrheit oft die Bedürfnisse von Kindern beschrieben. Heranwachsende Jungen möchten geliebt werden, Sex haben und nicht verletzt werden (vgl. Kindlon/Thompson 1999, 195). Und Mädchen wollen das nicht? Eltern wird geraten: den Jungen Emotionalität zuzugestehen, ein hohes Maß an Aktivität zu tolerieren, die Sprache der Heranwachsenden zu sprechen und sie mit Respekt zu behandeln; zu vermitteln, dass es mutig ist, Mitgefühl zu zeigen; Disziplinarmaßnahmen zu ergreifen, um zu führen und zu formen, sowie emotionale Bindungsfähigkeit in das Konzept von Männlichkeit einzubeziehen. Abgesehen von den offensichtlichen Wiederholungen ist das, was sie fordern, genau das, was feministische Frauen zur selben Zeit für Mädchen gefordert haben. Was Jungen brauchen, ist das, was Mädchen benötigen (vgl. ebd., 245 ff.).
Zweitens haben Strukturprobleme der Schulen wenig mit feministisch inspirierten Reformen zur Stärkung von Mädchen zu tun. In der Tat hat der schrittweise Abbau der öffentlichen Unterstützung für Schulen in den Vereinigten Staaten – alle Wahlbemühungen zur Anhebung der Schulsteuer haben versagt – das Problem für Jungen nur verschlimmert, indem Freizeitprogramme, Ferien und Sportangebote abgeschafft oder reduziert und Beratungs- und Förderprogramme gestrichen wurden.
Das Hauptargument dieses Artikels ist jedoch, dass die drei Dimensionen der Jungenkrise – Geschlechterunterschiede in den Bereichen Besuch von Bildungsinstitutionen, Leistung und Verhalten – besser mit Interaktionsdynamiken unter Jungen und mit Männlichkeitsideologien erklärt werden können. Derjenige Aspekt, der alle angebotenen Erklärungen vereint, ist relativ simpel: Die Welt hat sich im letzten halben Jahrhundert enorm verändert, aber die Ideologie von Männlichkeit hat mit diesen Veränderungen nicht schritthalten können. Nur im Kontext dieser fehlenden Übereinstimmung zwischen den strukturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen und der relativ unflexiblen Definition von Männlichkeit können wir den derzeitigen Gender Gap in der Erziehung und Bildung begreifen. Das Versäumnis, Gender zu betrachten, ist die Ursache für das Versagen der meisten Bildungsdiskussionen über die Jungenkrise. Wir müssen den Schwerpunkt unserer Überlegungen auf Gender legen, insbesondere auf die Männlichkeitsbilder, die Jungen erfahren und wiedergeben.

2 Geschlechterunterschiede im Bereich ‚Besuch von Bildungsinstitutionen´

Obwohl es stimmt, dass der Anteil der Frauen an Hochschulen heute bei über 58 % liegt, bedeutet das nicht, dass nun weniger Männer studieren. Es besuchen nur mehr Leute als je zuvor insgesamt die Hochschulen. 1960 gingen 54 % der amerikanischen Jungen und 38 % der Mädchen direkt auf das College. Heute liegen die Zahlen bei 64 % der Jungen und 70 % der Mädchen. Dies bedeutet schlicht, dass der Zuwachs der Mädchen schneller verläuft als der der Jungen, doch sowohl die Raten der Jungen als auch die der Mädchen steigen an.
Viel von dem beschworenen großen Geschlechterunterschied stellt sich Cynthia F. Epstein (1988) zufolge tatsächlich als eine „deceptive distinction“ dar: Der Unterschied, der als Geschlechterunterschied bezeichnet wird, bezieht sich tatsächlich auf etwas anderes; in diesem Fall auf Schichtzugehörigkeit und race/Ethnizität. Letztlich ist die niedrige Anzahl männlicher College-Studenten in den USA größtenteils ein Mangel an nicht-weißen Männern. 65 % aller Jungen schließt die High School erfolgreich ab, aber nur weniger als die Hälfte aller hispanischen (49 %) oder afro-amerikanischen Jungen (48 %) erreicht dieses Ziel. Die Geschlechterdifferenz zwischen weißen Mittelschichts-Männern im Hochschulalter und weißen Frauen ist dagegen eher gering, sie liegt nämlich bei 51 % Frauen gegenüber 49 % Männern, aber nur 37 % aller afro-amerikanischen und 45 % aller hispanischen Studierenden sind männlich (gegenüber 63 % bzw. 55 % Frauen). Solche Unterschiede innerhalb der Gruppe der Jungen werden nicht in den Blick genommen (alle Angaben nach den aktuellen Bildungsstatistiken).
Ein verkürzter und inkorrekter biologistischer Determinismus beeinträchtigt fast zwangsläufig einen Großteil der Beobachtungen zur problematischen Situation von Jungen. Die Gefahr bei einem Rückgriff auf biologische Unterschiede liegt darin, dass oftmals geringe Differenzen zwischen Männern und Frauen überbewertet werden. Gleichzeitig werden signifikante Unterschiede innerhalb der Gruppe der Männer oder Frauen unterschätzt. Dies führt zwangsläufig zu Stereotypisierung – Einzelfaktoren werden an die Stelle der Gesamtverteilung gesetzt oder einzelne Merkmale werden generalisiert, wenn sie bei vielen oder den meisten Gruppenmitgliedern gefunden werden. Das zieht auch einen unbeabsichtigten Nebeneffekt nach sich: das ‚Normale‘ – der häufigste Fall in einer Verteilung – wird als das ‚Normative‘ gesetzt – das, was durch Sanktionen und Regeln verstärkt wird. Infolgedessen wird das, was Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler als normativ sehen, nun als normal gefeiert; es wird Vorschrift, anstatt Anlass für kritische Analyse.

3 Der Gender Gap in den Leistungen

Auch bei den Leistungsunterschieden scheint die Lage komplizierter zu sein als zu sagen, Mädchen sind besser, Jungen sind schlechter. „With few exceptions, American boys are scoring higher and achieving more than they ever have before“, schreibt Sara Mead (2006). „But girls have just improved their performance on some measures even faster.“ Wie bei Studierendenzahlen sind die Zuwachsraten bei Mädchen höher als bei Jungen, doch sowohl Jungen als auch Mädchen verbessern sich.
Erzieher/innen beschreiben das Problem zunehmend so: „Die Jungen verlassen das Schiff.“ Der Direktor eines Berufsberatungszentrums einer Universität erklärte: „It’s almost as though there’s an expectation for boys not to do well in school.“ Das Problem ist, dass eine bestimmte Ideologie von Männlichkeit insbesondere unter Jungen der Arbeiterschicht und Jungen, die sozialen Minderheiten angehören, hartnäckig fortbesteht, nämlich, dass es den Regeln der Männlichkeit widerspricht, die Schule ernst zu nehmen. Im Gegenteil, schulisches Desinteresse wird als Mittel zur Steigerung von Männlichkeit gesehen. Für Mädchen gibt es keinen Zusammenhang zwischen Leistungen, Ehrgeiz und Kompetenz einerseits und Geschlecht andererseits. Genauso durchgehend sehen Jungen eine Verbindung zwischen Schule und Weiblichkeit. Wer erfolgreich in der Schule ist, verhalte sich nicht wie ein richtiger Junge. Und jeder Junge, der gut in der Schule ist, riskiert eine Menge: schwindendes Selbstbewusstsein, Angst, Freunde zu verlieren und gemobbt zu werden.
Angemessenes Geschlechterverhalten lernen Schülerinnen und Schüler durch die Jugendkultur. Gleichaltrige machen die Gesetze und achten darauf, dass sie eingehalten werden. In Raising Cain (1999) schreiben Dan Kindlon und Michael Thompson, dass männliche Peers einen kleinen Jungen mit einer „Kultur der Grausamkeit“ konfrontieren, im Rahmen derer sie ihn dazu zwingen, seine emotionalen Bedürfnisse zu verleugnen und die eigenen Gefühle zu verbergen, sodass sie sich schließlich emotional isoliert fühlen. Und in Real Boys (1998) nennt der Therapeut William Pollack dies den Boy Code und die „Maske der Männlichkeit“: Es handle sich um eine Art prahlerische Haltung, die Jungen einnehmen, um ihre Ängste zu verbergen, Abhängigkeit und Verletzlichkeit zu unterdrücken und stark und unempfindlich zu wirken. Mein Buch Guyland (vgl. Kimmel 2008) greift die Situation von Jungen in Grundschulen und weiterführenden Schulen auf und verfolgt ihre Geschichte bis zur Universität und sogar ein paar Jahre darüber hinaus. Erstaunlich ist, dass der Boy Code, der Guy Code oder Bro Code trotz der massiven Veränderungen von Frauenwelten ziemlich hartnäckig Bestand hat. Die Ideologie von Weiblichkeit, also Vorstellungen von Frauen, was es heißt, eine Frau zu sein, hat eine fundamentale Revolution durchgemacht. Auf die Frage, was es bedeutet, eine Frau zu sein, antworten Studentinnen für gewöhnlich: „It means I can be anything I want.“ Männer hingegen antworten impulsiv oft auf negative Weise: niemals Schwäche zeigen, niemals weinen, niemals verletzbar sein und, am allerwichtigsten, nicht schwul sein. Vor 25 Jahren hat der Psychologe Robert Brannon diese Männlichkeitsideologie in vier Grundregeln festgehalten (vgl. Brannon/David 1976):
  1. „No Sissy Stuff”: Man darf niemals etwas tun, was auch nur im Entferntesten auf Weiblichkeit hinweist. Männlichkeit ist die unerbittliche Ablehnung des Weiblichen.
  2. „Be a Big Wheel”: Reichtum, Stärke und Status sind Merkmale von Männlichkeit. Wir messen Männlichkeit an der Höhe des Einkommensschecks – gemäß eines Sprichworts aus der Reagan-Ära: „He who has the most toys when he dies, wins.“
  3. „Be a Sturdy Oak”: Was einen Mann ausmacht, ist, dass man sich in Krisenzeiten auf ihn verlassen kann, und man kann sich dann auf einen Mann verlassen, wenn er einem leblosen Objekt gleicht: Felsen, Säulen, Bäume – dies sind maskuline Bilder.
  4. „Give ’em Hell!”: Strahle eine Aura des Mutes und der Aggression aus. Riskiere etwas im Leben.
Diese vier Regeln gelten in verschiedenen Gruppen von Männern und Jungen natürlich auf unterschiedliche Weise: Race/Ethnizität, Klasse, ethnische Religion, Sexualität, Alter beeinflussen und formen die traditionelle Definition von Männlichkeit. In den Sozialwissenschaften sprechen wir von Männlichkeiten, um den unterschiedlichen Definitionen des Mannseins, die wir konstruieren, gerecht zu werden. Nicht alle Männlichkeiten haben den gleichen Stellenwert, und alle amerikanischen Männer müssen sich auch damit abfinden, dass es ein hegemoniales Bild von Männlichkeit gibt, eine bestimmte Definition, die als Leitmodell hochgehalten wird und an der wir uns alle messen. Somit erfahren wir, was es bedeutet, ein Mann in unserer Gesellschaft zu sein, indem wir unsere Definitionen ‚den Anderen‘ gegenüberstellen – ethnischen Minderheiten, Minderheiten mit einer anderen sexuellen Orientierung und, vor allen Dingen, Frauen. Weil kein Junge und kein Mann diesen Kriterien immer gerecht werden wird, bedeutet dies, dass sich alle Männer an einem gewissen Punkt in ihrem Leben wertlos, unvollständig und unterlegen fühlen. Aus dieser emotionalen Grundlage heraus lässt sich auch erklären, dass viele Jungen und Männer Risikoverhalten zeigen, um ihrer Peergroup zu beweisen, dass sie sehr wohl ‚wahre‘ Männer sind und keine ‚Weicheier‘ oder ‚Tunten‘.
Wie wirkt sich nun die Einführung der Ideologie von Männlichkeit auf die Debatte um die Geschlechterkluft in den Bildungserfolgen aus? Unter anderem hilft es, Schwierigkeiten von Jungen in der Schule zu verstehen. Betrachten wir die Parallele zu den Mädchen. Carol Gilligans erstaunliche Arbeit mit jugendlichen Mädchen zeigt, wie diese selbstbewussten, bestimmten und stolzen jungen Mädchen ‚ihre Stimme verlieren‘, wenn sie ins Jugendalter eintreten (vgl. z.B. Gilligan 1982; Brown/Gilligan 19...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einleitung: Jungenpädagogik im Widerstreit
  6. 1 Theoretische Fluchtlinien des Widerstreits
  7. 2 Sexuelle Identität – Risiko – Vorbilder: Brennpunkte der Jungendebatte
  8. 3 Beiträge zu einer kritischen Pädagogik der Geschlechter
  9. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren